Neunzig Prozent der strategisch wichtigen ostukrainischen Stadt Sewerodonesk sind schwer beschädigt. Den ukrainischen Verbänden ist es am Samstag offenbar gelungen, den russischen Grossangriff auf die Stadt abzuwehren – vorläufig. Der Leiter der zivilen Militärverwaltung sprach von einer «echten Schlacht». Die Russen stehen am Stadtrand und bereiten sich auf einen neuen Grossangriff vor.
- Noch ist Sewerodonesk nicht ganz gefallen
- Schwere Kämpfe
- Neuer russischer Grossangriff erwartet
- Die Russen am Stadtrand
- Russischer Angriff auf Bachmut
- Ukrainische Gegenoffensive bei Cherson
- Kaum Fluchtmöglichkeiten
- Gefährlicher Besuch: Selenskyj in Charkiw
- Kein Einsatz russischer Atomwaffen?
- Putin zu direkten Gesprächen aufgefordert
Der ukrainische Präsident erklärte, dass die ukrainischen Truppen unter «unbeschreiblich schwierigen» Bedingungen kämpften. Ukrainische Quellen hatten am Samstag von Strassenkämpfen berichtet.
Oleksandr Striuk, der Leiter der zivilen Militärverwaltung in Sewerodonezk, sagte am Samstag, «am Stadtrand toben Kämpfe».
Im nationalen ukrainischen Fernsehen erklärte Striuk, dass sich einige der heftigsten Kämpfe auf die Gegend um das Hotel «Mir» am Rande der Stadt konzentrierten.
Ständiger Beschuss
«Im Bereich des Hauptbusbahnhofs findet eine echte Schlacht statt», sagte er. «Unser Militär befindet sich in einer schwierigen Verteidigungsposition. Die Stadt wird ständig beschossen. Das Hauptquartier für humanitäre Hilfe, das sich in der Stadt befindet, wurde heute praktisch lahmgelegt, da es nicht sicher ist, sich in der Stadt zu bewegen, und die Arbeit des Hauptquartiers wurde eingestellt.»
Striuk schilderte die katastrophale Lage und erklärte, dass es keine Mobiltelefonverbindungen gebe und der Strom abgeschaltet sei. «Wir haben die Stadt mit Hilfe von Strom und Pumpstationen mit Wasser versorgt», sagte er. «Das Wasser, das zur Verfügung steht, stammt aus offenen Brunnen mit Generatoren. Es gibt etwa sechs oder sieben Brunnen in der Stadt. Es ist extrem gefährlich, denn sobald sich die Menschen zum Wasserholen versammeln, beginnt dort der Beschuss.»
Neuer Russischer Angriff erwartet
Striuk zeigte sich jedoch zuversichtlich, dass die Stadt mit einigen begrenzten Lieferungen über die Strasse überleben kann. «Es gibt noch Möglichkeiten, die Stadt zu erreichen», sagte er. «Es gibt Möglichkeiten für die Lieferung von Mindestmengen. Das ist extrem schwierig, aber immer noch möglich.»
Evakuierungen seien wegen des ständigen Beschusses der Stadt kaum möglich.
Der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte erklärte, die russischen Streitkräfte hätten Verluste erlitten und sich auf einige zuvor besetzte Stellungen zurückgezogen. Er betonte jedoch, die Russen bereiteten sich auf weitere Angriffe vor.
Entscheidende Tage
Fedir Venislavskyi, Mitglied des Ausschusses für nationale Sicherheit, Verteidigung und Nachrichtendienste des ukrainischen Parlaments, sagte, die nächsten Tage würden im Kampf um Sewerodonezk «entscheidend» sein.
«Unsere Streitkräfte haben den Feind auf die Positionen zurückgedrängt, die er zuvor gehalten hatte», sagte er. «Aber wir müssen verstehen, dass die russischen Truppen praktisch am Stadtrand von Sewerodonezk stehen.»
Ein Fall von Sewerodonesk wäre ein schwerer Schlag für die Ukraine und könnte eine Wende im bald hunderttägigen Krieg bedeuten.
Schwere Waffen gefordert
Die Ukraine hat erneut eine bessere Bewaffnung durch westliche Staaten gefordert. Selenskyj betonte in seiner abendlichen Ansprache am Samstag, dass die Verteidigung der östlichen Städte in hohem Masse von westlichen Waffenlieferungen abhänge. Die Regierung Biden hat die Lieferung von Langstrecken-Mehrfachraketen-Systemen an die Ukraine genehmigt. Im Kampf um Sewerodonesk könnten diese Raketen allerdings zu spät eintreffen.
