Am Sonntag wird dem Russland- und Osteuropa-Kenner Karl Schlögel in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Es war ein weiter Weg für Schlögel vom Redakteur des Magazins «Dem Volke dienen» zu seinem publizistischen Einsatz für das Land, in dem eine Partei mit dem Namen «Diener des Volkes» den Präsidenten stellt.
Das Magazin gab der maoistisch orientierte Kommunistische Studentenverband heraus, in dem er sich zu Beginn seines Studiums an der Freien Universität Berlin engagierte. Bei dem Land handelt es sich um die Ukraine, für deren Recht auf Selbstbestimmung Schlögel streitet. Die beiden so ähnlich klingenden Namen von Magazin und Präsidentenpartei stehen am Anfang und am vorläufigen Ende der keineswegs geradlinigen Strecke, die er als politischer Autor zurückgelegt hat.
Renommierter Russland-Erklärer
Über Jahrzehnte hat er sich den Ruf erarbeitet, der einflussreichste Russland-Erklärer im deutschsprachigen Raum zu sein. Seine Bücher und Essays, in einer kraftvollen Sprache geschrieben, fanden ein starkes Echo in den Bildungsschichten, weil sie die grossen kulturellen Strömungen anhand von Beobachtungen und Gegenständen aus dem Alltag erklärten. Zunehmend nahm er von seiner Wirkungsstätte, der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, auch Mittelosteuropa in den Blick, an erster Stelle Polen.
Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, der keineswegs erst im Februar 2022 begann, sondern bereits im März 2014 mit der Annexion der Krim und dem Einfall der Truppen Moskaus unter falscher Flagge, nämlich als «russischsprachige ukrainische Separatisten», in den Donbass, nahm er eine neue Rolle ein: Er wurde zum Mahner, gar zum Propagandisten der militärischen und politischen Unterstützung der angegriffenen Ukraine, die bei all ihren Problemen und Mängeln doch eine Demokratie war, in der ein Machtwechsel nach Wahlen der Normalfall war, in der es keine Zensur und keine politischen Gefangenen gab.
Es ist beides, seine Rolle als klassischer Kulturvermittler und sein Engagement für die Grundwerte der Demokratie, die nun mit der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels gewürdigt werden.
Politische Anfänge als Maoist
Der Weg dahin war keineswegs ein Mäandern, vielmehr kennzeichneten ihn zwei grosse Kehrtwendungen: Die erste führte ihn aus einem konservativen Elternhaus hin zu den Roten Zellen an der Freien Universität. Die Eltern führten einen Bauernhof im Allgäu, den Sohn schickten sie auf das Benediktinergymnasium in Ottobeuren, von wo er auf das Klosterinternat Scheyern in Oberbayern wechselte. Dort gehörte eine für das bayrische Schulsystem exotische Sprache zu seinen Wahlfächern: Russisch. Damit war auch sein Interesse für die Sowjetunion und ihr ideologisches System geweckt, vielleicht eine Reaktion auf das rigide Regime im Alltag unter den Ordensleuten. Jedenfalls war Schlögel bei weitem nicht der erste Klosterschüler, der im Erwachsenenleben erst einmal bei den entschiedenen Kirchengegnern andockte.
Als Sympathisant des Kommunismus war es für ihn ausgeschlossen, Wehrdienst zu leisten. Nach dem Ersatzdienst wandte er sich zu Beginn seines Studiums an der FU in West-Berlin, dem Zentrum der Studentenbewegung, indes keineswegs einer prosowjetischen K-Gruppe zu, sondern den Maoisten, die die Parole vom Verrat der Ideen des Sozialismus durch Moskau propagierten. Sein Betätigungsfeld wurden die Roten Zellen, im Jargon ihrer Aktivisten «Rotz» genannt. Doch besuchte er fleissig Veranstaltungen in gleich vier Fachrichtungen: Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik. Das Studium schloss er mit einer Dissertation über die Arbeiterproteste in der Sowjetunion nach dem Tod Stalins ab.
Moskauer Erfahrungen
Die Arbeit erschien im Orwell-Jahr 1984 unter dem Titel «Der renitente Held»; er entlarvte darin die Losungen von der Herrschaft des Proletariats, denn dieses wurde von der Funktionärskaste, die Macht in der Sowjetunion ausübte, unterdrückt und ausgebeutet. Den Alltag der Sowjetmenschen hatte er aus nächster Nähe studieren können, dank eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdienstes hatte er ein Studienjahr an der Moskauer Lomonossow-Universität verbracht.
Gewohnt hat er im imposanten Hauptgebäude auf den Lenin-Bergen, dem «roten Kloster», wie es die permanenten Kontrollen ausgesetzten Studenten spöttisch nannten. Es war das Jahr, in dem der greise KGB-Chef Andropow den debil gewordenen langjährigen Kremlherrn Breschnew beerbte. Diese persönlichen Erfahrungen in einem mental erstarrten Land bewirkten, dass sich seine letzten Illusionen über die Verheissungen des Kommunismus verflüchtigten. Es war die zweite grosse Wende in seinem Leben.
