Direkt zum Inhalt
  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
Wie reagieren auf Putins Ukraine-Angriff?

Ist die massive Aufrüstung zum Schutz vor russischer Aggression alternativlos?

12. August 2025
Peter Lüthi
Peter Lüthi
Patriot-Abwehrsysteme
Ukrainische und deutsche Soldaten zur Ausbildung mit dem US-Raketenabwehrsystem Patriot auf einem Truppenübungsplatz in Mecklenburg. Aufnahme vom Juni 2024. Sind wesentlich erhöhte Militärausgaben des Westens gerechtfertigt? (Foto: KEYSTONE/DPA/Jens Büttner)

Der Historiker und Lehrer Peter Lüthi war nach der Auflösung der Sowjetunion mehrfach in Russland und in der Ukraine als Lehrer und Berater von freien Waldorfschulen tätig. In diesem Text begründet er seine skeptische persönliche Meinung zu den westlichen Aufrüstungsplänen als Antwort auf den russischen Ukraine-Überfall. 

Wenn man den Politikern der einflussreichen Parteien, den «Leitmedien», den «Sicherheitsexperten» und Armeechefs in Europa vertraut: Ja! Russland bedroht Europa mit einem grossen Krieg; es ist auch mit russischen Panzern und Luftangriffen sowie mit dem Versuch einer Besetzung zu rechnen. Das macht es notwendig, dass auch die Zivilgesellschaften, nicht nur die Armeen, wieder kriegstüchtig werden, wie der deutsche Verteidigungsminister Pistorius als Erster forderte.

«Wir sind im Krieg» 

Auffallend wenig unterscheiden sich die Warnungen im Nato-Staat Deutschland und in der neutralen Schweiz: Die «Ostflanke» der Schweiz scheint auch im Baltikum zu liegen. Der prominente deutsche CSU-Politiker Manfred Weber fordert: «Wir müssen unser Denken in Europa jetzt auf Kriegswirtschaft umstellen.» Die Schweizer Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger meint: «Ich befürchte wirklich, bei uns muss eine Bombe einschlagen, bis wir realisieren, dass die Zeit, wo wir in keiner Weise gefährdet waren, vorbei ist.» 

Besonnenheit ist jetzt keine Tugend, es eilt mit der Erhöhung der Personalbestände durch verstärkten Einbezug von Frauen, durch Erschwerung des Zivildienstes, in Deutschland mit der Einführung der Wehrpflicht. Stehen der Schweiz nicht in kürzester Zeit neue Kampfflugzeuge zur Verfügung, entsteht eine «Sicherheitslücke», und die russischen Panzer könnten nach schnellem Vormarsch durch Deutschland und Österreich schon am Rhein stehen, bevor die Schweizer Armee ihre Panzerbrigaden für 2 Mrd. Fr. wieder kampffähig gemacht hat. In «20 Minuten»  verdirbt am 1. April 2025, nicht als Scherz, ein Titel die Stimmung: «Ist das der letzte Sommer in Frieden?» Und die FAZ am 11. März: «Was nützt die Schuldenbremse, wenn der Russe vor der Tür steht?» Georg Häsler in der NZZ am 4. Mai unter dem Titel «Wir sind im Krieg»: «Nur wehrhafte Demokratien können den Kreml von einem direkten Angriff abhalten.» 

Zur wehrhaften Demokratie gehören aber nicht nur Panzer und Flugzeuge, sondern auch eine erneuerte «Geistige Landesverteidigung». Die damalige deutsche Bildungsministerin schlug 2024 vor, Jugendoffiziere in die Schulen zu schicken und Zivilschutzübungen abzuhalten. Der Deutsche Lehrerverband hielt ihren Vorschlag, junge Menschen dadurch in den Schulen auf den Kriegsfall vorzubereiten, für sinnvoll. 

Dass der Worst Case bevorsteht und uns nur noch massive Aufrüstung retten kann, sei es durch Abschreckung oder tatsächlich «im Ernstfall», darüber lässt sich nicht mehr ernsthaft diskutieren. 

Warum nicht?

