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Sorgenbarometer 2014

7. Februar 2015
Christoph Zollinger
Christoph Zollinger
Schweizerinnen und Schweizer sind zuversichtlicher als viele glauben.

Der Credit Suisse Sorgenbarometer gibt alljährlich Antworten zur Stimmungslage der Nation. Wovor fürchten wir uns? Wo liegen die Probleme? Wem vertrauen wir? Vor der Lektüre dieses Beitrags sei daran erinnert, dass die Publikation im Dezember 2014 erfolgte.   

Sorge Nr. 1 – Arbeitslosigkeit

Im Land der mit Abstand tiefsten Arbeitslosenquote aller OECD-Länder war 2014 die Arbeitslosigkeit das grösste Problem. Eigenartig. Fragten Sie damals ihre Bekannten, Freunde, Nachbarn, worüber sich diese am meisten sorgten, mochten der Antworten viele sein: die eigenen Karrieremöglichkeiten, der Gesundheitszustand des (Ehe-) Partners, die eigene Gesundheit, die Zukunft der Kinder, die Ausbildung der Enkel, der Verbleib in der schönen Wohnung mit der zahlbaren Miete. Eher seltene, aber besonders ehrliche Antworten hätten auch so tönen können: der getrübte Zustand der eigenen (Ehe-) Partnerschaft, vielleicht jener unserer Kinder. Mit Blick auf Europa, der Zustand der EU oder auf die Welt: die politische Grosswetterlage.

Gab es bei Ihrer privaten Umfrage einmal die Antwort: Hauptsorge ist, meine Arbeit zu verlieren? Wohl eher selten. Dazu die Erklärung des Umfrage-Projektteams: „Im Langzeitvergleich lässt sich zeigen, dass eine hohe Korrelation besteht zwischen tatsächlicher Arbeitslosenquote und der Wahrnehmung als Sorge.“ Jetzt wissen sie auch das.

Welche Erkenntnis lässt sich daraus ziehen? Wer auf seine Fragen einen fixen Antwortkatalog zur Auswahl vorlegt, wird nur auf diesen Antworten kriegen. Sie sind dann zwar messbar („Langzeitvergleich“), doch entsprechen sie eben nur eingeschränkt den real in der Gegenwart empfundenen, drängendsten Problemen. Was ist gemeint?

Vertrauen: Spitzenreiter SNB   

Gefragt, welcher Institution Schweizerinnen und Schweizer am meisten vertrauen, gibt es eine klare Antwort: der Schweizerischen Nationalbank. Doch erst seit 2014 ist dem so. Wer das jetzt überraschend findet, muss wissen: im Auswahlkatalog der möglichen Antworten figurierte die SNB letztes Jahr zum ersten Mal. (Ob der überraschende Entscheid der SNB im Januar 2015 Spuren im Ranking hinterlassen wird?).

Damit erübrigen sich eigentlich weitere Begründungen zur oben ausgeführten These der eingeschränkten Aussagekraft des Umfragemusters.  

Virulente Ausländerfrage  

Die grösste Identitätsgefährdung sehen seit 10 Jahren Schweizerinnen und Schweizer in der massiven  Einwanderung. Dass die Ausländerfrage demnach an zweiter Stelle erscheint, ist nachvollziehbar. Auch der Zusammenhang mit der Angst vor dem Stellenverlust ist in diesem Zusammenhang nicht wegzuleugnen. Da mag sich mancher fragen: Wie steht es mit der „Unverhandelbarkeit der Personenfreizügigkeit“ beim Dialog mit der EU? „Unverhandelbar“ als Antwort auf berechtigte Fragen und Sorgen der Menschen ist weder staatsmännisch, noch klug. Kommt Zeit, kommt Rat? Es ist zu hoffen.

