Der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow rechnet mit einem langen Krieg. Die ersten schweren Waffen seien jetzt in der Ukraine eingetroffen, sagte er. «Wir werden jetzt in eine neue, lange Phase des Krieges eintreten.» Auf der Website des Ministeriums heisst es: «Vor uns liegen extrem harte Wochen. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie viele es sein werden.»
«Es ist die Hölle»
Die Situation auf dem Schlachtfeld sei heute «viel schlimmer» als zu Beginn des Krieges, erklärte Oleksandra Ustinova, eine ukrainische Parlamentarierin in Washington. «Es ist die Hölle», sagte sie gegenüber Journalisten. «Wir verlieren jetzt viel mehr Männer als zu Beginn des Krieges.»
Daria Kaleniuk, eine führende ukrainische Aktivistin der Zivilgesellschaft, erklärte: «Wir können diesen Krieg nicht mit sowjetischer Ausrüstung gewinnen, weil A. Russland viel mehr sowjetische Ausrüstung hat, B. wir nirgendwo Munition dafür bekommen können und C. Russland einfach mehr Leute und mehr Truppen hat.»
Ustinova sagte laut CNN, dass die Ukraine die MiG-Kampfjets aus der Sowjetzeit nicht mehr benötige, weil «sich der Krieg verändert hat».
Stattdessen brauche die Ukraine das Multiple Launch Rocket System (MLRS), die Panzerhaubitze Paladin und Kampfjets wie die F-16, um Russland wirksam bekämpfen zu können. Sie forderte die USA auf, ukrainische Piloten für den Einsatz solcher Jets zu schulen.
Die USA haben damit begonnen, schwere Waffen an die Ukraine zu schicken, haben aber noch keine MLRS oder Kampfjets zur Verfügung gestellt.
Ustinova und Kaleniuk, die diese Woche zu Gesprächen in Washington waren, sagten, dass es ihrer Meinung nach am «notwendigen politischen Willen» fehle, damit die Regierung beschliesse, solche schweren Waffen – und zwar schnell – zu schicken, und dass man immer noch Angst habe, Moskau zu provozieren.
Sie beklagten, dass es so lange gedauert habe, bis sich die USA entschlossen hätten, die schweren Waffen zu schicken, die sie jetzt schicken. Ustinova sagte gemäss CNN: «Wenn wir vor zwei Monaten Haubitzen gehabt hätten, wäre Mariupol nicht passiert, weil sie nicht in der Lage gewesen wären, die Stadt so zu umzingeln und buchstäblich zu zerstören.»
«Einflussreiche Vermittler»
Im Stahlwerk Asowstal in Mariupol befinden sich noch immer mehr als tausend ukrainische Kämpfer und vermutlich über hundert Zivilisten. Viele der Kämpfer sind teils schwer verletzt. Moskau hat sich bisher geweigert, sie zu evakuieren.
«Derzeit laufen sehr komplexe Verhandlungen über die nächste Phase der Evakuierungsmission: den Abtransport der Schwerverwundeten und der Sanitäter», sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj am Freitagabend. «Wir tun alles, um alle anderen zu evakuieren, jeden einzelnen unserer Verteidiger.» Kiew habe bei den Verhandlungen «einflussreiche Vermittler» eingesetzt. Um wen es sich dabei handelt, sagte er nicht. Die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin hatte am Donnerstag Meldungen dementiert, wonach die Verwundeten gegen eine sehr grosse Zahl russischer Kriegsgefangenen ausgetauscht werden sollen.
«Wichtig, aber kein Wendepunkt»
Die russischen Streitkräfte haben ihren Versuch, die zweitgrösste ukrainische Stadt zu erobern, aufgegeben und sich aus der Region Charkiw zurückgezogen. Das amerikanische «Institute for the Study of War» erklärte am Samstag, die Ukraine habe «wahrscheinlich die Schlacht um Charkiw gewonnen».
Seit Beginn der Invasion war die Einnahme der Stadt eines der wichtigsten strategischen Ziele der russischen Streitkräfte. Offenbar sind die Russen bis an die russische Grenze zurückgedrängt worden. Nach unbestätigten Berichten wurden sie von den Kämpfern der selbsternannten «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk daran gehindert, die Grenze nach Russland zu überqueren. Der Rückzug sei «wichtig, aber kein Wendepunkt im Krieg», schreibt das Institut.
