Seit Tagen verlassen Menschen in Bussen die ostukrainische Stadt Lyman. Die Ukraine hat am Freitag bestätigt, dass der strategisch wichtige Eisenbahnknotenpunkt von den Russen erobert wurde. Der Fall von Lyman ist der erste wichtige strategische und psychologische russische Sieg im Donbass. Während die Russen in Lyman eingerückt sind, gehen die «mörderischen Kämpfe» um Sewerodonezk und Lyssytschansk weiter.
- Erster wichtiger russischer Sieg im Donbass
- Lyman gefallen
- «Die Donezker Schweiz»
- «Mörderische Kämpfe» um Sewerodonezk und Lyssytschansk
- Sewerodonezk weitgehend zerstört
- «Furchterrregendste Waffe»
- Der Fall von Switlodarsk
- Wieder Angriffe auf Charkiw
- Boris Johnson: «Langsame, spürbare» russische Fortschritte
- 50-jährige sowjetische Panzer
- «Genozid im Donbass»
«Die Donezker Schweiz»
In den sozialen Medien kursieren Bilder, die russische Soldaten und russische Panzer in der Stadt zeigen.
«Nach unbestätigten Angaben haben wir die Stadt Lyman verloren», sagte Oleksiy Arestovych, Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj in einem Video. Der russische Angriff sei gut organisiert gewesen.
«Dies zeigt im Prinzip das höhere Niveau der operativen Führung und der taktischen Fähigkeiten der russischen Armee», fügte er hinzu.
Der ukrainische Gouverneur der Region Donezk, Pawlo Kyrylenko, erklärte gegenüber dem Medienunternehmen Hromadske, dass Lyman «hauptsächlich von russischen Truppen kontrolliert» werde, das ukrainische Militär jedoch neue befestigte Stellungen in dem Gebiet bezogen habe.
Am Freitagvormittag erklärten pro-russische Separatisten der «Volksrepublik Donezk», sie hätten die Kontrolle über Lyman übernommen.
Lyman zählt 20’000 Einwohner. Die Stadt gilt als das «Nordtor des Donbass». Wegen der Pinienwälder und der blauen Seen wird Lyman auch die «Donezker Schweiz» bezeichnet. Der Tourismus war für die Region eine wichtige Einnahmequelle.
Militärstrategen erwarten, dass die Russen nach einem Fall von Lyman die südwestliche gelegene Stadt Slowjansk erobern wollen. Die Stadt mit ihren 125’000 Einwohnern war 2014 von pro-russischen Separatisten eingenommen worden. Diese wurden kurze Zeit später von der regulären ukrainischen Armee vertrieben. Die Russen haben bereits begonnen, Slowjansk zu beschiessen.
«Mörderische Kämpfe» um Sewerodonezk und Lyssytschansk
Auch am Freitag üben die russischen Verbände einen «maximalen» Druck auf die Zwillingsstädte Sewerodonezk und Lyssytschansk aus. Die Russen versuchen, die Verteidiger in der Stadt von der Aussenwelt abzuschneiden. Die Kämpfe hätten eine «maximale Intensität» erreicht, erklärte am Donnerstag die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maliar. Ein ukrainischer Beamter sprach von «mörderischen Kämpfen». Es werde aus allen Rohren geschossen.
Sewerodonezk weitgehend zerstört
Sechzig Prozent der Häuser und Wohnungen von Sewerodonezk seien völlig zerstört, erklärt Oleksandr Stryuk, der Bürgermeister der Stadt. Dreissig weitere Prozent seien schwer beschädigt. Sewerodonezk werde pausenlos beschossen. In der Stadt würden sich noch etwa 12’000 bis 13’000 Menschen aufhalten. 1’500 seien getötet worden. Fluchtmöglichkeiten gebe es kaum. Der Weg aus der Stadt sei wegen des dauernden Beschusses «extrem gefährlich», sagt der Bürgermeister, «aber das ukrainische Militär tue alles, um den Weg sicher zu machen».