Alternativlose Aufrüstung und Demokratie

Ich möchte hier zu bedenken geben, dass die Demokratie in Gefahr kommt, wenn eine angebliche Alternativlosigkeit die öffentliche Meinung zu dominieren beginnt. Dass das Ende der Diskussion deklariert wird, ist ein Kennzeichen von Diktaturen. Auch Demokratien kommen in diese Lage, wenn sie den Notstand erklären, und wir sind erneut in den Notstand eingetreten: Nicht mehr Krieg gegen ein Virus, aber Krieg mit Russland droht. Die Zeit für Grundsatzdiskussionen über die Tatsächlichkeit der Bedrohung und die Notwendigkeit einer starken Armee ist vorbei. Nur noch Putin-Freunde stellen Fragen. 

Aber warum legen Politiker und Medien keine Beweise vor, wenn sie in den Warnungen von der Möglichkeit schon zur Gewissheit des kommenden Krieges übergegangen sind? 2027 (D. Tusk) oder 2029 (Pistorius) wird das Schreckliche eintreten. Diese Gewissheiten werden verbreitet, obwohl niemand weiss, wie sich die USA und China in ein paar Jahren positionieren werden, was aber für eine sichere Prognose zum Verhalten Russlands Voraussetzung wäre.

Die aufgrund der «neuen Bedrohungslage» eingeleiteten Veränderungen sind in ihren zukünftigen Auswirkungen umfassend und schwerwiegend, schon im Frieden: Unsere Gesellschaften werden sich einschneidender verändern als durch Windräder, US-Zölle oder EU-Verträge. Es werden nicht nur gigantische Finanzmittel umgeleitet, so dass Staatsschulden ohne Obergrenze mit Inflation und Steuererhöhungen in Kauf zu nehmen sind, oder aber drastische Einsparungen bei den anderen Staatsaufgaben im Ausmass dessen, was jetzt an Rüstungsausgaben alternativlos bewilligt wird. Eine Kriegswirtschaft kann aber nicht gleichzeitig eine gesunde «Freie Marktwirtschaft» sein. Es wird sich auch das ganze gesellschaftlich-kulturelle Klima verändern. Die Bedrohung von aussen wird eine Jagd nach dem inneren Feind plausibel machen. Grundrechte müssen in einer kriegstüchtigen Gesellschaft eingeschränkt werden, ebenso die viel zu langwierigen Entscheidungsfindungen der direkten Demokratie. 

Das heisst beschönigend «per Notrecht regieren». Die Neigung der Frauen, Kinder zu gebären, wird bei der Gewissheit des kommenden Krieges kaum durch eine aufgerüstete Armee gefördert. Die seelische Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen, deren Umgebung sich auf Krieg vorbereitet, wird sich noch mehr als bisher krisenhaft verändern und Antworten erfordern. 

Die Verantwortung, solche Veränderungen einzuleiten, ist gross, wie auch die Verantwortung, tatsächliche Gefahren kleinzureden. Sie darf nicht ohne vorurteilslose, kompetente, differenzierte, immer neue Analyse der russischen Politik und der geopolitischen Konstellation eingegangen werden. Die gegenwärtig erzeugte emotionale Stimmung der Alternativlosigkeit wird dieser Verantwortung nicht gerecht. Man muss sich nicht in die schon gewohnte radikale Polarisierung einfügen und kann gut begründet auch eine dritte Position vertreten: Man kann sowohl ohne Vorbehalt die Aggression Russlands gegen die Ukraine verurteilen und die Unterstützung der Ukraine in ihrer Verteidigung befürworten, gleichzeitig aber in Frage stellen, dass eine massive Aufrüstung Europas samt Kriegstüchtigkeit der Gesellschaft eine angemessene und friedenssichernde Antwort sei.

Begründungen für die Alternativlosigkeit der Aufrüstung

Verschiedene Vorkommnisse sollen die wachsende Bedrohung aufzeigen, insbesondere solche der hybriden Kriegsführung. Doch diese Vorkommnisse sind höchstens Aufforderungen zur Wachsamkeit, weisen auf erhöhte Spannungen hin, sind aber keine Beweise für eine bevorstehende Invasion. Auch im Kalten Krieg wurden ständig gegenseitige Spionageaktivitäten aufgedeckt, finanzierten die Geheimdienste beider Seiten innenpolitische Störungen beim Gegner, bereiteten grosse Manöver den Ernstfall vor und wurde mit einem Atomschlag gedroht – ohne dass eine Invasion bevorstand. Auch die auf den Kalten Krieg folgenden Jugoslawienkriege, die nur rund 1000 km entfernt stattfanden, lassen nicht erkennen, dass eine Aufrüstung der Schweizer Armee eine angemessene, fahrlässig versäumte Antwort gewesen wäre. 

