Am 8. Mai 2025 hat das Kardinalskollegium zum ersten Mal einen US-Amerikaner gewählt, um als Bischof von Rom die moralisch angeschlagene und von Spannungen und Spaltungen bedrohte katholische Kirche zu führen. Nun hat Leo XIV. knapp ein halbes Jahr später sein erstes Lehrschreiben der Öffentlichkeit vorgestellt – ganz anders als sein spontaner und überall präsenter Vorgänger, jedoch in wohltuendem Kontrast zum umtriebigen Präsidenten seines Landes. Leos Pontifikat gewinnt damit an Profil. Wie er seine Vision umzusetzen gedenkt, ist allerdings offen.
Was es mit dem Löwen auf sich hat, den er mit dem Papstnamen im Schild führt, konnte man bisher nur mutmassen. Seine Herkunft aus der Mitte der Vereinigten Staaten, seine Seelsorge im Andenstaat Peru und sein Kurienamt im Vatikan lassen erahnen, dass er sich auf mehrere kirchliche Kulturen eingelassen hat und ein buntes Mass an katholischer Vielfalt auf den vermeintlich monolithischen Papstthron mitbringt. Sein erstes Lehrschreiben, das er am Festtag des Franz von Assisi unterzeichnet hat, trägt die Überschrift: «Dilexi te – ich habe dich geliebt», entnommen aus dem letzten Buch der Bibel, der Geheimen Offenbarung des Johannes. Damit ist fassbarer, in welcher Lehrtradition Leo XIV. steht, was ihm am Herzen liegt und wohin er seine Kirche führen will.
Leo XIV. folgt den Fussstapfen seines Vorgängers Franziskus
Leo XIV. ist nicht nur der Nachfolger, er ist auch ein gelehriger Schüler. Er nimmt die Fäden auf, die Franziskus für eine Apostolische Exhortation (wörtlich: eine Aufforderung, das Gehege zu räumen) hinterlassen hat. «Ich teile den Wunsch meines verehrten Vorgängers, dass alle Christen den tiefen Zusammenhang zwischen der Liebe Christi und seinem Ruf, den Armen nahe zu sein, erkennen mögen» (3, Die Zahlen beziehen sich auf die Textstellen im Lehrschreiben «Dixi te»). «Der Kontakt mit denen, die keine Macht und kein Ansehen haben, ist eine grundlegende Form der Begegnung mit dem Herrn der Geschichte» (5).
Wer den Schrei der Armen hört, befreit Kirche und Gesellschaft aus ihrer Selbstbezogenheit und weist sie hin auf die vielen Gesichter der Armut: Entweder fehlt es materiell am Lebensnotwendigen, oder Menschen werden sozial ausgegrenzt und haben keine Mittel, um ihrer Würde Ausdruck zu verleihen; oder sie leiden unter kultureller Armut, unter sozialer Schwäche oder persönlicher Fragilität und verfügen über keine Rechte, keinen Raum und keine Freiheit (9).
Leo XIV. anerkennt, dass in den letzten Jahrzehnten viele soziale und strukturelle Ursachen der Armut bekämpft wurden, etwa durch die Millenniumsziele der Uno. Er identifiziert aber auch neue, manchmal subtilere und gefährlichere Formen der Armut, deren Beseitigung nicht ohne einen Mentalitätswandel auf kultureller Ebene möglich sei. Die Zunahme reicher Eliten, die in einer Blase sehr komfortabler und luxuriöser Bedingungen leben, sei ein Paradox. «Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich für das Wachstum als wirksam erwiesen haben, aber nicht für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Der Reichtum ist gewachsen, aber ohne Gerechtigkeit, und so entsteht neue Armut» (13). Wenn er hingegen mit Franziskus festhält, dass »die Gesellschaften auf der ganzen Erde noch lange nicht so organisiert sind, dass die Frauen genau die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben wie die Männer« (Fratelli tutti 97, Dilexi te 12), reibt man sich die Augen: Und wie bitte steht es damit in deiner Kirche, Bruder Leo?!
