Der ehemalige Staatsrechtsprofessor und Politiker René Rhinow legt ein fulminantes Buch vor, wo und wie die Schweiz sich verändern muss zur Behauptung im gegenwärtigen und zukünftigen Umfeld.
Das «Plädoyer für eine offene Schweiz» (Verlag Hier und Jetzt, September 2025) besteht eigentlich aus drei verschiedenen Büchern und umfasst trotzdem, barmherzigerweise für den eiligen Leser von heute, lediglich 133 Textseiten. Im ersten Teil unterhält sich Rhinow mit der Zürcher Unternehmerin Nadine Jürgensen und dem Publizisten sowie dem ehemaligen SRG-Generaldirektor Roger de Weck über die gegenwärtige Staatskrise unseres Landes. Im zweiten Teil plädiert er für eine andere schweizerische Neutralität, von der heute noch offiziellen, «dauernden» oder gar «permanenten», hin zu einer «situativen» Neutralität. Also eine Aussenpolitik nach Massgabe einer international gegebenen Situation, nicht umgekehrt, wo die schweizerische Praxis nach wie vor von einem starren Schema einer überholten klassischen Neutralität ausgeht. Schliesslich nimmt er mit «Das ewige Unbehagen, Beiträge zur schweizerischen Politik» das «Helvetische Malaise» seines prominenten Vorgängers an der Uni Basel, Max Imboden, wieder auf.
Staatskrise
Rhinow sieht das Staatsschiff Schweiz, 1848 für ein Binnengewässer konstruiert, nun auf hoher See schlingernd, was seine Crew nicht wahrnehmen wolle. Es frappiert, wie kritisch der langjährige Ständerat den Bundesrat von heute, aber ebenso die vielgepriesene «Führung durch das Volk» via direkte Demokratie sieht. Zusammengefasst diagnostiziert er eine dem Zeitgeist und dem Stammtisch folgende Politik anstelle einer klaren Strategievorgabe durch das Parlament und einer Führungsrolle des Parlamentes, dem Herzen der Demokratie.
Jürgensen wirft ihren kritischen Blick schwergewichtig auf die Medien, heute auf der notorischen Jagd nach dem «clickbait», also der an der Oberfläche wirklicher Probleme bleibenden Suche nach schneller Gunst der Leserschaft. Zudem werde journalistische Selbstzensur ausgeübt: «Man schreibt über die Schere im Kopf.»
Hier trifft Jürgensen tatsächlich einen in der Schweiz momentan speziell heiklen Punkt. Sei es zur Anbiederung an nationalkonservative Kreise wie die NZZ aktuell, sei es durch die Aufblähung von Einzelschicksalen und banalen Lebensweisheiten wie in den TA Medien, hat die Vermittlung der wirklich wichtigen News und ihre objektive Analyse beträchtlich nachgelassen. Wie das die besserwisserische Darstellung deutscher Politik, verbunden mit permanenter Kritik an der von der CDU geführten Regierung in der NZZ und eine weitgehende Ausdünnung des Netzes von eigenen Auslandskorrespondenten der TA-Medien zeigt.
Während «die drei Milliardäre der Zuger Partners Gruppe (…) die Schweiz in ein alpines Singapur, mit allen denkbaren Potentaten und Demokraten auf der Welt ins Geschäft kommend» verwandeln wollen, würde von Europafreunden zu wenig Überzeugungsarbeit geleistet, meint de Weck. Er beklagt die Nichtteilnahme Helvetiens am wichtigsten Vorhaben Europas, dem «allmählichen Aufbau einer europäischen Eidgenossenschaft». Er sieht schweizerische Lebenslügen im Milizsystem, ausgerichtet auf ein Männerparlament mit zu Hause kochenden Frauen sowie im Wirtschaftsliberalismus – nicht Leistung, sondern Erbschaft begründet Reichtum in der heutigen Schweiz.
Rhinow fasst die Diskussion zusammen: «Ich würde schon von Krise sprechen.» Er sieht ein Gegeneinander von Bürger und Staat, nicht mehr eine Identifikation des Einzelnen mit seinem Staatswesen.
Neutralität
Im zweiten Teil geht Rhinow davon aus, dass der Ukrainekrieg eine willkommene Gelegenheit darstellt, sowohl das offiziell geltende Neutralitätsdogma als auch die daraus ausfliessende gegenwärtige Politik des Bundesrates zu hinterfragen. Mit Blick auf eine seiner parlamentarischen Spezialitäten, die Sicherheitspolitik stellt er fest, was heute alle seriösen Experten kategorisch festhalten: Die Schweiz kann sich ohne resolute Verstärkung einer Kooperation mit der Nato und den inzwischen zahlreichen sicherheitspolitischen Initiativen der EU nicht selbst verteidigen.
In diesem aktuellen Zusammenhang ist zu fragen, warum der Bundesrat nicht schon längst ein offizielles Interesse an der Teilnahme der sog. «Koalition der Willigen» der westlichen Demokratien angemeldet hat. Diese soll trotz des Trumpschen Schwanzeinziehens der USA vor Putin sicherstellen, dass die Ukraine nicht von russischer Aggression überrollt wird. Dies in Form von friedenserhaltenden Truppen, die in der Ukraine eingesetzt würden, oder zumindest deutsche Truppen im Kosovo ersetzen, die in die Ukraine wechseln.
Von speziellem Interesse sind in diesem Teil Rhinows Feststellungen zum Dreiecksverhältnis aller Neutralität: zwei Konfliktseiten, im Ukrainekrieg Putins Russland einerseits sowie andererseits die Ukraine und Europa, müssen sich über die Nützlichkeit eines Neutralen einig sein. Dies ist mit Blick auf Putins Aggression und Völkermord in der Ukraine klar nicht der Fall. Unsere europäischen Partnerstaaten, so Rhinow, «stehen der Neutralität mit der Ausnahme Österreichs kritisch gegenüber (…) Sie wünschen sich (…) mehr (schweizerisches) Engagement und Solidarität».
Helvetisches Malaise 2.0
Im dritten Teil seziert Rhinow das andauernde «Helvetische Malaise», indem er Grundsatzfragen zum schweizerischen Selbstverständnis aufwirft: Ist die Schweiz heute noch eine Eidgenossenschaft? Die alarmierende Feststellung: Der wachsende Hang zum Autoritären. Und die Entgegnung darauf: Demokratie als kulturelle Eigenschaft. Weiter: Konkordanz vs. Mehrheitsdemokratie. Schliesslich: Die Schweiz – ein Igel? Und auch hier die Antwort darauf: Wir brauchen die Europäische Union.
Zum Schluss sind einige Medienartikel von Rhinow aus den 90er- und Nullerjahren wiedergegeben. Sowie ein Artikel vom Herbst 2023 im Journal 21, Kultur und Gemeinsinn als Schlüssel zur Zukunft. Sie zeigen das Einstehen des Autors für eine offene Schweiz und die dazu notwendigen politischen Weichenstellungen.
Man wünschte sich mehr Persönlichkeiten im heutigen Parlament, wie den freisinnigen Ständerat René Rhinow, der Baselland 1987–99 im Stöckli vertreten hat.