Die wesentliche Argumentation der Befürworter beruht mehr auf Glaubenssätzen als auf Fakten. So wird behauptet: 

Die Ukraine ist nur der erste Schritt in einer schon geplanten umfassenden Aggression Putins gegen Europa. Wir sind alle gleichermassen bedroht, sobald wir militärische Schwäche zeigen. Es ist nur logisch: Wer erfolgreich die Ukraine überfällt, wird auch die anderen europäischen Staaten überfallen und unterwerfen wollen. Die Invasionspläne müssen deshalb nicht beweiskräftig dokumentiert werden, sie sind plausibel. Die Plausibilität knüpft an «historische Erfahrung» mit einem aggressiven Russland an. 

Ich möchte nur zwei Perspektiven herausgreifen, welche die Argumentation für eine Aufrüstung nicht widerlegen, aber wenigstens ihre behauptete Alternativlosigkeit in Frage stellen. Sie können Raum für eine Differenzierung schaffen und damit für eine Fortsetzung demokratischer Diskussion vor einer schwerwiegenden Weichenstellung: eine Analyse der russischen Staatsideologie, wie sie gegenwärtig immer intensiver in der eigenen Bevölkerung verankert wird, und die gegenseitige «historische Erfahrung» von Europa und Russland. 

Ist die russische Staatsideologie unter Putin und Kyrill offensiv oder defensiv?

Sie lautet etwa so: Russland muss seine Anerkennung als Grossmacht in einer multipolaren Welt durchsetzen. Sie beruht nicht auf einem globalen Netz von Stützpunkten, sondern auf einem kompakten einheimischen Territorium. In seinem Kern ist es die frühmittelalterliche «Heilige Rus», die eine Zusammengehörigkeit aller «Russen» begründete. Die Staatsmacht in Moskau übernahm den heiligen Auftrag, diese «russische Erde» zu sammeln und gegen Westen und Osten zu verteidigen. 

Die russische Zivilisation ist heute erneut ein Bollwerk gegen das Böse schlechthin. Sie erfüllt aber ihre Aufgabe für die Menschheit nicht offensiv durch Missionierung der ganzen Welt und als Weltpolizist. Es geht nicht darum, Europa zu erobern, um ihm die russischen Werte aufzuzwingen, aber diese Werte sollen in der «Russischen Welt» auch durch militärische Gewalt und eine «Totale Militarisierung der Gesellschaft» (A. Dugin) geschützt werden vor dem hegemonialen Streben des Westens. Nicht der Angreifer und Eroberer wird der Jugend als Vorbild nahegebracht, sondern der «Verteidiger des Vaterlands». Zu seiner Aufgabe gehört auch Wachsamkeit gegen den inneren Feind, gegen die «ausländischen Agenten».

Zur Verteidigung des Vaterlands gehört aber in erster Linie der Kampf gegen einen Staat, der sich als Verrat vom Heiligen Russland abgespalten hat, um dem äusseren Feind die Tore zu öffnen: die Ukraine. Kein anderes Territorium ist vergleichbar mit ihr an Bedeutung für das Imperium. Die siegreiche russische Armee holt sich mit Recht zurück, was immer schon russisch war. So ist die Militärische Spezialoperation keine Invasion auf fremdem Boden, sondern Befreiung des Eigenen. Das ist ein höheres Recht als das künstliche «Völkerrecht».

Welche Staaten sind durch die militaristische Ideologie Russlands bedroht?

Es ist mir keine Äusserung Putins bekannt, in welcher die Bevölkerung eingestimmt wird auf eine russische Invasion Europas. Putin müsste damit rechnen, dass sie wesentlich unpopulärer wäre als eine Annexion der Krim und des Donbass, die man als Verteidigung der russischen Brüder deklarieren konnte und der ein grosser Teil der dortigen Bevölkerung tatsächlich zustimmte. Sie könnte, anstatt seine Machtstellung zu festigen wie der gegenwärtige Krieg, im Gegenteil ihr ein Ende bereiten, umso mehr, als ein Feldzug nach Warschau, Berlin und Bern mit Sicherheit noch weniger schnell vorankäme als der Vormarsch in der anfänglich schwach verteidigten Ukraine, mit wesentlich mehr russischen Opfern. 