Dazu später mehr. Vorerst kann, wer allein auf die Lehräusserungen von Leo XIV. schaut, nicht umhin festzustellen:
Der oberste Lehrer der Kirche steht berührend nahe beim Wanderrabbi Jesus von Nazaret
Dies zeigt sich schon im Stil: Das majestätische «Wir» ist völlig verschwunden. Leo XIV. schreibt in einem nüchternen Ich-Stil und begibt sich auf Wahrheitssuche im Dialog mit den Ausgegrenzten: Sie seien die geistlichen Lehrer (63), nicht bloss Adressaten unseres Mitgefühls, sondern Lehrer des Evangeliums (79). Und Jesus zeige sich «nicht nur als armer Messias, sondern auch als Messias der Armen und für die Armen» (19).
«Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen. Wenn du siehst, wie der Esel deines Feindes unter seiner Last zusammenbricht, dann lass ihn nicht im Stich, sondern leiste ihm Hilfe!» (Ex 23,4-5). Jeder, der in Not ist, auch der Feind und sogar das Tier verdienen unsere Hilfe (25). Und zwar selbstlos, wie Jesus fordert (27): «Wenn du mittags oder abends ein Essen gibst, lade nicht deine Freunde oder deine Brüder, deine Verwandten oder reiche Nachbarn ein; sonst laden auch sie dich wieder ein und vergelten es dir.
Nein, wenn du ein Essen gibst, dann lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein. Du wirst selig sein, denn sie haben nichts, um es dir zu vergelten» (Lk 14,12-14). Das Wort der Bibel sei «eine so klare, so direkte, so einfache und vielsagende Botschaft, dass keine kirchliche Hermeneutik das Recht hat, sie zu relativieren. Das Band zwischen unserem Glauben und den Armen ist untrennbar» (31, 36).
Nicht weniger eindeutig sind die zahllosen Zeugen der Kirchengeschichte, die Leo XIV. für eine Kirche der Armen anführt. «Die Bettelmönche wurden zum Symbol einer pilgernden, demütigen und geschwisterlichen Kirche, die nicht mit dem Ziel der Bekehrung unter den Armen lebt, sondern um sich mit ihnen zu identifizieren.» «Indem sie unter den Armen lebten, lernten sie die Wahrheit des Evangeliums ‘von unten’, als Jünger des gedemütigten Christus» (66f.). So gültig diese Aussagen der christlichen Tradition sind, so revolutionär wirken sie aus dem Mund eines Papstes; dem Amt gemäss kommt er «von ganz oben», der Botschaft entsprechend lernt er von denen «ganz unten» wie schon der Wanderprediger von Nazaret.
Wer darob skeptisch bleibt und Leo XIV. sozialromantischen Idealismus vorwirft, muss sich fragen lassen, ob die Wirtschaftswissenschaftler, die demnächst den Nobelpreis erhalten für Erkenntnisse, wie die Wirtschaft noch mehr auf Wachstum getrimmt werden kann, denn weniger naiv seien – angesichts des Klimawandels, der ursächlich damit zusammenhängt.
Die «vorrangige Option Gottes für die Armen» (16) und eng damit verknüpft die «Theologie der Befreiung» sind ein Geschenk der lateinamerikanischen Kirche an die Gesamtkirche. Vor 60 Jahren haben 40 Bischöfe am Rande des Zweiten Vatikanischen Konzils den sog. «Katakombenpakt» geschlossen und sich in ihrem Lebens- und Führungsstil auf eine arme Kirche verpflichtet. Die Generalversammlungen des Lateinamerikanischen Episkopats haben sich diese Option 1968 in Medellín und 1979 in Puebla zu eigen gemacht und in Santo Domingo und Aparecida fortentwickelt.
Die Päpste Franziskus und Leo XIV. haben sie für die Gesamtkirche für verbindlich erklärt. «Vorrangig» kann dabei nur heissen: Vor jedem hehren Dogma, vor jeder Ausgrenzung von Andersgläubigen, ja sogar vor allen feierlichen Liturgien und feingewandeten klerikalen Hierarchien müssen sich die Kirche und ihre Vertreter fragen: Ist mein Engagement ein Dienst für die Armen und mit den Armen im Geiste Jesu, der für die Armen Partei ergriffen hat?