Folgerichtig sehen viele Befragte die Schweizer Identität eben auch durch die EU-Problematik ganz generell erschüttert. Die Abhängigkeit, so ahnen sie, ist grösser als eingeredet. Die Konjunkturprobleme innerhalb der EU könnten direkte Auswirkungen auf die Schweiz haben. Ebenso ambivalent ist ihre Haltung zur  verbreiteten schweizerischen „Spezialität“ der aktiven Ansiedlung ausländischer Unternehmen mit deren direkten Folgen auf Einwanderung und Immobilienboom.

AHV-Zukunft gefährdet?

Wie sicher die eigene AHV-Rente einmal sein wird – diese Frage schafft es auf Platz drei; sie erfährt in der Sorgengewichtung den grössten Sprung nach vorn. „Das Volk“   ist vorsichtiger, ja misstrauischer geworden. Es weiss sehr wohl um die Parolendürftigkeit der politischen Hauptkontrahenten. Diejenige der SP/Gewerkschaften: die AHV ist „sicher“ oder jene der SVP/FDP/Arbeitgeber: die Lösung heisst Erhöhung des AHV-Bezugsalters.  

Egoismus und Reformstau

Fast im gleichen Umfang wie Einwanderung und EU-Problematik die Schweizer Identität zu gefährden scheinen, werden die hausgemachten Sorgen gewichtet: Egoismus, Reformstau und politische Polarisierung. Diese Selbstkritik ist beachtlich, jedoch wirkt die Nennung von Egoismus etwas hohl, wenn sie in den Kontext der an anderer Stelle hochgelobten Schweizer Charakteristika Solidarität und Bescheidenheit gestellt wird. Das eine scheint doch das andere etwas zu beissen?

Den grössten Sprung nach oben in dieser Gefahrenstatistik macht „Reformstau“ – auf einen neuen absoluten Höchststand. Dies steht in engem Zusammenhang mit der unrühmlichen Polarisierung der politischen Parteien. Wenn Schweizerinnen und Schweizer realisieren, dass viele Schweizer Werte immer mehr gefährdet werden durch die Untätigkeit vieler Parlamentarier, die heissen Brocken anzupacken, die „Baustellen“ zu sanieren, ist dies ein Alarmzeichen. Der Kreis schliesst sich: grassierender Egoismus in privaten und politischen Bereichen ist ein Hinweis darauf, dass da wie dort Wohlfühlempfinden oder Eigenprofilierung Vorrang vor gesellschaftlicher Gemeinschaft, resp. politischer Verantwortung haben.

Wolkenloser Wirtschaftshimmel?

Ein weiteres Fragezeichen ergibt sich beim Studium des umfangreichen Antwortkatalogs. Wie kommt es, dass sich die Befragten mit der eigenen Wirtschaftslage ausdrücklich „zufrieden oder sehr zufrieden“ äussern? Seit 14 Jahren war die Beurteilung nie mehr so positiv – und doch, wir wissen es inzwischen – war die Arbeitslosigkeit gleichzeitig die Hauptsorge? Verlustangst, das verunsichernde Gefühl, bisherige, selbstverständliche Garanten des komfortablen Lebensstandards könnten abhandenkommen, scheinen zu keimen. Angst, das Gegenteil von Mut. Eigentlich eine schwer verständliche Reaktion, wenn gleichzeitig 97% der Befragten die hiesige Wirtschaft im Vergleich mit jener des Auslands als „besser“ beurteilen?

Schweizerische Neutralität

Auf die offen gestellte Frage, welche drei Eigenschaften das Wesen der Schweiz ausmachen, steht „Neutralität“ - nach grossem Sprung nach vorn - an der Spitze. Den grössten relativen Abstieg verzeichnet „Sicherheit/Frieden“, immerhin noch vor dem drittplatzierten Begriff „Heimat“. Somit basiert unser Nationalstolz auf zwei mächtigen Hauptpfeilern, die beide in Reflektion mit unseren Aussenbeziehungen zu sehen sind. So erfreulich das ist, so unklar bleibt aber, was die Befragten darunter   verstehen. Strickte oder zeitgemässe Neutralität? Versprochene oder gefühlte Sicherheit?