Die Wahrscheinlichkeit eines Sieges Russlands über die Nato wäre gering: Russlands Ressourcen stehen in keinem Verhältnis zu den Anforderungen eines Feldzugs gegen Europa, sogar wenn die USA abseitsstehen würden, und Putin zeigte bisher keine Anzeichen von Wahnsinn, sondern von kalter Berechnung. Im geopolitischen Denken Putins bleiben Mittel- und Westeuropa vollständig ausserhalb des imperialen Konzepts, auch Ostmitteleuropa. Die Drohungen der Hardliner im Kreml gegen europäische Hauptstädte spielen nicht mit einer Eroberung, sondern mit einer Zerstörung aus der Luft als Rache gegen offensive Aktionen des Westens. 

In einer Grauzone bleiben die Territorien, die nicht zur «Russischen Welt» gehören, aber von den Zaren dem Imperium einverleibt wurden, z. B. Moldawien, Finnland und vor allem das Baltikum. Für dieses ehemalige Reichsterritorium wird nach der gegenwärtigen Ideologie nicht eine Eroberung angestrebt, sondern eine Einfügung in die «Russischen Sicherheitsinteressen» – die Anerkennung einer «Einflusszone», wie sie jede Grossmacht jenseits ihrer Staatsgrenzen rechtswidrig in Anspruch nimmt. Besonders Nachbarstaaten mit einer russischsprachigen Minderheit können sich nicht sicher fühlen, da sie vielleicht doch der «Russischen Welt» und nicht nur der «Einflusszone» zugeordnet werden. 

Es ist verständlich, dass solche Staaten in die Nato streben. Zu dieser Grauzone gehört, vermute ich, auch die Westukraine. Sie gehörte mit ihrer Geschichte und Bevölkerung auch in der Kreml-Propaganda nicht zur «Russischen Welt», nur zur UdSSR; im Gegenteil, sie figuriert dort als Herd eines Anti-Russland. Aber sie gehört zur «sicherheitsrelevanten Einflusszone». Das heisst, die «Restukraine» muss zwar nicht einverleibt werden wie die Krim, der Donbass und vielleicht auch Kiev und Odessa, die zu einer Wiederherstellung der «Heiligen Rus» unverzichtbar sind, aber sie soll «entnazifiziert» werden und in Zukunft keine selbständige Aussenpolitik betreiben. 

Die «historische Erfahrung»

Was man «historische Erfahrung» nennt, ist einerseits als Tatsache ernst zu nehmen und anderseits als ein Instrument ideologischer Manipulation zu durchschauen. Dieses Zweifache spielt eine grosse Rolle im Konflikt zwischen Russland und Europa, zwischen Russland und der Ukraine. Es liegen auf allen Seiten einander entgegengesetzte, traumatisierende, bis heute bedrohlich nachwirkende Erfahrungen vor. Und sie werden auf allen Seiten propagandistisch genutzt gegen den «historischen Feind». Es lohnt sich, an unbestrittene Tatsachen zu erinnern, um der Instrumentalisierung etwas entgegenzusetzen und zugleich die Traumatisierungen einfühlend ernst zu nehmen.