Eine Philippika an US-Aussenminister JD Vance
Die Sache hat jedoch einen akut politischen Hintergrund, der im ganzen Lehrschreiben von Leo XIV. nicht genannt wird, für Kenner der Szene aber omnipräsent ist. Weltweit erinnert man sich an die letzten Bilder von Papst Franziskus. Neben seinem Sterbebett sass wie ein ungebetener Gast James David Vance, der derzeitige Vizepräsident der Vereinigten Staaten. Er bekennt sich stolz zum katholischen Glauben, zu dem er sich bekehrt hat, und ist überzeugt, dass er über eine zwingende Neuinterpretation von Katholizität verfügt. Damit wurde er zu einem der prominentesten Vertreter des sehr konservativen und zunehmend militanten, aber auch reichen Flügels der US-amerikanischen katholischen Kirche.
Um die restriktive Migrationspolitik der Regierung Trump und seinen Kahlschlag bei in- und ausländischen Hilfsprogrammen zu rechtfertigen, beruft Vance sich auf den «Ordo amoris – die Rangordnung der Liebe», ein Begriff von Augustinus und Thomas von Aquin. Vance: «Du liebst deine Familie, dann liebst du deinen Nachbarn, dann liebst du deine Gemeinschaft und dann liebst du deine Mitbürger in deinem eigenen Land.» Erst danach könne man sich um den Rest der Welt kümmern. Im Klartext: Weil man mit Zolldrohungen im Kleinstaat Vatikan keinen Eindruck schinden kann, versucht man auf Konvertiten-Manier klarzumachen, dass die MAGA-Ideologie der Massstab für wahres Katholischsein ist.
Darauf reagierte schon Papst Franziskus anfangs 2025 mit einem Brandbrief an die US-amerikanischen Bischöfe. Der wahre «Ordo amoris» sei im Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu entdecken. Darin wird ein von Räubern überfallener jüdischer Mann nicht von einem vorbeiziehenden jüdischen Priester und Levit gepflegt, sondern von einem Samariter, der den Juden als Feind gilt. Diese Brüderlichkeit «steht allen ohne Ausnahme offen», betonte Franziskus, ohne Vance namentlich zu erwähnen. Und Leo XIV., damals noch Kardinal Robert Prevost, doppelte nach: «JD Vance liegt falsch: Jesus hat uns nicht dazu angehalten, unsere Liebe zu anderen zu hierarchisieren.»
Leos Lehrschreiben kann man als scharfsichtige Abrechnung mit einer religiösen Unterfütterung des Trumpschen Kulturkampfs lesen. Er weigert sich partout, dessen Politik kirchlich salonfähig zu machen, und dichtet die Schotten gegen die MAGA-Ideologie wasserdicht ab. Zu unzweifelhaft und zu eindeutig ist die Wolke von Zeugen aus der christlichen und hebräischen Bibel sowie aus 2000 Jahren Kirchengeschichte. «Die starken und klaren Worte des Evangeliums sollten ohne Kommentar, ohne Ausflüchte und Ausreden gelebt werden» (28). «Oft frage ich mich, warum trotz solcher Klarheit der Heiligen Schrift in Bezug auf die Armen viele weiterhin glauben, sie könnten die Armen ausblenden» (23).
Auch der von Vance bemühte Augustinus sage klipp und klar: «Du gibst dem Armen nicht von deinem Eigentum, sondern du gibst ihm von dem seinen zurück. Denn du hast dir bloss das angemasst, was für den gemeinsamen Gebrauch bestimmt war» (43). «Wir dürfen nicht sagen, dass die meisten Armen arm sind, weil sie sich keine ‘Verdienste’ erworben haben, gemäss jener falschen Vorstellung der Meritokratie, nach der scheinbar nur diejenigen Verdienste haben, die im Leben erfolgreich gewesen sind» (14).
Das grosse Manko ist die Umsetzung ins Kirchenrecht
Auch wer die Dringlichkeit geistig-religiöser Positionsbezüge im gegenwärtigen Kampf der Weltbilder anerkennt, muss Fragen und Zweifel zu den innerkirchlichen Konsequenzen anmelden. Zu viele epochale Einsichten des letzten Konzils sind Buchstabe geblieben. Warum sollte es «Dilexi te» besser ergehen!