Nato-Treffen mit Finnland und Schweden
Die Nato-Aussenminister haben Finnland und Schweden zu ihrem heutigen Treffen in Berlin eingeladen. Es wird erwartet, dass die beiden nordischen Länder in den nächsten Tagen einen Antrag auf Mitgliedschaft im Militärbündnis stellen werden. Als einziges Nato-Land hat sich die Türkei gegen eine Mitgliedschaft von Finnland und Schweden ausgesprochen. Die Türkei nimmt am Treffen in Berlin ebenfalls teil.
Finnland ohne russischen Strom
Nachdem Helsinki bekanntgegeben hatte, es wolle der Nato beitreten, hat ein russischer Energielieferant erklärt, er würde keinen Strom mehr nach Finnland liefern. Finnland bezieht etwa 10 Prozent seines Stroms aus Russland, teilte das Unternehmen «Fingrid» mit. Die Ausfälle könnten mit Strom aus Schweden kompensiert werden.
«Russland wird manipulieren»
In der südukrainischen Stadt Cherson will Russland eine Volksabstimmung über den Anschluss der Region an Russland durchführen. Sollte ein solches Referendum durchgeführt werden, werde Russland «mit ziemlicher Sicherheit das Ergebnis so manipulieren, dass es eine klare Mehrheit für den Austritt aus der Ukraine ergibt», erklärt das britische Verteidigungsministerium am Samstag. Die Tatsache, dass es Russland nur in einer ukrainischen Stadt, in Cherson, gelungen sei, eine pro-russische Führung durchzusetzen, verdeutliche, dass die russische Invasion keine Fortschritte bei der Verwirklichung seiner politischen Ziele gemacht hat.
11’000 mutmassliche Kriegsverbrechen
Die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Venediktova hat 41 russische Verdächtige identifiziert, die wegen verschiedener Kriegsverbrechen angeklagt werden sollen. Am Freitag begann der erste Prozess gegen einen russischen Soldaten, der beschuldigt wird, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Der 21-Jährige muss sich wegen der Tötung eines unbewaffneten ukrainischen Zivilisten vor Gericht verantworten. Er soll am 28. Februar mit vier weiteren Kameraden ein Auto gestohlen haben und auf dem Weg in das Dorf Tschupachiwka in der Region Sumy auf Befehl eines der Kameraden mit Schüssen aus dem Autofenster einen 62-jährigen Dorfbewohner getötet haben, der telefonierend auf seinem Fahrrad unterwegs gewesen war.
Die Staatsanwaltschaft untersuche mehr als 11’000 mutmassliche Kriegsverbrechen, sagte Venediktova. Laut Generalsstaatsanwältin Wenediktowa sollen zwei weitere Gerichtsverfahren gegen Verdächtige, die sich in der Ukraine aufhalten, wahrscheinlich schon kommende Woche beginnen.
Austin spricht mit Schoigu
Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin hat am Freitag erstmals seit Wochen mit seinem russischen Amtskollegen Sergei Schoigu gesprochen. Austin drängte auf einen schnelle Waffenstillstand. Schoigu lehnte ab. Das Gespräch fand auf Initiative der USA statt. Die beiden hatten zuletzt am 18. Februar, sechs Tage vor der russischen Invasion, miteinander gesprochen.
Austin hat Schoigu erklärt, wie wichtig die Aufrechterhaltung der «Kommunikationslinien» sei. Ein Pentagon-Sprecher sagte, das einstündige Gespräch sei «professionell» gewesen, habe aber keine neuen Erkenntnisse gebracht. «Der Anruf selbst löste keine akuten Probleme und führte zu keiner direkten Änderung dessen, was die Russen tun oder sagen», sagte der Sprecher. Dennoch hoffe Austin, es würde «als Sprungbrett für zukünftige Gespräche dienen».
Volksabstimmung in Südossetien
Auch die abtrünnige georgische Region Südossetien soll sich Russland anschliessen. In einer Volksabstimmung am 17. Juli soll die Abspaltung Südossetiens von Georgien besiegelt werden. Das Oberste Gericht in der Hauptstadt Zchinwali habe eine entsprechende Anordnung des amtierenden Präsidenten Anatolij Bibilow abgesegnet. Südossetien hat etwa 60’000 Einwohner und grenzt an das zu Russland gehörende Nordossetien. Im Georgienkrieg 2008 hatte Russland sowohl Südossetien als auch Abchasien als unabhängig anerkannt. In beiden Regionen sind Tausende russischer Soldaten stationiert.
ESC-Final
In Turin findet am Samstagabend der Final des Eurovision Song Contests ESC statt. Zu den Favoriten gehört der ukrainische Song «Stefania» der Band «Kalush Orchestra» um Leadsänger Oleh Psiuk.
(Wird laufend aktualisiert)
Journal 21