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Aus digitalen Niederungen

Spieglein, Spieglein, in der Hand

30. November 2014
Eduard Kaeser
„Make a picture, please!" - früher hielten junge spani­sche oder japanische Pärchen den Passanten vor dem Berner Zytglogge an und erbaten sich die kleine Dienstleistung eines Knopfdrucks auf den Fotoapparat.

Tempi passati.- Nach wie vor stehen Schocks von Touristen Tag für Tag da, nunmehr den Rücken der Sehenswürdigkeit zugekehrt, mit ausgestrecktem Arm – oft sogar mit verlängernder Prothese - in das künstliche dritte Auge des Smartphones lächelnd, für den Schnappschuss eines Selfies. Früher war diese Trophäen­jagd ausgerichtet auf die Film- und Fotoschau zuhause. Heute dienen die Selfies, in beliebig kurzem Takt, dem möglichst lückenlosen Tracking eines Selbst, für das es keine natürliche Unmittelbarkeit mehr gibt, sondern der festgehaltene, fixierte Augenblick. Das Selfie ist ein Mittel, sich quasi selber auf die Reihe zu bringen: zu kuratieren - man wir zu einer permanenten Ausstellung seiner selbst.

Eine Situation, die der Historiker Christopher Lasch in seinem Buch „Zeitalter des Narzissmus“ antizipiert hatte (1979, im Englischen „The culture of narcissism“). Das moderne Leben, schrieb er, würde „in einem so umfassenden Sinne durch elektronische Bilder vermittelt , dass wir gar nicht umhin können, auf Mitmenschen so zu reagieren, als ob ihre Handlungen - wie die unsrigen auch -  aufgezeichnet und gleichzeitig einem unsichtbaren Publikum übermittelt oder zur späteren genauen Überprüfung archiviert würden." Im Besonderen machte Lasch auch darauf aufmerksam, dass die immer handlicher werdenden Fotoapparate vor allem die "Selbstüberwachung" als eine der vielen "narzisstischen Verwendungsmöglichkeiten" fördern würden; die Abhängigkeit des eigenen Selbstgefühls vom "Konsum von Bildern dieses Selbst".

Vor Lasch sprach Günther Anders in der „Antiquiertheit des Menschen“ (1956)  von der „Bildersucht“ oder „Ikonomanie“. Er lässt einen fiktiven Reporter vom Mars kommentieren: „Die Rolle der Bilder (ist) so ungeheuer, dass mir, wenn ich mir die Welt von ihren Milliarden Bildern (..) entleert vorstelle, nur das reine Nichts übrigbleibt.  Ich habe kein einziges Wesen kennengelernt, das nicht mehrere Bildduplikate seiner selbst und der Seinen freiwillig vorgewiesen, bei sich getragen oder mindestens besessen hätte.“ Das Bild als Selbstmultiplikator. „Mindestens in effigie gewinnt auch (der Mensch) multiples,  zuweilen sogar tausendfaches Dasein (..) Und trotzdem: Letztlich ist (..) unsere Multiplikation durch Bilder nur ein Als-ob; und die Befriedigung, die sie uns gewährt, trotz unseres ikonomanischen Hochbetriebs, eine Ersatzbefriedigung.“

Es gibt den Witz über die Nachbarin, die entzückt ausruft: „Oh, was für ein süsses Baby!" „Das ist noch gar nichts", erwidert die stolze Mutter, „Sie sollten erst mal ein Foto von ihm se­hen!" Das scheint die Logik des Selfies zu sein: Ich bin gar nichts; aber wenn man erst einmal mein Gesicht oder auch weniger öffentliche Körperteile von mir auf dem Bild sieht... Selfies sind das Medium von Gar-nichtsen, die darauf erpicht sind, Jemande zu werden – also im Grunde das Medium von uns allen. Der Mensch erschien im Holozän. Und der Mensch, wie wir ihn kannten, wird womöglich im Ikonozän verschwinden, dem Zeitalter des Selfies.

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