Zunächst ist hinzuweisen auf die Gegengeschichte, die Leo XIV. mit Schweigen übergeht. Die in der Folge der Konstantinischen Wende mächtig und reich gewordene kirchliche Hierarchie hat im Lauf der Jahrhunderte im Umgang mit Armen und Ausgesetzten viel Schuld auf sich geladen. Armutsbewegungen des Mittelalters wurden mit Kreuzzügen verfolgt. Papst und Kurie haben das Armutserbe des Franz von Assisi arg zurechtgestutzt.
Die Jünger des Dominikus mussten den Gewissensterror der Inquisition durchexerzieren. Und noch vor wenigen Jahrzehnten haben Johannes Paul II. und sein Glaubenswächter Joseph Ratzinger Vertreter der Befreiungstheologie von ihren Lehrstühlen verbannt. Dom Hélder Câmara: «Wenn ich den Armen Brot gebe, nennen sie mich einen Heiligen. Wenn ich frage, warum die Armen kein Brot bekommen, nennen sie mich einen Kommunisten.» Wer sich im Besitz der ewigen Wahrheit wähnt, muss sich Fragen gefallen lassen.
Entscheidend sind die Handlungsanweisungen, die von wichtigen Einsichten ausgehen. Denn – das wissen Katholikinnen und Katholiken, und das weiss auch der Kirchenrechtler Leo XIV. – im Zweifel entscheidet nicht die Bibel, was in der Kirche geschieht, sondern was im Kirchenrecht steht. Das Recht ist das Instrument der Macht. Das geltende Kirchenrecht aber trägt noch immer die Handschrift des autoritären Johannes Paul II. Wenn darum «Dilexi te» nicht in Paragraphen des kirchlichen Rechtskodexes umgegossen wird, bleiben vom Lehrschreiben nur schöne Worte.
So wenn Leo XIV. schreibt: «Der Epochenwechsel, den wir erleben, macht die kontinuierliche Interaktion zwischen Getauften und Lehramt, zwischen Bürgern und Experten, zwischen Volk und Institutionen heute noch notwendiger. Insbesondere muss von neuem erkannt werden, dass die Wirklichkeit von den Rändern besser zu sehen ist und dass die Armen über eine ihnen eigene Intelligenz verfügen, die für die Kirche und die Menschheit unverzichtbar ist» (82). Die kirchlichen Reformbewegungen stehen seit Jahrzehnten bereit, diesem Satz in der Kirche Nachachtung zu verschaffen. Leo XIV. muss ihnen nur das Recht dazu geben. Sonst bleiben im geistlichen Sinn die nicht geweihten Frauen und Männer weiterhin Arme in der Kirche, die keine Rechte, keinen Raum und keine Freiheit besitzen (vgl. 9).
Wo also zeigt der Löwe seine Pranken?
Leo XIV. steht mit seinem Lehrschreiben gewiss in der Tradition Leos XIII. Sein Vorgänger im 19. Jahrhundert hat den Reigen der grossen Sozialenzykliken eröffnet. Und Leo XIV. steht mutig zu den viel kritisierten Aussagen seines Vorgängers Franziskus: «Es ist notwendig, weiterhin die ‘Diktatur einer Wirtschaft, die tötet’ anzuprangern und anzuerkennen, dass die Einkommen der Mehrheit sich immer weiter entfernen vom Wohlstand der glücklichen Minderheit, deren Einkommen exponentiell steigt» (92). Ob der furchtlose Diagnostiker Leo XIV. auch die Pranken des Rechts zu nützen weiss, wird zum Prüfstein seines Pontifikats werden.
Es ist jedenfalls eine bittere Ironie, wenn der oberste Chef eine Kirche der Armen für die Armen preist, derweil seine Untergebenen im Apparat der Kurie alles tun und womöglich sogar die Wahl eines US-Amerikaners beförderten, um die reichen Spender des US-amerikanischen Rechtskatholizismus gnädig zu stimmen, damit sich nach der Ära des Franziskus die Opferstöcke wieder füllen. Ob jene Wohltäter sich von Johannes Chrysostomus eher überzeugen liessen als vom Vers «Dilexi te» aus der Geheimen Offenbarung? «Die Almosengabe ist ein Flügel des Gebets. Wenn du deinem Gebet keine Flügel verleihst, wird es nicht fliegen.»