Am unteren Ende dieser Kategorie finden wir sie noch, Nennungen wie „Kühe und ihre Glocken“ und „Tell und der Rütlischwur“. Das muss einigen nationalkonservativen Politikern das Herz erwärmen.

Kirchturmpolitik im Abwind

Ein eigentlicher Identitätswandel ist Tatsache. Das Gefühl der Zugehörigkeit zur Wohngemeinde nimmt rasch ab. Die Gemeindeversammlungen vor leeren Rängen täuschen nicht. Dies sind alarmierende Werte, allerdings nur für jene Kreise, die noch nicht realisiert haben, dass viele unserer Kleinststrukturen im Global Village überholt sind. Mit anderen Worten: Die Schweiz als Nation ersetzt die Wohngemeinden als Identifikationsfaktor Nummer eins. Die Kantonszugehörigkeit spielt dabei keine Rolle. Schweizerkreuz statt Kirchturm.

Der Schweiz geht es gut, oder doch nicht so?

„Das ist nicht zuletzt das Resultat unseres politischen Systems, das auf Kooperation und Ausgleich ausgerichtet ist.“ Dies schreibt die CS. Wer die Weltwoche liest, wird da allerdings nicht zustimmen.

Das Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz ist Spitze. Was besonders auffällt: Entgegen der medial angeheizten Ungleichheitsdebatte ist hierzulande die Einkommensverteilung vergleichsweise „flach“. Im OECD-Vergleich belegt die Schweiz auch bei der Verteilung der Primäreinkommen – gemessen am Gini-Koeffizienten – weiterhin einen Spitzenplatz (www.bfs.admin.ch).

Ein aufmerksamer Beobachter der politischen Szene Europa ist Jonathan Steinberg, emerit. Professor und Autor des Buches „Why Switzerland? (1976)“. Im Gegensatz zur oben geäusserten Ansicht schreibt er: „Die stabile Konsenspolitik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat [in der Schweiz] einer Polarisierung Platz gemacht, die bedrohlicher ist als jede andere seit dem Generalstreik oder den Religionskriegen. Die populistische Rechte hat alle Trümpfe in der Hand. Sie nutzt das Unbehagen aus und stützt sich auf das Instrument der direkten Demokratie statt auf die parlamentarische Arbeit.“

Prognosen

Unklar ist, warum die Autoren der Versuchung nicht wiederstehen konnten, die Meinungslieferanten nach ihrer Einschätzung der Zukunft zu befragen. Die Antworten sind nicht viel wert. Die Berechnung der Zukunft ist ein anspruchsvolles Business. Nate Silver (der als einziger die Ergebnisse der letzten US-Präsidentschaftswahlen richtig vorausgesagt hat), weiss, wovon der redet. Informationen statt Meinungen zu sammeln hält er für wegweisend.

Nein von zehn Befragten waren überzeugt, dass es auch in Zukunft so bleibt oder noch besser kommt. Sie bezogen ihre Zuversicht bei dieser Beurteilung auf die Lage der Nation: diese ist zufriedenstellend bis sehr gut. Silver würde dazu wohl sagen: Aus der Gegenwart auf die Zukunft zu schliessen, ist fahrlässig. Und zu den vielen Konklusionen bei der Auswertung zur „Zukunft der Schweiz“ hätte er wohl auf den häufigsten Fehler bei Prognosen hingewiesen: zu „glauben“.

Entscheidungsträgern, Bankern, Politologen, Ideologen, ja Prognosen selbst zu „glauben“, hält er für wesentliche Gründe, warum wir immer aufs Neue überrascht werden, wenn es erstens anders kommt und zweitens, als man denkt. 

Quellen
„CREDIT SUISSE Sorgenbarometer 2014“
„Die Berechnung der Zukunft“, Nate Silver (2013)

 

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