Allem Bedauern und Entsetzen zum Trotz wird auch der jüngste Amoklauf in Amerika zu keiner Verschärfung der Waffengesetze führen. Konservative Politik, deren Gefolgschaft sowie deren Medien und eine starke Waffenlobby werden das zu verhindern wissen – unter Verweis auf die Verfassung, die als Garantin der Freiheit den Besitz und das Tragen von Waffen erlaubt.
Der Amoklauf an einer Schule eignet sich nur schlecht als Sujet für eine Karikatur. Ben Jennings vom Londoner «Guardian» hat es trotzdem versucht und es ist ihm gelungen. Seine Zeichnung zeigt einen amerikanischen Waffenladen, flankiert vom Sternenbanner, der «Schusswaffen, Munition und Freiheit» anpreist. Im Fenster hängt eine Stoffblache: «Schulbeginn, AUSVERKAUF».
Amokläufe wie jener jüngst in einer katholischen Kirche in Minneapolis, wo der 23-jährige Täter während einer Messe zwei Schulkinder mit einem legal gekauften Gewehr erschoss und 17 weitere Personen verletzte, erregen in Amerika zwar noch für kurze Zeit Aufmerksamkeit, aber nicht mehr. Zu sehr sind Amokläufe an Schulen oder anderswo traurige Routine geworden – nach ähnlichen Vorkommnissen 1999 in Columbine (Colorado), 2012 in Newton (Connecticut), 2018 in Parkland (Florida), 2022 in Uvalde (Texas) oder im April an der Florida State University in Tallahassee.
Und immer wird in der Öffentlichkeit der Ruf nach strikterer Waffengesetzgebung laut, den umzusetzen die Politik sich aber scheut – unter Hinweis auf das «Second Amendment» von 1791, das den Besitz und das öffentliche Tragen von Waffen erlaubt. Die konservative Denkfabrik «Heritage Foundation», die mit ihrem «Project 2025» die Vorgabe für Donald Trumps Regierungspolitik geliefert hat, definiert den Zweiten Verfassungszusatz wie folgt: «Das Recht, Waffen zu besitzen und zu tragen, beruht auf Selbstverteidigung. Ein bewaffnetes Bürgertum sichert einen Zustand der Freiheit, indem es die Nation und die Bevölkerung von drei ganz bestimmten Bedrohungen schützt: Tyrannei, fremde Invasion und Gefahren wie Verbrechen oder öffentliche Unruhen.» Ob das auch gelten würde, wenn sich Bewohnerinnen und Bewohner Washington DCs mit Waffengewalt gegen die Besetzung ihrer Stadt durch nationale Truppen wehrten, ist eine andere Frage.
Egal auf jeden Fall, dass es 1791 noch keine Schnellfeuergewehre oder keine Hochgeschwindigkeitsmunition gab und es heute zum Jagen kein Sturmgewehr braucht. Doch auch das Attentat auf Präsident Donald Trump im vergangenen Jahr war nicht Anlass genug, Amerikas laxe Waffengesetze zu überdenken und schon nicht gar jener Vorfall im Juni in den Twin Cities (Minnesota), als ein maskierter Täter einen demokratischen Politiker und dessen Frau zu Hause erschoss und einen Parteikollegen und dessen Gattin schwer verwundete. Zu stark ist nach wie vor der Einfluss der National Rifle Association (NRA), die mit ihren Spenden und Wahlempfehlungen über politische Karrieren entscheiden kann.
Und wie stets in den USA nach Amokläufen meldete sich die Politik zwar zu Wort, ohne aber konkrete Vorstellungen zu entwickeln. «Wir brauchen landesweit bessere Gesetze, um Angriffswaffen zu verbieten und die Sicherheit an Schulen zu verbessern», sagte etwa Minnesotas demokratische Senatorin Amy Klobuchar nach dem Amoklauf in der Annunciation Church.
Derweil verwahrte sich Jacob Frey, Bürgermeister von Minneapolis, bereits deutlicher dagegen, den Betroffenen wie üblich «Gedanken und Gebete» zukommen zu lassen: «Es war die erste Schulwoche. Diese Kinder waren in einer Kirche. Das sind Kinder, die mit ihren Freundinnen und Freunden lernen sollten. Sie sollten auf dem Spielplatz sein. Sie sollten zur Schule oder in die Kirche gehen können ohne Furcht oder ohne Gefahr von Gewalt.»
Gebete seien keinesfalls genug, twitterte auch Jen Psaki, unter Joe Biden Pressesprecherin im Weissen Haus und heute Moderatorin des liberalen Fernsehsenders MSNBC: «Gebete stoppen Amokläufe an Schulen nicht. Gebete können Eltern nicht in Sicherheit wiegen, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Gebete bringen diese Kinder nicht zurück.»
Schon gar nicht hindern Schusswaffenmassaker einzelne Kreise daran, sie jeweils politisch zu instrumentalisieren, wie das Vertreter des MAGA-Lagers gerne tun. Sie warfen zum Bespiel Bürgermeister Fray vor, mit seinen Bemerkungen über das rituelle Senden von Gebeten «Christen zu diffamieren» und machten sich über den Demokraten lächerlich, weil er 2020 in Minneapolis vor dem Sarg des Schwarzen George Floyd, den ein Polizist ermordet hatte, kniete und betete.