«Furchterregendste Waffe»
Nach Berichten westlicher Geheimdienste setzen die Russen vermutlich eine ihrer furcherregendsten Waffe ein: den TOS-1 Buratino-Flammenwerfer. Dabei handelt es sich um einen gepanzerten Mehrfach-Raketenwerfer, der Raketen mit thermobarischen Sprengköpfen abfeuert. Das System kann 24 oder 30 Raketen abfeuern. Eine Rakete hat ein Kaliber von 220 mm, eine Länge von 3,3 m und wiegt 173 kg. Innerhalb von weniger als zehn Sekunden können 30 Raketen abgeschossen werden. Die Reichweite beträgt bis zu drei Kilometer. Die Raketen sind mit einer Brandladung oder einem thermobarischen Sprengkopf ausgerüstet. Die Sprengköpfe erzeugen bei der Explosion eine grosse Druck- und Hitzewirkung.
Der Fall von Switlodarsk
Schon am Dienstag hatte sich die ukrainische Armee aus der Stadt Switlodarsk zurückgezogen. Nach wochenlangem Artilleriebeschuss rückten russische Truppen am Freitag in der Stadt ein. Svitlodarsk liegt südwestlich von Luhansk, ist aber strategisch weniger bedeutend als Lyman.
Wieder Charkiw
Sollten Sewerodonezk und Lyssytschansk fallen, könnten sich nach Ansicht von Militärstrategen die Russen wieder dem nördlichen Donbass zuwenden und die zweitgrösste ukrainische Stadt ins Visier nehmen. Charkiw wird seit Tagen bereits wieder mit Raketen aus der Distanz beschossen. Mindestens neun Menschen, unter ihnen ein fünf Monate altes Baby und sein Vater, starben. Ukrainischen Truppen war es letzte Woche gelungen, die rund um die Stadt operierenden Russen zu vertreiben. Diese relative Ruhe, die in Charkiw eingekehrt war, ist jetzt wieder zerstört worden.
Boris Johnson: «Langsame, spürbare» russische Fortschritte
Der britische Premierminister Boris Johnson sagte am Freitag, Russland mache «schrittweise, langsame, aber ich fürchte, spürbare Fortschritte» im Donbass. Er forderte dazu auf, den Ukrainern Mehrfachraketen-Systeme (Multiple Launch Rocket Systems) zu liefern. Es sei «absolut unerlässlich», die Ukrainer vermehrt militärisch zu unterstützen.
«Ich denke, es ist sehr, sehr wichtig, dass wir uns nicht von dem unglaublichen Heldentum der Ukrainer einlullen lassen, die die Russen vor den Toren Kiews zurückgedrängt haben», sagte Johnson in einem Interview mit Bloomberg.
«Pessimistischer, realistischer»
Laut Joe Inwood, dem BBC-Korrespondenten in Kiew, sind die jüngsten ukrainischen Verlautbarungen über den Verlauf des Krieges weniger optimistisch als bisher. Der Optimismus über die Situation im Donbass ist einem «etwas pessimistischeren Ton gewichen – vielleicht einem etwas realistischeren Ton».
Russische Angriffe abgewehrt
Nach Angaben des ukrainischen Militärs sind in den Regionen Donezk und Luhansk in den letzten Tagen zwölf russische Angriffe gescheitert. Mehrere russische Militäreinheiten wurden zerstört.
Alte, sowjetische Panzer
Russland setzt im Donbass 50-jährige Panzer ein, erklärt der Geheimdienst des britischen Verteidigungsministeriums. Zur Verstärkung seiner Truppen würden die Russen T-62-Panzer, die «besonders anfällig für Panzerabwehrraketen» seien, mobilisieren. Damit würde die russische Armee demonstrieren, dass es ihr an «moderner, kampffähiger Ausrüstung» fehle.
«Genozid»
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj beschuldigt die Russen, im Donbass einen Genozid anrichten zu wollen. «Sie wollen den Donbass verbrennen und unbewohnbar machen», sagte Selenskyj in seiner abendlichen Ansprache am Donnerstag.
Selenskyj beschuldigte auch die Europäische Union, bei den Sanktionen nicht entschlossen genug zu handeln. Ein sechstes Massnahmenpaket wird derzeit vor allem von Ungarn, einem langjährigen Verbündeten Russlands, torpediert.
«Jeden Tag schickt die EU Moskau fast 1 Milliarde Euro für Öl und Gas – Geld, mit dem die russische Invasion finanziert wird», sagte Selenskyj.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21