Russische Fortschritte
Die russische Armee und die pro-russischen Streitkräfte der abtrünnigen «Volksrepubliken» Luhans und Donezk machen im Donbass weiter Fortschritte und bombardieren wahllos militärische und zivile Ziele. Am Freitag war es den Russen gelungen, den wichtigen Eisenbahnknotenpunkt Lyman zu besetzen. Inzwischen beschiessen russische Streitkräfte auch die südlich und westlich von Lyman gelegenen Städte Slowjansk und Bachmut.
Bei ihren Vorstössen setzen die Russen auch thermobarische Sprengköpfe, die auch in Bunkern und Schützengräben tödliche Wirkung entfalten. Im Bild ein Mehrfachraketenwerfer bei Panteleimonivka, südlich der Stadt Horliwka in der Provinz Donezk,
Kaum Fluchtmöglichkeiten
Da weite Teile der Provinz Luhansk beschossen werden, gibt es kaum noch sichere Fluchtmöglichkeiten. Yana Skakova und ihr Sohn Yehor stammen aus Lyssytschansk, der Zwillingsstadt von Sewerodonezk, und sitzen in einem Evakuierungszug in Pokrowsk in der Provinz Donezk. Auch Pokrowsk wird immer wieder von russischer Artillerie beschossen.
Selenskyj besucht Charkiw
Der ukrainische Präsident hat eine seltene Reise ausserhalb der Hauptstadt Kiew unternommen, wie das Präsidialamt mitteilte. Er besuchte Frontstellungen in der Region Charkiw und überreichte dort stationierten Soldaten Geschenke. «Ich möchte jedem von ihnen für ihren Dienst danken. Sie riskieren ihr Leben für uns alle und unseren Staat», sagte der Präsident zu den Soldaten. Der Besuch wurde aus Sicherheitsgründen zunächst geheimgehalten.
«Cherson, wir «kommen»
Während über zehntausend russische Soldaten im Osten der Ukraine die Stadt Sewerodonesk erobern wollen, starten Teil der ukrainischen Armee im südlichen Cherson eine Gegenoffensive. Cherson war die erste grössere Stadt, die fiel, als die russischen Streitkräfte vor mehr als drei Monaten von der Krim aus nach Norden vordrangen. Russland will die Region Cherson wie die Krim in russisches Staatsgebiet eingliedern, den Rubel einführen und eine Volksabstimmung durchführen. Immer wieder kommt es in der Stadt zu Protesten. Auch Partisanenbewegungen formieren sich. «Haltet Cherson», schrieb das ukrainische Militär am Sonntagmorgen auf Twitter. «Wir kommen.»
Russland spricht von 300 getöteten ukrainischen Soldaten
Russland behauptet, in den letzten 24 Stunden 300 ukrainische Soldaten in Krywyj Rih getötet zu haben. Krywyj Rih ist die Heimatstadt von Präsident Selenskyj. Zuvor hatten die Russen gemeldet, sie hätten in Krywyj Rih ein grosses Waffenarsenal der ukrainischen Armee zerstört. Krywyj Rih ist eine Grossstadt in der südlichen Ukraine und liegt in der Provist (Oblast) Dnipropetrowsk.
Kein Einsatz russischer Atomwaffen?
Der russische Botschafter in Grossbritannien erklärt gegenüber der BBC, er glaube nicht, dass sein Land im Krieg gegen die Ukraine taktische Atomwaffen einsetzen werde.
Andrei Kelin sagte, dass solche Waffen nach den russischen Militärregeln in Konflikten wie diesem nicht eingesetzt werden.
Russland habe sehr strenge Vorschriften für ihren Einsatz, vor allem wenn die Existenz des Staates bedroht sei. «Das hat nichts mit der aktuellen Operation zu tun», sagte er am Sonntagmorgen.
Putin zu direkten Gesprächen aufgefordert
Emmanuel Macron und Olaf Scholz haben Putin in einem 80-minütigen Telefongespräch zu «direkten und ernsthaften Verhandlungen» mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj aufgefordert. Nach Angaben deutscher Regierungskreise verlangten Macron und Scholz auch einen «sofortigen Waffenstillstand» und einen «Rückzug der russischen Truppen». Putin hat sich nicht explizit zu diesen Forderungen geäussert. Er erklärte, er sei offen für die Wiederaufnahme des Dialogs mit Kiew. Bisher hat er immer erklärt, die ukrainische Seite blockiere die Gespräche mit immer neuen Forderungen.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21