Gemäss Putins Propaganda waren die Nato-Osterweiterung und die angeblich bevorstehende Integration der Ukraine in das westliche Verteidigungsbündnis Hauptgründe für den Krieg gegen das westliche Nachbarland. Doch eine Reihe von Nato-Mitgliedern (seit 2023 auch Finnland) teilen längere Grenzen mit Russland, ohne dass Moskau sie militärisch angegriffen hätte.
Dass das Putin-Regime vorläufig kein ernsthaftes Interesse an einem Waffenstillstand im blutigen Ukraine-Krieg hat, ist inzwischen jedem klar, der sich nicht vom Kreml-Narrativ einspannen oder die Sicht vernebeln lässt. Die Moskauer Sprachrohre repetieren unermüdlich, Waffenstillstandsgespräche machten erst einen Sinn, wenn dabei auch die «Ursachen» des Ukraine-Krieges verhandelt und beseitigt würden. Diese «Ursachen» sind aus russischer Sicht in erster Linie die Nato-Osterweiterung, die seit dem Kollaps des Sowjetimperiums stattgefunden hat, und im Besonderen der angeblich unmittelbar bevorstehende Beitritt der Ukraine zu diesem Bündnis. Mit diesem Anschluss, so trommelt die Kreml-Propaganda, rücke die Nato direkt an die russische Grenze vor, was eine unakzeptable Bedrohung für die Sicherheit des Landes bedeute.
Polen, das Baltikum und Finnland als Russland-Anrainer
Diese Argumentation ist in vielerlei Hinsicht unglaubwürdig. Erstens war und ist die Ukraine bis heute kein offizielles Nato-Mitglied. Sie kann damit auch nicht von der zentralen Sicherheitsgarantie profitieren, die den Nato-Mitgliedern vertraglich zugesichert wird. Sie bedeutet, dass jeder Angriff auf ein Nato-Land als Angriff auf das gesamte Bündnis eingestuft wird und gemeinsame Verteidigungsanstrengungen auslöst. Die Ukraine wird zwar seit dem russischen Überfall im Februar 2022 von Nato-Staaten in bedeutendem Umfang mit Waffenlieferungen und anderen materiellen Hilfsmassnahmen unterstützt, doch ein direkter Einsatz von Nato-Truppen gegen die russischen Invasoren ist nie näher in Betracht gezogen worden.
Zweitens teilt Russland schon seit über einem Vierteljahrhundert gemeinsame Grenzen mit mehreren Nato-Mitgliedsländern. Polen gehört dem westlichen Verteidigungsbündnis seit 1999 an, und die früheren baltischen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen sind 2004 in die Nato aufgenommen worden. Dem Kreml hat das zwar nicht gefallen, doch er hat sich bisher auch nicht darauf verstiegen, diese Nachbarländer militärisch anzugreifen, wie im Fall des Nicht-Nato-Mitglieds Ukraine.
Das Gleiche gilt für das Beispiel Finnland, das sich als Konsequenz aus dieser Aggression 2023 der Nato angeschlossen hat und mit Russland eine über 1300 Kilometer lange Grenze teilt. Wenn also eine konkrete Nato-Erweiterung, die zu einer verlängerten Anrainergrenze zu Russland führt, für Moskau eine derart unakzeptable Bedrohung bedeutet, wie seine Propagandisten behaupten, dann hätte die russische Armee logischerweise auch Finnland noch vor dessen Bündnisbeitritt vor zwei Jahren überfallen müssen.
Kein glaubwürdiger Friede ohne Sicherheitsgarantien
Gewiss würde ein Nato-Beitritt der Ukraine die direkte Grenze des Bündnisses zu Russland nochmals um gut 2000 Kilometer (inklusive Seegrenzen) verlängern. Aber ein Nato-Beitritt Kiews zur Nato wurde erst nach dem russischen Angriff vor drei Jahren zu einem unmittelbar aktuellen Thema. Selbst nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahre 2014 gab es in der Ukraine laut der Internetplattform «Kyiv Independent» nur eine Minderheit von 15–20 Prozent der Bevölkerung, die einen Nato-Beitritt befürwortete. Laut ukrainischem Gesetz wäre ein solcher Beitritt nur möglich, wenn bei einer Volksabstimmung dafür eine Mehrheit zustande kommt. Die USA hatten zwar 2008 an der Nato-Konferenz in Bukarest unter Präsident George W. Bush für eine rasche Aufnahme der Ukraine plädiert, doch Frankreich, Deutschland und andere europäische Regierungen hatten dies damals mit Rücksicht auf russische Empfindlichkeiten abgelehnt. Erst seit dem russischen Einmarsch befürworten laut der erwähnten Quelle über 80 Prozent der Ukrainer einen Nato-Beitritt. Vieles spricht dafür, dass Putin es nicht gewagt hätte, gegen die Ukraine einen grossen Angriffskrieg zu führen, wenn dieses Land offizielles Nato-Mitglied gewesen wäre. Im Nachhinein ist man immer klüger.
Deshalb ist es auch verständlich, wenn der ukrainische Präsident Selenskyj immer wieder darauf pocht, dass für sein Land eine langfristige Friedensregelung mit Russland für sein Land nur vertrauenswürdig sein kann, wenn dami Sicherheitsgarantien von Seiten der Westmächte verknüpft sind. Dass ein Friedensvertrag mit Moskau ohne Garantien von dritter Seite für die Ukraine keine unabhängige Zukunft gewährleisten würde, liegt auf der Hand. Schliesslich hat Putin mit seinem Überfall alle völkerrechtlichen Normen und alle bilateralen Verträge mit dem Nachbarland (inklusive das Memorandum von Budapest von 1994 im Zusammenhang mit der Abtretung der in der Ukraine gelagerten Nuklearwaffen an Russland) gebrochen.
Trumps Konzession genügt Putin nicht
Indessen ist von einer möglichen Nato-Mitgliedschaft der Ukraine in absehbarer Zeit auch gar nicht mehr konkret die Rede – jedenfalls solange Trump in Washington regiert. Trump lehnt eine Aufnahme dieses Landes in das Bündnis und die damit verbundene Sicherheitsgarantie für Kiew kaltschnäuzig ab, was praktisch auf die Erfüllung von Moskaus Hauptforderung hinausläuft. Die Europäer müssen sich deshalb als Ersatz ernsthafte Gedanken über separate Sicherheitsgarantien für die Ukraine ausserhalb der Nato machen.
Wenn Putin trotz Trumps Konzession seinen Zerstörungskrieg gegen die Ukraine mit gnadenloser Härte fortsetzt und kein wirkliches Interesse an einem umgehenden Waffenstillstand oder an zügigen Verhandlungen über eine längerfristige Friedenslösung zeigt, so beweist das nur, dass die angebliche militärische Bedrohung Russlands durch einen eventuellen Nato-Eintritt Kiews keineswegs der Hauptgrund seines Angriffskrieges ist. Sein eigentliches Ziel ist es vielmehr, die politische und kulturelle Kontrolle zumindest über den grössten Teil der Ukraine zurückzugewinnen. Und damit die Entwicklung einer lebendigen Demokratie im westlichen Nachbarland zu verhindern, die für Putins russische Untertanen zu einem ansteckenden Vorbild werden könnte.