Russische Streitkräfte griffen am Dienstag das «Asowstal»-Werk in Mariupol mit Raketen und Artillerie an. Sowohl die Belagerten als auch ukrainische und amerikanische Beamte vermuten, dass es sich um den Beginn der Erstürmung des Werks handelt.
Wird laufend aktualisiert
- Vor der Erstürmung des Asow-Stahlwerks
- Erklärt Putin der Ukraine den Krieg?
- «Blutarme» russische Armee
- Kaum russische Fortschritte
- Annektierung von Donezk und Luhansk?
- Keine Evakuierungen am Montag
- «Totale Katastrophe» in Mariupol
- Putin will Papst nicht treffen
- Draghi kritisiert italienisches Fernsehen
In den Unterständen und Bunkern des Werks befinden sich noch immer knapp 200 Zivilisten und etwa 1500 bis 2000 ukrainische Kämpfer. Russland wirft den Verteidigern vor, die Waffenruhe am Wochenende benutzt zu haben, um ihr Abwehrpositionen auf dem Gelände des Werks zu festigen.
Die ganze Nacht hindurch wurde das Werk von Artillerie, Marineartillerie und Flugzeugen beschossen. «Zwei Zivilistinnen in einem der Bunker wurden durch einen massiven Luftangriff getötet», sagte Denys Shlega, ein Kommandand der Nationalgarde, dem ukrainischen Fernsehen. Das Asow-Regiment veröffentlichte Bilder von den Leichen der beiden Frauen.
«Seit dem Morgen hat der Feind versucht, die Anlage von Asowstal mit erheblichen Kräften und gepanzerten Fahrzeugen anzugreifen. Unsere Soldaten haben alle Angriffe tapfer abgewehrt», sagte Shlega.
Swjatoslaw Palamar, ein Kommanand des Asow-Regiments, der sich ebenfalls in dem Komplex aufhält, sagte am Dienstag gegenüber CNN, dass Asowstal «jetzt angegriffen wird».
Das Feldlazarett sei schwer beschädigt worden, und «die Ärzte, die Operationen durchführen, befinden sich unter sehr schwierigen Bedingungen und tun alles Mögliche und Unmögliche. Derzeit gibt es etwa 500 Verwundete in der Anlage», sagte Shlega.
Etwa 200 Zivilisten befinden sich noch in der Anlage, darunter etwa 20 Kinder, so Schlega.
Wadym Boichenko, der Bürgermeister von Mariupol, sagte, dass sich in der zerstörten Stadt selbst noch etwa 100’000 Menschen befinden.
Erklärt Putin der Ukraine den Krieg?
Pentagon-Beamte schliessen nicht aus, dass Putin der Ukraine bald den Krieg erklären wird. Bisher vermied er das Wort «Krieg» und sprach von einer «Spezialoperation». Die Kriegserklärung würde ihm gestatten, in Russland die allgemeine Mobilmachung zu verfügen und zusätzliche Truppen, auch Reserveverbände, in die Ukraine zu beordern.
«Weit vom Ziel entfernt»
Das amerikanische Pentagon stellt der russischen Armee ein schlechtes Zeugnis aus. Um weitere hohe Verluste zu vermeiden, sei sie risikoscheu. «Wir sehen bestenfalls minime Fortschritte», sagt ein Pentagon-Beamter. Die Moral der Truppe sei schlecht, die Versorgungsprobleme seien nicht gelöst.
Die Russen haben in den ersten Kriegswochen schwere Verluste erlitten. Westliche Geheimdienstkreise sprechen von bis zu 20’000 getöteten Soldaten. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj nennt die Zahl von 25’000 Toten.
An mehreren Fronten stossen die russischen Streitkräfte auf heftigen ukrainischen Widerstand. «Sie rücken vor, erklären den Sieg und ziehen dann ihre Truppen zurück, nur um sie den Ukrainern zu überlassen», erklärt der hochrangige Pentagon-Beamte, der anonym bleiben will.
