Ja, es stimmt, ein greifbares Resultat ist von der diplomatischen Tanzveranstaltung von Anchorage und Washington DC bisher nicht zu erkennen. Doch die Präsenz und Geschlossenheit, mit der die sieben europäischen Vertreter dem ukrainischen Präsidenten im Weissen Haus Flankenschutz geboten haben, verdienen Respekt. Diese Solidaritätsdemonstration reduziert das Risiko eines Diktatfriedens von Putins und Trumps Gnaden.
Noch ist Polen nicht verloren – so lauten die ersten Worte der polnischen Nationalhymne, die zum geflügelten Wort geworden sind. Polen war als Staat im 18. Jahrhundert durch Aufteilungen unter seinen imperialen Nachbarn Preussen, Russland und Österreich untergegangen – und erst nach dem Ersten Weltkrieg wieder als Nationalstaat auferstanden. Ein zäher Kern polnischer Patrioten hatte den Glauben an ein freies Heimatland nie verloren.
Europas Flankenschutz für Kiew
Die Nachbarländer Polen und Ukraine verbindet heute wohl mehr als je zuvor in ihrer bewegten – und keineswegs immer friedlichen – Geschichte. Beide waren zu Sowjetzeiten Satellitenländer des Kremlimperiums. Das heute prosperierende Nato- und EU-Mitglied Polen zählt zu den entschlossensten und hilfreichsten Unterstützern der vom Putin-Regime überfallenen Ukraine. Das gilt, obwohl der polnische Regierungschef Tusk bei diesem Ukraine-Treffen in Washington offenbar wegen innenpolitischer Querelen nicht mit von der Partie war. Gewiss lassen sich Millionen von kämpfenden oder in die europäische Nachbarschaft geflohenen Ukrainern immer noch von den berühmten Anfangsworten des polnischen Nationalliedes inspirieren.
Bei aller Skepsis und allem begründeten Misstrauen gegen die von Trump mit pompöser Gestik und noch mehr Eigenlob inszenierte Verhandlungsshow mit dem Kriegsherrn Putin in Alaska und dem anschliessenden Empfang des ukrainischen Präsidenten Selenskyj und seinen europäischen Verbündeten im Weissen Haus lässt sich mit einiger Überzeugung weiterhin sagen: Noch ist die Ukraine nicht verloren.
Ohe diesen europäischen Flankenschutz wäre der unberechenbare Trump mit seinem ukrainischen Gast Selenskyj wahrscheinlich weniger jovial und gnädig umgesprungen, als dies am Montag im Weissen Haus der Fall war. Man braucht sich nur an die unwürdige Abkanzelung des ukrainischen Präsidenten zu erinnern, als dieser im Februar ohne ausländische Begleitung im Oval Office empfangen wurde. Die prominente Präsenz der Europäer bei dieser jüngsten Diskussion zum Ukraine-Krieg geht auch nicht auf eine ursprüngliche Idee Trumps zurück. Sie ist in erster Linie der diplomatischen Insistenz der von Macron, Starmer und Merz angeführten «Koalition der Willigen» zu verdanken. Die politische und psychologische Bedeutung dieser diplomatischen Schützenhilfe für den Durchhaltewillen und das Selbstvertrauen der von Putins mörderischem Krieg schwer geprüften ukrainischen Bevölkerung dürfte kaum zu überschätzen sein.
«Putins Pudel»? – Ein Risiko für Trump
Trump kann man zwar bei allen Vorbehalten über sein schwankendes und anbiederndes Verhalten gegenüber dem Kriegstreiber im Kreml zugutehalten, dass er die diplomatischen Bemühungen über eine Beendigung des Ukraine-Krieges wieder in Gang gebracht hat. Doch man wagt sich kaum auszudenken, auf welche «Deals» er sich mit Putin eingelassen hätte, wenn ihm nicht bewusst gewesen wäre, dass er nach dem Treffen in Anchorage nicht allein den ukrainischen Präsidenten, sondern auch die wichtigsten europäischen Bündnispartner über das Ergebnis seines Austausches mit dem Kremlchef informieren musste. Denkbar ist sogar, dass die Europäer Trump durch ihre Einbeziehung in diesen Verhandlungsprozess vor möglichen voreiligen Konzessionen an den Moskauer Machthaber bewahrt haben, die ihm zumindest in Teilen der eigenen Öffentlichkeit den Vorwurf eingebracht hätten, sich wie «Putins Pudel» aufzuführen.
Den von ihm grossspurig als Hauptziel seines Alaska-Treffens mit Putin in Aussicht gestellten Waffenstillstand im Ukraine-Krieg hat Trump zwar nicht erreicht. Nun geht es darum, welche Art von Sicherheitsgarantien die westlichen Verbündeten der Ukraine für den Fall von direkten Friedensverhandlungen zwischen Kiew und Moskau vorschlagen könnten. Weil der Kreml eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato kategorisch als unakzeptabel zurückweist und Trump dies anerkennt, wird nun über eventuelle europäische Sicherheitsgarantien ausserhalb des Nato-Rahmens diskutiert. Einige europäische Länder sind grundsätzlich bereit, eingeschränkte Kontingente von Sicherheitstruppen als «Stolperdraht» gegen mögliche weitere russische Angriffsabsichten nach einem Friedensschluss in der Ukraine zu stationieren. Trump erklärt, dass US-Bodentruppen für eine solche Mission nicht in Frage kämen, denkbar seien aber Einsätze zur Luftunterstützung und zum Austausch von Geheimdienstinformationen.
Putins Ziel und Europas Einsatz
Der russische Aussenminister Lawrow wiederum insistiert, dass westliche Sicherheitsgarantien für die Ukraine nur in Frage kämen, wenn Moskau an deren Definition und möglicher Inkraftsetzung mitbeteiligt sei. Nachdem das Putin-Regime inzwischen sämtliche früheren Verträge mit der Ukraine gebrochen hat, inklusive die völkerrechtliche Anerkennung von deren Grenzen, ist schwer vorstellbar, wie es bei diesem Kapitel zu einem vertrauenswürdigen Kompromiss kommen könnte. Dennoch sind Kompromisse denkbar, die für beide Seiten annehmbar wären. Dazu zählen auch temporäre Gebietsverzichte, deren rechtliche Fixierung in der Schwebe bleibt. Im geteilten Nachkriegsdeutschland sind solche Lösungen dank Nato-Zusammenhalt und zähen Verhandlungen zustande gekommen.
Ungeachtet aller Unsicherheiten und Widersprüche bleibt es defaitistisch und moralisch verwerflich, die Ukraine als eigenständigen Staat abzuschreiben – und den russischen Aggressor zum Sieger auszurufen, wie das zynische Putin-Schwärmer und EU-Verächter auch im Westen schon seit Monaten mit unverhohlener Häme verkünden. Der Kriegsherr im Kreml wird von seinem imperialen Ziel, die ehemalige Sowjetrepublik Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen, nur abrücken, wenn er einsehen muss, dass er dieses Ziel militärisch nicht durchsetzen kann.
Die Zukunft ist immer ungewiss. Das gilt nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Putin. Solange der harte Kern der europäischen Führung entschlossen bleibt, der heroisch kämpfenden ukrainischen Mehrheit mit hohem diplomatischem Einsatz, eigener militärischer Abschreckung und grosszügiger Waffenhilfe zur Seite zu stehen, und solange es ihr gelingt, den wetterwendischen Herrn im Weissen Haus wenigstens halbwegs bei der Stange zu halten, existiert die Chance auf eine selbstbestimmte ukrainische Zukunft.