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Iran

Nach dem Angriff auf Evin: Bericht eines Verbrechens

8. Juli 2025
Reza Khandan
Reza Khandan (PD)

Am 24. Juni 2025 wurde das berüchtigte Evin-Gefängnis in Teheran Ziel israelischer Luftangriffe. Trotz vorheriger Warnungen verweigerte der iranische Staat jeglichen Schutz für die Insassen. 

In diesem Bericht aus dem Inneren der Haftanstalt schildert Reza Khandan, Ehemann der Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, wie das Regime den Angriff nicht nur billigend in Kauf nahm – sondern die Überlebenden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion gewaltsam verlegte.

Khandan befindet sich seit Dezember 2024 erneut in Haft – wegen seines Engagements gegen die staatlich verordnete Hijab-Pflicht.

Von Reza Khandan – Teheran, 7. Juli 2025

Kurz nach Beginn des Krieges übergab mir meine Frau ein juristisches Dokument: eine Verordnung des Obersten Justizrats von 1986. Sie verpflichtet den Staat dazu, alle Gefangenen in Kriegsgebieten umgehend zu entlassen.

Am folgenden Tag richtete ich ein entsprechendes Schreiben an den Justizchef. Auch andere Mitgefangene reichten formelle Anträge ein – gestützt auf dieselbe Resolution. Wir betonten die akute Gefährdungslage: Ein Luftangriff auf Evin würde nicht nur Gebäude zerstören, sondern auch lebenswichtige Infrastruktur – Wasser, Strom, Gas – lahmlegen. Der Austritt toxischer Gase und Brände wären kaum kontrollierbar.

Zwei Tage später fand ein Treffen mit der Gefängnisleitung, Vertretern der Staatsanwaltschaft und hochrangigen Beamten statt. Doch unsere Warnungen blieben ungehört.

Am 24. Juni geschah, was wir befürchtet hatten: Evin wurde bombardiert. Inhaftierte starben – sie hatten sich zum Zeitpunkt des Angriffs im Hof oder in Verwaltungsbereichen aufgehalten. Die Verantwortung für die Todesopfer liegt bei den Behörden, die trotz klarer rechtlicher Vorgaben und eindeutiger Hinweise nicht handelten.

«Die Nacht der Ketten»

In der Nacht nach dem Angriff wurde uns plötzlich mitgeteilt, dass alle Insassen verlegt würden – ins Grossgefängnis Teheran-Bozorg. In manchen Trakten wurde nicht einmal der Zielort genannt. 

Über Jahre hatten wir mühsam Habseligkeiten zusammengesammelt – das Ergebnis unzähliger Opfer durch unsere Familien. Der materielle Wert dieser Gegenstände belief sich auf Milliarden Toman. Dennoch zwang man uns, das Gefängnis überhastet zu verlassen.

Gegen Mitternacht erschienen Evin-Direktor Farzadi und der Chef der Gefängnisverwaltung Teherans, Hayat Al-Gheyb, mit bewaffneten Beamten. Mit Gewehren auf uns gerichtet, forderten sie uns auf, uns paarweise mit Handschellen und Fussketten fesseln zu lassen.

Verletzte wurden nicht behandelt, niemand ins Krankenhaus gebracht. Stattdessen mussten wir, aneinander gekettet, Taschen und Pakete schleppen – mit nur einer freien Hand. Kühlschränke, Vorräte, Kochgeschirr: zurückgelassen unter den Trümmern von Evin.

Flucht in Ketten

Gegen 3 Uhr morgens erreichten wir die Busse. Eine Tasche musste ich unterwegs zurücklassen – sie war mit einer Hand nicht zu tragen. Die Behörden hatten es versäumt, Wasser oder Medikamente bereitzustellen, aber es offenbar in Rekordzeit geschafft, Tausende Fesseln und Unterdrückungsinstrumente zu beschaffen.

Die Gefängnistrakte 7 und 8 lagen noch in Sichtweite, als plötzlich Flugabwehrkanonen zu feuern begannen. Panik brach aus. Gefesselt, wie wir waren, war Flucht oder Deckung unmöglich.

Neben meinen eigenen Sachen trug ich die Taschen meines Zellennachbarn und unserer Gemeinschaft. Als ich die dritte Tasche verlor, schleppte ich nur noch zwei – während ich mit Händen und Füssen an einen Mitgefangenen gekettet war. Jeder Schritt war eine Tortur.

Durch Müll und Verachtung

Unser Bus erlitt eine Panne – wir wurden über die Müllhalde des Gefängnisses umgeleitet. Inmitten von Abfall und Gestank mussten wir umsteigen. Eine Stunde lang standen wir dort – im Müll, erschöpft, stumm.

Gegen 4 Uhr morgens setzte sich der Konvoi in Richtung Teheran-Bozorg in Bewegung. Als wir das zerstörte Haupttor von Evin passierten, sagte ich zu meinem Zellengenossen Reza Valizadeh: «Ich glaube, Evin ist Geschichte. Die Geier kreisen schon – um dieses wertvolle Stück Land an den Nordhängen Teherans.»

Ein Gefängnis, das über Jahrzehnte zum Symbol staatlicher Grausamkeit wurde – nun selbst Opfer der Gewalt.

Menschen als Schutzschilde 

Die Verantwortlichen, die uns inmitten eines Luftkriegs ungeschützt durch die Nacht verschleppten, haben ein Kriegsverbrechen begangen. Wir fürchteten, unsere Busse könnten für Militärtransporter gehalten und angegriffen werden. Die Angst war allgegenwärtig.

Es war drei Uhr morgens. Der Himmel über Teheran war schwarz, nur unterbrochen von explodierendem Flugabwehrfeuer. Die Gefangenenkolonne stand regungslos da, gefesselt, bepackt, gedemütigt. Bewaffnete Beamte beschimpften uns, drohten, kamen zurück, begannen von vorn. Die Szenerie erinnerte an Bilder aus Zwangslagern des 20. Jahrhunderts.

Wir waren verletzt, traumatisiert, durstig – aber niemand leistete Hilfe. Unsere Menschenwürde wurde mit Füssen getreten.

Der Marsch in die nächste Hölle

Um zwei Uhr nachts warteten wir vor Trakt 8, gefesselt. Um acht Uhr morgens kamen wir in Teheran-Bozorg an – sechs Stunden für eine Strecke, die normalerweise eine braucht. Wir waren 24 Stunden ohne Schlaf, neun Stunden ohne Wasser.

Die Zustände im neuen Gefängnis: chaotisch, überfüllt, unhygienisch. Die Räume verseucht mit Läusen, Fliegen, Ungeziefer. Schlaf war unmöglich. Das Trinkwasser: brackig, übelriechend. In der Kantine: kaum Wasserflaschen – trotz brütender Sommerhitze. Die Wut unter den Häftlingen wächst. Und während der Krieg weiter tobt, ist nicht ausgeschlossen, dass auch dieses Gefängnis bald ins Visier gerät.

Ein Funke Menschlichkeit

Nach unserer Ankunft fand der Busfahrer – ein städtischer Angestellter – einen Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer. Er rief an, informierte die Familie des Gefangenen, dass es ihm gut gehe – obwohl er ihn gar nicht kannte.

Ich möchte mit diesem Bild schliessen: Selbst inmitten von Gewalt, Krieg und Dunkelheit kann Menschlichkeit aufleuchten.

Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal

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