Auszüge aus der Rede, die der Russlandkenner, Autor, akademische Lehrer und Journalist Karl Schlögel am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels gehalten hat:
«Es geschieht das Ungeheuerlichste: Unter unseren Augen werden ukrainische Städte Tag für Tag, Nacht für Nacht von russischen Raketen beschossen, und Europa scheint nicht in der Lage oder nicht willens, sie zu schützen …»
«Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Russland noch einmal zurückfallen würde in Zeiten, die in Vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen, dessen Erforschung ich Jahre meines Lebens gewidmet hatte; ich konnte mir nicht ein Amerika, das ich als Student kennengelernt hatte, vorstellen, in dem sich einmal Angst vor einem autoritären Re-gime würde ausbreiten können. Ganz fremd war mir der Gedanke, dass auch in der Bundesrepublik etwas ins Rutschen kommen könnte …»
«Welch befreiendes Gefühl war es doch, sich aus der Enge der geteilten Welt des Kalten Krieges herauszuarbeiten und sich über die zwischen Ost und West gezogene Demarkationslinie oder unter dem Eisernen Vorhang hindurchzubewegen. Sehr früh lernte ich, dass es jenseits der Teilung Europas in Ost und West, in Sozialismus und Kapitalismus, ein anderes, ein Drittes gab, das damit nicht identisch war, die verlorene Mitte Europas …»
«Dann aber kam Russlands Besetzung der Krim. Vor über zehn Jahren, zurückgekehrt aus Charkiw, Donezk, Mariupol und Odessa, hatte ich geschrieben: »Wir wissen nicht, wie der Kampf um die Ukraine ausgehen wird; ob sie sich gegen die russische Aggression behaupten oder ob sie in die Knie gehen wird, ob die Europäer, der Westen, sie verteidigen oder preisgeben wird; ob die Europäische Union zu-sammenhalten oder auseinanderfallen wird. Nur so viel ist gewiss: Die Ukraine wird nie mehr von der Landkarte in unseren Köpfen verschwinden …»
«Es gab viele Russlandversteher, aber zu wenige, die etwas von Russland verstanden»
«Putins Russland ist entschlossen, die unabhängige und freie Ukraine von der Landkarte Europas zu tilgen. Putin hat es offen erklärt und beweist Tag für Tag seither, dass es ihm ernst damit ist. Kein Wort kommt an die Bilder der Zerstörung heran. Keine Grausamkeit, die seine Truppen nicht begangen haben. Nichts und niemand, der nicht zur Zielscheibe von Drohnen und Raketen geworden ist …»
«Es ist erstaunlich, wie lange es in Deutschland gedauert hat, gewahr zu werden, womit man es mit Putins Russland zu tun hat. Was immer im Spiele war – historische Pfadabhängigkeit, kulturelle Affinitäten, Nostalgie und Sentimentalität, Wirtschaftsinteressen, auch Korruption –, es ist ein weites Feld für die historische Aufklärung und eine Aufarbeitung, die niemanden schont. Es gab viele Russlandversteher, aber zu wenige, die etwas von Russland verstanden. Sie hätten uns sonst erklärt, was auf uns zukommt und dass die Kategorien, mit denen man Putins Reich zu fassen sucht, eher Ergebnis von Wunschdenken und Gutgläubigkeit waren, anstatt sich einzugestehen, dass man dieser Gestalt des Bösen – welcher Begriff auch immer dafür noch entwickelt werden wird – nicht gewachsen war …»
«Doch muss nicht alles nach seinem Plan verlaufen: der Blitzkrieg gegen die Ukraine, die Einnahme der Hauptstadt, die Siegesparade auf dem Chreschtschatyk in Kyjiw, die Einkesselung Charkiws. Es ist anders gekommen. Da er trotz Hunderttausender Gefallener und Verwundeter an der Front kaum vorankommt, hält er sich an die schutzlose Zivilbevölkerung. Seine Losung ist einfach: ‹Wir machen euch fertig, wo immer ihr seid, ihr habt keine Chance ausser der Kapitulation.› Diplomatie ist dabei nur das Instrument, um Zeit zu gewinnen, von der er glaubt, dass sie für ihn arbeitet …»
Kritiker werden als Verleumder Russlands diffamiert
«Ist das, was ich sage, Russophobie? Es gehört zum Repertoire der Einschüchterungsrhetorik, die Kritik an Putins Regime als Verleumdung Russlands zu diffamieren. Das kann mich als jemanden, der seit seiner Jugend der russischen Kultur verfallen ist und der sich ein Leben lang für ihre Vermittlung eingesetzt hat, nicht treffen. Es tut mir sehr weh, wenn heute Freunde und Kollegen in Gefahr sind und ins Exil getrieben werden. Die Instrumentalisierung des Prestiges der russischen Kultur spielt ganz sicher eine grosse Rolle in der Durchsetzung von Putins imperialen Ambitionen – Russkij Mir, die russische Welt, die keine Grenzen kennt, als «soft power». Zur Einschüchterungsrhetorik und moralischen Erpressung gehört selbstverständlich auch, die ukrainische Führung als Nazis zu diffamieren und die Deutschen unter Naziverdacht zu stellen …»
«Niemand ist mehr interessiert am Frieden als die Ukrainer. Sie wissen, dass ein zu allem entschlossener Aggressor sich nicht mit Worten aufhalten lässt. Sie sind Realisten, die sich keine Illusionen leisten können. Weil sie nicht Opfer sein wollen, wehren sie sich. Sie sind auf alles gefasst. Sie kämpfen für ihre Kinder, für ihre Familien, für ihren Staat, sie sind bereit, für ihr Land sogar zu sterben. Was anderwärts nur Fernsehbilder sind, ist für sie unmittelbare Erfahrung. Die Verteidigung an der Front wäre nichts ohne das Heer von Freiwilligen, das hinter ihr steht …»
Von der Ukraine lernen
«Sie haben den Winter überstanden und haben Wochen, ja monatelang dem allnächtlichen Terror der Drohnen und Raketen getrotzt. Gestern waren sie vielleicht IT-Experten, heute steuern sie Drohnen. Sie und alle Menschen guten Willens sind es, denen zuerst und zuallererst der Dank gilt. Und an sie soll auch der Gruss von dieser Stelle aus gehen – aus der Frankfurter Paulskirche, dem Ort der deutschen Einheits- und Freiheitsbewegung, einem Hotspot des europäischen Völkerfrühlings von einst. Es ist ein Gruss, hinüber zu den Verteidigern einer freien Ukraine, zu den Männern und Frauen, die trotz alledem ihrer Arbeit nachgehen, die ihre Kinder trotz Drohnenschwärmen zum Unterricht bringen, zu den Einwohnern Kyjiws, die in der Metrostation ausharren, zu den Lokführern, die ihre Züge pünktlich von Iwano-Frankiwsk nach Charkiw steuern …»
«Uns Europäern bleibt, so unwahrscheinlich es klingen mag: Von der Ukraine lernen, heisst furchtlos und tapfer sein, vielleicht auch siegen lernen.»