Der Kampf um das Stahlwerk Asowstal in Mariupol war die bisher schrecklichste Episode dieses schrecklichen Krieges. Jetzt ist die fast dreimonatige Schlacht zu Ende. Die letzten Kämpfer, die das Stahlwerk verteidigten, haben sich ergeben. Laut russischen Angaben hatten sich insgesamt 2’439 ukrainische Soldaten in dem Werk befunden.
Fast zwölf Wochen lang hatten sich die Truppen in dem riesigen Komplex verschanzt und Russland daran gehindert, die vollständige Kontrolle über die Stadt zu erlangen.
Mit der Evakuierung am Freitag endete die schlimmste Belagerung dieses Krieges. Das einst blühende Mariupol liegt nun grösstenteils in Trümmern.
«Vollständig befreit»
Die Stadt und das Stahlwerk seien nun «vollständig befreit», nachdem die letzten 531 ukrainische Soldaten das Gelände verlassen hätten, teilte das russische Verteidigungsministerium mit.
«Die unterirdischen Anlagen des Unternehmens, in denen sich die Kämpfer versteckt hielten, wurden von den russischen Streitkräften vollständig unter Kontrolle gebracht», heisst es in einer Erklärung weiter.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Zelenskyj sagte, die letzten verbliebenen Verteidiger der Anlage hätten die Erlaubnis erhalten, das Gelände zu verlassen.
«Heute haben die Jungen ein klares Signal von der Militärführung erhalten, dass sie das Gelände verlassen und ihr Leben retten können», sagte er am Freitag gegenüber einem ukrainischen Fernsehsender.
Frauen, Kinder, ältere Menschen
Dutzende der jetzt Evakuierten sind schwer verletzt. Einige sollen nach unbestätigten Meldungen im Werk gestorben sein. Es fehlte an Medikamenten, medizinischem Material und je länger je mehr an sauberem Wasser und Nahrungsmitteln.
Belagert und beschossen wurde die Anlage nicht nur von regulären russischen Streitkräften, sondern vor allem von pro-russischen Milizen aus der abtrünnigen pro-russischen «Volksrepublik» Donezk. Verstärkt wurden sie von zahlreichen tschetschenischen Kämpfern.
Viele der dort eingeschlossenen Menschen waren Frauen, Kinder und ältere Menschen. Anfang Mai wurden sie nach mühsamen, von den Vereinten Nationen und dem Roten Kreuz koordinierten Verhandlungen, die sich über Wochen hinzogen, vollständig evakuiert.
Symbol des nationalen Widerstandes
Die anhaltende Weigerung der ukrainischen Verteidiger, sich zu ergeben, bedeutete jedoch, dass Russland nicht in der Lage war, die vollständige Kontrolle über die strategische Hafenstadt zu erlangen.
Die Verteidiger von Asowstal werden von vielen Ukrainern und der ukrainischen Regierung heute schon als «Helden» bezeichnet. Ihr Schicksal ist ungewiss, nachdem sie von den Russen in ein Gefangenenlager südöstlich von Donezk gebracht worden. Die Angehörigen der jetzt Evakuierten fürchten, dass sie als «Kriegsverbrecher» behandelt werden und dass sich die Russen an ihnen rächen. Für viele Ukrainer sind die Asowstal-Verteidiger zum Symbol des hartnäckigen nationalen ukrainischen Widerstands geworden.
Hoffen auf einen Gefangenenaustausch
Unter den Eingeschlossenen, die teils wochenlang das Tageslicht nicht mehr sahen, gehörten Marineinfanteristen, die Nationalgarde (einschliesslich des Asow-Regiments), der Grenzschutz, die Polizei und Einheiten der territorialen Verteidigung.
Der sich über vier Quadratkilometer erstreckende Komplex ist ein Labyrinth von Tunneln, die dafür angelegt waren, einen Atomkrieg zu überstehen. Die Anlage, eines der grössten Stahlwerke Europas, stammt aus sowjetischen Zeiten.
Die ukrainischen Behörden hoffen, dass die einstigen Asowstal-Verteidiger im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen werden, was jedoch von Moskau nicht bestätigt wurde.
«Nazi-Verbrecher»
Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte, die Soldaten würden «im Einklang mit den einschlägigen internationalen Gesetzen» behandelt. In der Zwischenzeit jedoch hat die russische Generalstaatsanwaltschaft den Obersten Gerichtshof des Landes angewiesen, die Einheit zu einer «terroristischen Organisation» zu erklären. So kann verhindert werden, dass die Evakuierten nach den Regeln der Genfer Konventionen behandelt werden müssen. Die Kämpfer des Asow-Regiments sollen zu «Nazi-Verbrechern» erklärt werden.
Das Asow-Regiment, das 2014 als Freiwilligenmiliz gegründet wurde und jetzt zur Nationalgarde gehört, hatte zu Beginn Verbindungen zur extremen Rechten. Im Laufe der Jahre wandelte es sich jedoch zu einer Elite-Einheit der Nationalgarde. Rechtsextreme Elemente wurden verabschiedet.
Massengräber
Die Belagerung und der Beschuss der Stadt Mariupol hat nach Angaben von Hilfsorganisationen mindestens 20’000 Tote gefordert. 90 Prozent der Stadt sind zerstört oder schwer beschädigt. Satellitenbilder zeigen, wie die Russen ausserhalb der Stadt Massegräber anlegten, in denen offenbar Tausende verscharrt sind. So sollte nach ukrainischen Angaben verhindert werden, dass die Leichen von Forensikern untersucht werden und dass so russische Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können.
Russland hat im Kampf um Mariupol Tausende russischer Soldaten eingesetzt. Sie können jetzt, nach dem endgültigen Fall der Stadt, auf anderen Kriegsschauplätzen eingesetzt werden.