Seine damaligen Beobachtungen und Studien schlugen sich in seinem ersten Buch nieder, mit dem er ein grösseres Publikum erreichte: «Moskau lesen». Er hat darin keineswegs die Mechanismen der blossen Politik herausgearbeitet, sondern vielmehr den Einfluss der kulturellen Strömungen auf die Gesellschaft, die Bedeutung auch der urbanistischen und architektonischen Strukturen für die Mentalität der Sowjetbürger. Er beschrieb sie nicht nur als Beobachter, sondern in Ich-Form auch als Erlebender.
«Das sowjetische Jahrhundert»
Die Wirkung künstlerischen und intellektuellen Schaffens auf die Politik blieb sein grosses Thema, er ging somit weit über den klassischen Ansatz der akademischen Geschichtsschreibung hinaus. Er porträtierte St. Petersburg als Motor der Moderne in den Jahren vor und nach dem grossen Umbruch der sogenannten Oktoberrevolution, aber – unter dem Namen Leningrad – auch als Schauplatz der kulturellen Gegenrevolution unter Stalin, dem, ebenso wie seinem Vorgänger Lenin, die Entgrenzung der Kunstkategorien in Literatur, Malerei, Architektur, Musik völlig fremd geblieben ist.
So arbeitete Schlögel auch den Zusammenhang von monumentaler Architektur unter Stalin, dem «roten Zar», die ihre Vorbilder in Gotik und Klassizismus haben, und der im Grossen Terror gipfelnden Repression in der Gesellschaft heraus, die eine Fortsetzung der Zarenherrschaft war. In seiner grossen Kulturgeschichte «Das sowjetische Jahrhundert» (2017) erklärt er das Funktionieren der Gesellschaft an Alltagsgegenständen. Den Versuchen des Regimes, dem Sowjetmenschen auch einen Hauch von Luxus zu gönnen, widmete er den «Duft der Imperien. Chanel No. 5 und Rotes Moskau». So hiess das begehrteste Parfüm, kreiert in der Stalinzeit und stets Defizitware.
Deutschlands Verzahnung mit Osteuropa
Längst aber hatte er nicht nur Russland im Fokus. Bereits 1985, noch vor den Umwälzungen, die vier Jahre später zum Fall der Berliner Mauer führten, erfasste er die Stimmung in den Ländern, die damals abwertend als Satelliten Moskaus bezeichnet wurden: «Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa». Schlögel legte Schicht um Schicht die multikulturelle Vergangenheit der östlichen Nachbarn der Deutschen frei, auch deren Verflechtungen und Verstrickungen mit den Deutschen, ohne dass er Anlass zum Vorwurf gegeben hätte, sich auf diese Weise die revisionistische Sicht der organisierten Heimatvertriebenen zu eigen gemacht zu haben.
Doch als er zehn Jahre nach der Auflösung des Sowjetblocks ein grosses Projekt zur Erforschung der gegenseitigen Vertreibungen von Deutschen und Polen vorschlug, bekam er bedauerlicherweise nicht die Mittel zu seiner Realisierung. Damals bestimmten heftige Emotionen in Polen die Debatte über dieses Kapitel der gemeinsamen tragischen Vergangenheit. Schlögel hätte mit seiner Herangehensweise, bei der Analyse von Problemen zwischen benachbarten Nationen die Sichtweisen beider Seiten klar umrissen darzulegen, zweifellos zum Abbau der bis heute längst noch nicht abgeklungenen Spannungen auf diesem Feld beitragen können.
Späte Entdeckung der Ukraine
Als akademischer Lehrer setzte er auf akademische Feldforschung: Neben dem Studium von Quellen lernten seine Studenten in Exkursionen, die Vergangenheit geographischer Räume zu rekonstruieren, von untergegangenen jüdischen Schtetln im Osten Polens bis hin zu den Gulag-Inseln am Weissen Meer. Erst spät entdeckte er die Ukraine. Nach seinen eigenen Worten war der russische Angriff von 2014 für ihn ein Schock, er habe erkannt, dass er bis dahin in der deutschen Tradition gestanden habe, den gesamten postsowjetischen Raum durch die Moskauer Brille zu betrachten.
So reiste er nicht nur nach Kiew, sondern auch in die überwiegend russischsprachigen Metropolen Charkiw und Odessa, um zu begreifen, dass die allermeisten Menschen dort, obwohl Russisch ihre Muttersprache ist, sich als ukrainische Patrioten fühlen, die keineswegs von Putin «befreit» werden möchten. Die Erkenntnis, dass die grosse Mehrheit der Russen den Diktator im Kreml in seinem Bestreben unterstützt, mit militärischer Gewalt das Moskauer Imperium wiederherzustellen, sei für ihn ebenfalls ein «grosser Schock» gewesen.
Kein Verständnis für «Putin-Versteher»
Klang in seinen ersten Werken über die russische Gesellschaftskultur die Erwartung an, dass das Riesenland nach all den Verwerfungen der vergangenen Jahrzehnte letztlich doch den Weg zur Demokratie einschlagen würde, so hat er mit dem russisch-ukrainischen Bruderkrieg seine Hoffnung darauf verloren. Der deutschen Friedensbewegung und den «Putin-Verstehern» wirft er Naivität und Ignoranz vor. Er verhehlt nicht, wie sehr es ihn schmerzt, kein Visum mehr für Russland zu bekommen, das Land, das ihm so nah war.