
Aktuelle Wirtschaftsdaten lassen darauf schliessen, dass die Staaten Zentralasiens bei der Umgehung der Sanktionen eine wichtige Rolle spielen. Der Westen versucht sie davon abzuhalten, hat aber keine Druckmittel, um Kooperation zu erzwingen.
Das Wissen ist fast so alt wie Russlands Krieg gegen die Ukraine: Wenn Sanktionen gegen die Herrschaft Putins Wirkung zeigen sollen, dann müssen Umgehungsgeschäfte verhindert werden. Fast 600 Tage nach dem verhängnisvollen 24. Februar 2022 aber ist klar: Die von den westlichen Staaten (inklusive Neutrale in Europa) plus Japan, Südkorea, Taiwan, Australien und Neuseeland gegen Russland verhängten Sanktionen werden weltweit breitflächig umgangen. Nicht immer im Sinn einer Verletzung von Regeln, sondern meistens, weil rund 150 Regierungen sich nie zu einer Teilnahme verpflichtet haben, darunter – um nur einige der wichtigsten zu nennen – ein Nato-Mitglied (die Türkei), Saudiarabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Indien und, klar, China. Nicht mit im Boot sind auch die Länder im Kaukasus (Georgien, Armenien, Aserbaidschan) und die fünf zentralasiatischen Staaten.
Indirekte Verpflichtung
Zumindest indirekt, nämlich durch Abstimmungen in der Uno-Generalversammlung, haben die abseitsstehenden Länder sich jedoch verpflichtet, die Sanktionen nicht aktiv zu umgehen. Das gilt für die Zentralasiaten (auch für Armenien) in besonderem Masse, weil sie relativ nahe bei Russland liegen und bilateraler Handel daher logistisch einfach ist. Offen gelegt werden die Details nicht, aber die Handelszahlen sprechen Bände: Nach Kasachstan sind die Exporte nur schon aus der Schweiz (für die Europäische Union ergeben sich ähnliche Zahlen) seit Februar 2022 um 39 Prozent gestiegen, nach Usbekistan um 24 Prozent, nach Georgien um 60 und nach Armenien um satte 170 Prozent.
Dass auch nur eines dieser Länder plötzlich so viel mehr Gebrauchsartikel mit elektronischen Bestandteilen benötigen würde, widerspricht jeglicher Logik. Fachleute in allen westlichen Ländern gehen daher davon aus, dass die exportierte Ware regelmässig «kannibalisiert» wird, das heisst, dass Bestandteile, die beispielsweise auch für Drohnen im Krieg Russlands gegen die Ukraine verwendet werden können, ausgebaut werden und schliesslich auf dem russischen Waffenmarkt landen. Solche Umwege erklären möglicherweise, dass in russischen Drohnenteilen, die in der Ukraine gefunden wurden, Bestandteile mit Ursprung in einem EU-Land oder auch der Schweiz gefunden wurden.
Höchste Zeit also, diese Schlussfolgerung zog man im Westen, die führenden Politiker der Region Zentralasiens einmal direkt zu befragen. Resultat: Für Dienstag und Mittwoch ist ein Treffen von Spitzenpolitikern der fünf Länder in Washington geplant. Und noch vor dem Ende des Monats September soll eine ähnliche Zusammenkunft beim deutschen Bundeskanzler in Berlin stattfinden. Die fünf trafen sich übrigens vor wenigen Tagen in ihrem eigenen Kreis, in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, zu einem Gipfel. Ob und allenfalls wieweit er zu einer Abstimmung für das Hammer-und-Amboss-Problem von relativer Harmonie mit Moskau und ebenso mit dem Westen geführt hat, geht aus den veröffentlichten Texten nicht hervor.
Westliche Defizite im Umgang mit Zentralasien
Fakt ist: Europa und die USA wollten bisher die Bedeutung des riesigen Raums Zentralasien nicht richtig zur Kenntnis nehmen. Seit den neunziger Jahren (also seit der Zeit der Loslösung dieser fünf Länder aus der Sowjetunion) gibt es mit diesen Ländern, am intensivsten mit Kasachstan und Usbekistan, etwas Handel und wirtschaftliche Kooperation, und daneben auch Entwicklungshilfe. In der Schweiz rangierten die Länder jahrzehntelang unter dem Sammelbegriff «Helvetistan» und waren für einige Jahre sogar Schwerpunkte dessen, was man bei uns gerne «Hilfe zur Selbsthilfe» nennt. Für Kirgistan und Tadschikistan gibt es noch immer Unterstützungsprogramme, für Usbekistan sind die meisten ausgelaufen, Kasachstan und Turkmenistan anderseits sind, aus der Perspektive europäischer Institutionen, wirtschaftlich weitgehend konsolidiert.
Ein ganzheitlicher Umgang mit den fünf zentralasiatischen Ländern (Landfläche zusammen fast vier Millionen Quardratkilometer, Einwohner aber nur etwa 52 Millionen) ist nicht möglich. Es gibt sowohl gemeinsame Nenner wie Differenzen: Tadschikistan und Kasachstan (und ausserhalb Zentralasiens im Kaukasus: Armenien) sind mit Moskau durch das Polit-Instrument der Eurasischen Wirtschaftsunion verbunden. Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan sind Mitglieder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit – und pflegen daher auch eine enge Zusammenarbeit mit China. Völlig draussen, weil neutral, ist einzig Turkmenistan. Doch dessen Neutralität muss als pro-russische Strategie verstanden werden, auch wenn das Regime seine Neutralität mit grossen Monumenten in der Hauptstadt Aschgabat zelebriert.
Zentralasien ist reich an Rohstoffen, Kasachstan und Turkmenistan besonders an Erdöl und Erdgas. Grund genug dafür, dass die allesamt (in unterschiedlichem Masse) autoritären Regimes vom Westen wie auch von China und Russland umworben werden. China möchte effiziente Verkehrswege durch die ganze Region bauen, Russland möchte alle fünf politisch an sich binden – muss dann allerdings bisweilen feststellen, dass einzelne zentralasiatische Herrscher widerspenstiger sind als erwartet. Der kasachische Präsident Tokajew erdreistete sich, Wladimir Putin bei einem Treffen in Russland demonstrativ warten zu lassen – und ermahnte Putin auch offen, den Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Allerdings blieb es dann bei diesen Nadelstichen. Generell verfolgt Kasachstan eine Linie, die dafür sorgen soll, Moskau nicht zu verärgern. Und so verhalten sich generell auch die Herrscher der anderen Länder des riesigen Zentralasiens.
Die US-Regierung wird es beim bevorstehenden Zentralasien-Gipfel in Washington ebenso schwer haben wie die deutsche Regierung beim geplanten Treffen in Berlin, wenn sie die Herrscher Zentralasiens auch nur um einen Zentimeter näher an die westliche Position zu Russlands Ukraine-Krieg bringen wollen. Das Problem ist: Der Westen kann diesen Ländern nichts Substantielles anbieten, er kann nur fordern. Im konkreten Fall Solidarität. Das ist kein Deal – und so bleibt zu erwarten, dass die beiden Treffen ohne Resultat enden und dass die interne Diskussion um die Frage, wie der Westen die Sanktionen gegen Russland wirksamer machen könne, weiter gehen wird. – Eine Diskussion, die (man denke an das von Bundesrat Parmelin eben geäusserte Nein zu einem Beitritt zur so genannten Oligarchen-Taskforce) auch die Schweiz weiter und wohl intensiver als bisher beschäftigen und sie international verstärkt unter Druck setzen wird.