Zur Zeit würden die Russen an drei Fronten angreifen:
Von Isjum im Norden, vom östlichen Donbass aus, wo die von Russland unterstützten Separatisten seit 2014 kämpfen, und von der belagerten Hafenstadt Mariupol im Süden. Doch die russischen Streitkräfte seien weit von ihrem Ziel entfernt, zehntausende ukrainische Soldaten in einer Zangenbewegung einzukesseln, erklärt der Beamte.
Putin und die russische Militärführung hatten gehofft, am 9. Mai, dem «Tag des Sieges über Nazi-Deutschland» die Eroberung des ostukrainischen Donbass verkünden zu können. Der russische Aussenminister Sergej Lawrow deutete am Sonntag in einem Interview mit einem italienischen Fernsehen an, dass die Frist des 9. Mai vermutlich nicht eingehalten werden kann.
Die russische Offensive sei «blutarm» und «schwerfällig» heisst es im Pentagon. Man gehe zaghaft ans Werk, weil sich die stark dezimierte russische Armee weitere erhebliche Verluste nicht leisten könne. Die Russen würden «vorsichtig, lauwarm» vorgehen.
Der britische Geheimdienst hatte am Montag erklärt, dass ein Viertel der fast hundert russischen Bataillone in der Ukraine «kampfunfähig» seien.
Als Kompensation dafür, dass die Russen auf dem Schlachtfeld kaum Fortschritte machen, bombardieren sie pausenlos zivile Ziele in Städten und Dörfern, erklärt ein ukrainischer Analyst.
In der Ost- und Südukraine haben die Russen zur Zeit 93 Bataillone mit je 700 bis 1000 Soldaten stationiert.
Eines der Hauptziele ist nach wie vor Charkiw, die zweitgrösste ukrainische Stadt, die neben dem Donbass liegt. Dort jedoch haben die ukrainischen Kräfte nach Angaben des Pentagon die Russen um rund 30 Kilometer zurückgedrängt. In der Zwischenzeit treffen in der Ostukraine und im Gebiet rund um die südukrainische Stadt Sapar immer mehr schwere westliche Waffen ein.
Am Montag wurden den Ukrainern 80 hochmoderne amerikanische Haubitzen und fast 100’000 Patronen für die 155-Millimeter-Artillerie übergeben.
Vordringliches Ziel der Russen ist es, die Donbass-Regionen Donezk und Luhansk bis Mitte Mai und anschliessend das südukrainische Gebiet rund um die Stadt Cherson zu annektieren. Dort sollen bald «Wahlen» stattfinden, die eine Moskau-treue Lokalregierung an die Macht bringen und die der Westen als «Scheinwahlen» verspottet.
Keine Evakuierung am Montag
Das Stahlwerk «Asowstal» in Mariupol war am Montag erneut pausenlos bombardiert worden. Deshalb konnten aus Sicherheitsgründen keine Evakuierungen vorgenommen werden. Nach Angaben des ukrainischen Militärs befinden sich neben den etwa 1500 bis 2000 Kämpfern noch immer rund 200 Zivilisten in den verschütteten Bunkern des Stahlwerks. Dabei handelt es sich vor allem um Kinder, Frauen und ältere Leute, die im Werk Schutz gesucht hatten. Viele der Kämpfer und Zivilisten sind verwundet und wurden im Werk Notoperationen unterzogen. Doch es fehlt an Medikamenten und medizinischem Material. Zudem gehen das Wasser und die Nahrungsmittel aus. Das Stahlwerk ist die letzte Bastion der ukrainischen Truppen in der Hafenstadt Mariupol.
Am Sonntag war es dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz IKRK und anderen internationalen Helfern gelungen, etwa 100 Zivilisten aus dem Werk zu evakuieren. Sie wurden nach Saporischschja gebracht, einer Grossstadt nördlich von Mariupol. Gegenüber Journalisten erzählten sie schreckliche Geschichten über die Zustände im Werk.
