Eine Sommermusik der besonderen Art muss man dieses Werk nennen. Soviel Süden ist in einer Komposition selten dabei. Eine so überbordende Sinnenfreude in orchestralem Gewand kaum je zu hören.
Der mythologische Ursprung der Geschichte dieser zwei Findelkinder geht auf den spätantiken Schriftsteller Longos zurück, der gegen Ende des 2. Jahrhunderts eine Art Liebesgeschichte über diese beiden Findelkinder schrieb. Schauplatz des Romans ist die Landschaft um Mytilene auf der Insel Lesbos.
Ich erzähle hier die Einzelheiten des Liebesromans nicht nach, denn uns interessiert hier nur dessen Wirkungsgeschichte in der Musik von Maurice Ravel. Er schrieb diese Ballettmusik 1912, die man heute weniger auf Bühnen erlebt, sondern ganz oder teilweise als reines Orchesterwerk. Wird sie ganz gespielt und nicht nur in Teilen (Suiten aus dem Werk), handelt es sich um Ravels umfangreichste Komposition (Dauer ca. 1 Stunde).
Das von Ravel erstellte Inhaltsverzeichnis führt in den drei Teilen des Werkes eine Vielfalt von Tanztypen vor. Im 1. Teil hören wir nach einer Einleitung zunächst einen religiösen Tanz, dann «une danse générale», darauf einen grotesken Tanz, gefolgt von einem leichten und graziösen Tanz von Daphne. Es folgt eine Piratenszene, in welcher die beiden Findelkinder entführt werden. Den Abschluss des 1. Teils bildet ein geheimnisvoller Tanz der Nymphen.
Der kürzere 2. Teil beginnt mit einem Kriegstanz. Gefolgt von einem bittenden Tanz von Chloé, wohl um Freilassung aus der Hand der Piraten. Den Abschluss dieses Teils bezeichnet Ravel mit folgender Angabe: Auf einmal verändert sich die Atmosphäre, sie ist geladen von unvertrauten Elementen.
Am beliebtesten ist heute die Musik des 3. Teils. Sie beginnt mit einem «Lever du jour», einem Tagesanbruch, in dem die Soloflöte des Orchesters eine besondere Rolle spielt. Keine grossen Flötisten oder Flötistinnen der Welt haben mit diesem Stück nicht ihre Kunst und Virtuosität zu Gehör bringen wollen.
Darauf folgt eine Pantomime, in der die beiden Protagonisten eine Parodie auf Pan und Syrinx tanzen. Auch Liebespaare brauchen Vorbilder! Darauf fallen sich die beiden in die Arme. Das Stück endet mit einer »danse générale».
Von diesem Werk gibt es sehr viele schöne Aufnahmen. Jedes grosse Orchester und jeder bedeutende Dirigent wollen einmal damit glänzen. Zu meinen Lieblingsaufnahmen aus jüngerer Zeit gehört die des Dirigenten François-Xavier Roth mit dem Orchester Les Siècles und dem Chorensemble Aedes.