Das konservative Netzwerk «Breitbart» ereiferte sich über den Umstand, dass der Täter in Minneapolis eine trans Person war und nährte das in rechtsextremen Medien beliebte Narrativ, wonach Personen dieses Genders prinzipiell gefährlich seien. «Breitbart» berichtete empört, dass «die linke New York Times» den Täter als «sie» bezeichnet habe, während es sich in Wirklichkeit um einen Mann handle, der einen Frauennamen angenommen habe. Schrieb dazu ein User in den sozialen Medien: «Amerika wäre echt in Schwierigkeiten, wenn wir so blöd waren, wie die Mainstream-Medien uns sehen.»
Aus dem Weissen Haus meldete sich First Lady Melania Trump in den sozialen Medien zu Wort. Sie sprach allerdings nicht über die Notwendigkeit, die Waffengesetze des Landes zu verschärfen, sondern über das Gebot, verhaltensbezogene «Warnzeichen» besser zu erkennen, um Amokläufe zu verhindern: «Häufig gibt es frühe Warnzeichen seitens von Personen, die sich Besorgnis erregend verhalten und online gewalttägige Drohungen aussprechen, bevor sie handeln.»
Eine abweichende Stimme aus dem republikanischen Lager meldete sich ausgerechnet auf dem konservativen Fernsehsender «Fox News» zu Wort. Es war der frühere Abgeordnete Trey Gowdy (South Carolina), der ein entschiedener Gegner schärferer Waffengesetze gewesen war, als er noch im Kongress sass. Er widersprach einer Moderatorin, die meinte, es gebe bereits genügend Gesetze, um die Leute vor Waffengewalt zu schützen.
«Wir werden eine Diskussion führen müssen, in der es um Freiheit gegen den Schutz von Kindern geht», sagte Gowdy: «Ich meine, wie viele Schulmassaker braucht es noch, bevor wir darüber sprechen, wie wir Schusswaffen in den Griff kriegen?» Und er fragte, was es über die Kultur Amerikas sage, wenn Leute, wo immer sie hingingen, Polizisten brauchten, um am Leben zu bleiben.»
Zwar gibt es bereits in über 20 Bundesstatten der USA sogenannte «red flag laws», die es Familienangehörigen und der Polizei erlauben, dafür zu plädieren, dass jemandem, der eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellt, Schusswaffen abgenommen werden. Doch diese Gesetze erfordern Experten zufolge einen hohen Grad von Aufmerksamkeit und auch Umsetzung.
Allein jedoch genügen sie bei weitem nicht. So würden wohl auch Überprüfungen des Leumunds, Waffenscheine und längere Wartezeiten bis zum Waffenerwerb besser helfen, Gewaltakte und Selbstmorde zu verhindern. Massachusetts zum Bespiel fordert einen Waffenschein, was mit ein Grund sein dürfte, dass der Staat die niederste Zahl von Todesfällen durch Schusswaffen aufweist.
In Amerika mit seiner Bevölkerung von rund 330 Millionen gibt es heute mehr Waffen als Menschen, was mehr Schusswaffentote zur Folge hat. Zwischen 1998 und 2023 hat es im Land 126 Fälle gegeben, in denen mindestens vier oder mehr Menschen erschossen wurden – fünfmal so viele Fälle wie in Grossbritannien, Kanada, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen. Das Missverhältnis trifft nicht nur auf Amokläufe zu. Die Mordrate zum Beispiel ist in den USA 450-mal höher als im Vereinigten Königreich. Trotzdem geschieht nichts. Sowie nach dem 14. Dezember 2012 nichts geschehen ist, als der 20-jährige Adam Lanza in der Sandy Hook Elementary School in Newton (Connecticut) innert weniger als fünf Minuten 20 Kinder im Alter zwischen sechs und sieben Jahren sowie sechs Erwachsene erschoss. Die Tatwaffe, ein halbautomatisches Gewehr der Marke «Bushmaster XM15-E2S», hatte ihm seine 52-jährige Mutter Nancy gekauft, die er vor dem Beginn des Amoklaufs mit vier Schüssen zum Kopf zu Hause in ihrem Bett ebenfalls erschossen hatte. Adam Lanza beging mit einer Pistole Selbstmord.
«Wenn Eltern in Minneapolis heute Nacht untröstlich sind», schreibt Jessica Winters im Newsletter des «New Yorker» am 27. August, dem Tag des Massakers: «Wenn Eltern überall im Land Angst haben, die Schule ihrer Kinder könnte die nächste sein – und es wird ein nächstes Mal geben und danach wieder ein nächstes Mal –, dann heisst es, dass unsere Nation den Wünschen unserer derzeitigen Führer gehorcht. Sie haben es niedergeschrieben. Auf diese Art wissen wir, dass wir wirklich frei sind.» Dass Amerika, wie es der Heritage Foundation dank des «Second Amendment» und des «Project 25» vorschwebt, «eine wirklich freie Gesellschaft» sein kann» – frei zu töten und getötet zu werden.