«Die totale Katastrophe»
Die Hilfsorganisation «Médecins sans frontières» bezeichnet die Lage in der umkämpften Hafenstadt Mariupol als «die totale Katastrophe». Anja Wolz, die Notfallkoordinatorin der Hilfsorganisation, sagt in einem Zeitungsinterview mit der deutschen Funke-Mediengruppe, das tatsächliche Ausmass an menschlichem Leid in der belagerten Metropole werde erst in Zukunft vollständig sichtbar werden. «Wir machen uns, glaube ich, keine Vorstellung davon, was wir dort noch sehen werden. Butscha, Irpin und Hostomel sind nur die Spitze des Eisbergs», sagte Wolz.
Zusätzliche 33 Milliarden
Der US-Senat bereitet sich darauf vor, Präsident Bidens 33-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Ukraine zu verabschieden. Dieses sieht unter anderem eine beträchtliche Aufstockung schwerer Waffen vor.
«Deutlich schwächere russische Armee»
Zwar habe Russland sein Verteidigungsbudget in den letzten Jahren verdoppelt, doch Fehler in der strategischen Planung und in der operativen Ausführung hätten das expansive militärische Modernisierungsprogramm untergraben, erklärt am Dienstag der militärische britische Geheimdienst. Die internationalen Sanktionen würden «einen dauerhaften Einfluss» auf die Erholung des russischen Militärs haben.
Angriff auf Odessa
Bei einem Raketenangriff auf ein Wohnhaus in Odessa wurde ein 15-jähriges Kind getötet, wie Natalia Humeniuk, eine Sprecherin des ukrainischen Einsatzkommandos Süd, am Montag gegenüber Reportern erklärte. Ein weiteres Kind wurde zur Behandlung in ein Krankenhaus gebracht. Das Gebäude befand sich in der Nähe einer religiösen Einrichtung, die ebenfalls beschädigt wurde.
Putin will den Papst nicht treffen
Papst Franziskus hat den Kreml-Herrscher um ein Treffen in Moskau gebeten, doch Putin hat nicht geantwortet. Das berichtet der Corriere della sera. Der Papst habe sich in Moskau für das Ende des Krieges einsetzen wollen. Indirekt kritisierte er auch Kyrill, den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, der sich auf die Seite von Putin gestellt hatte. Kyrill könne nicht Putins «Messdiener» werden, sagte der Papst.
Milliarden und Millionen
Die USA liefern der Ukraine Waffen und Rüstungsgüter im Wert von 3,7 Milliarden Dollar. Estland hat nach Regierungsangaben bisher Militärhilfe im Wert von mehr als 220 Millionen Euro für die Ukraine geleistet. Deutschland hat in den ersten acht Kriegswochen Waffen und Rüstungsgüter im Wert von über 192 Millionen Euro an die Ukraine geliefert. Dies erklärt das deutsche Wirtschaftsministerium.
Draghi kritisiert italienisches Fernsehen
Der italienische Ministerpräsident hat den Auftritt des russischen Aussenministers Sergej Lawrow im italienischen Fernsehsender Rete4 scharf kritisiert. Lawrow konnte fast 40 Minuten lang Werbung für die Russen machen und wurde kaum unterbrochen oder mit kritischen Fragen konfrontiert. «Man sprach zwar von einem Interview, aber in Wahrheit war das eine Wahlkundgebung», sagte Draghi. In Italien gebe es zwar – anders als in Russland – Presse- und Redefreiheit. Aber: «Man muss sich fragen, ob es akzeptabel ist, jemanden einzuladen, der interviewt wird, ganz ohne Widerrede. Das war keine Glanzleistung, da kommen einem seltsame Dinge in den Kopf.»
Rete 4 ist ein privater italienischer Fernsehsender und gehört zur Berlusconi-Gruppe.
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Journal 21