  • Die «Russische Welt» hat eine acht Jahrhunderte alte historische Erfahrung mit Invasionen aus dem Westen – die Deutschritter im 13. Jh., die Polen zu Beginn des 17. Jahrhunderts, Napoleon 1812, im 20. Jh. das Deutsche Kaiserreich und das Dritte Reich, wobei die letzte Erfahrung mit unvergesslicher Grausamkeit und Zerstörung der Lebensgrundlagen verbunden bleibt.
  • Die Vorstösse aus Russland nach Mittel- und Westeuropa erfolgten nicht als eigene expansive Strategie, sondern als Antwort auf eine Aggression von Westen oder als Beteiligung an einer Koalition europäischer Mächte auf deren Einladung: zuerst die Intervention bis zum Gotthard 1799 und dann die kurz dauernde Besetzung von Paris 1815 als Antwort auf die französische Besetzung Moskaus 1812. Dann die Besetzung Osteuropas bis in die Mitte Deutschlands 1945–1989 als Antwort auf den Vernichtungsfeldzug von Wehrmacht und SS. Das sowjetische Konzept nach 1945, von Stalin bis Breschnew, war eine defensive Sicherung der in diesem Existenzkampf eroberten Gebiete, d. h. auch der in Absprache mit Roosevelt und Churchill vereinbarten Einflusszone, es enthielt aber keinen Plan, das 1945 Erreichte und Vereinbarte aggressiv und vertragswidrig gegen Westen auszudehnen. Das konnte allerdings auch ein aggressives Niederschlagen nationaler Aufstände innerhalb dieser zugestandenen Einflusszone bedeuten.
  • Die russische Besetzung von Teilen Polens erfolgte seit dem 18. Jh. in Kooperation mit mitteleuropäischen Imperien bzw. in Absprache mit westlichen Verbündeten. Zu solchen Kooperationen gehört auch die Rolle des Zarenreichs bei der Niederschlagung demokratischer Aufstände im 19. Jh.

Die gegenseitigen Aggressionen zwischen Russland und Europa können als traumatisierende «historische Erfahrungen» geltend gemacht werden. Kein Weg der Friedensstiftung führt an ihrer Anerkennung vorbei. Dabei kann nicht von einem Gleichgewicht des zugefügten Leids die Rede sein, auch nicht zwischen Russland und der Ukraine. Die von Moskau angeordnete masslose Grausamkeit und Zerstörung bleibt begreiflicherweise in der Ukraine unvergesslich, wie die von Berlin angeordnete im ganzen ostslawischen Raum. 

Als Fazit lässt sich dies der Propaganda entgegenstellen: Nein, ein Russland, das in seinem Wesen aggressiv ist und immer wieder ein friedliches Europa bedroht, entspricht nicht der historischen Erfahrung der Europäer. Nein, ein friedliches Russland, das die Freiheit und Sicherheit seiner kleineren unmittelbaren Nachbarn achtet, entspricht nicht deren historischer Erfahrung.

Der Kalte Krieg – ein persönlicher Rückblick 

Keine geschichtliche Situation wiederholt sich. Deshalb ist die Forderung, wir sollten für den heutigen Umgang mit Putin z. B. von der historischen Erfahrung mit Hitler in München 1938 lernen, meiner Ansicht nach irreführende Manipulation. Aber historische Erfahrung kann die Aufmerksamkeit auf verdrängte Aspekte und auf sich wiederholende Muster lenken. 

Ich bin aufgewachsen in der Atmosphäre des Kalten Krieges, beeindruckt von der festen Überzeugung der Erwachsenen meiner Umgebung: Wir müssen jeden Tag gewärtigen, dass «Die Russen» (wir sprachen nicht von der Sowjetarmee) unser Land überfallen, denn die bösen Führer dieser Diktatur lauern nur darauf, dass die Schweiz ihren Wehrwillen schwächt. Ich kann mich in meiner ganzen Glarner Jugendzeit gerade an zwei Menschen erinnern, die der Gewissheit von der permanenten «Bedrohungslage» widersprachen mit einer alternativen Sicht; es hiess, sie hätten eine rosa Brille. Einem Mitschüler, der den Schiesskurs verweigerte, das heisst sich nicht auf die Abwehr der russischen Armee vorbereiten wollte, wurde das Maturitätszeugnis verweigert. 

1968 bestätigte sich die russische Aggressivität in Prag, und sie konnte angeblich jederzeit die Schweiz treffen. Das war öffentliche Meinung, ungeachtet der eindeutigen geographischen Begrenztheit der Breschnew-Doktrin, auf welcher der Einmarsch in Prag beruhte. Parallel zu den Ereignissen, die Mitteleuropa erschütterten, bewies uns die (allerdings weitherum umstrittene) Dominotheorie logisch, dass der grausame Krieg der USA in Vietnam alternativlos war, da auch dort unsere Freiheit verteidigt werden musste gegen den gleichen Kommunismus. 1980 begrüsste der WK-Kommandant unsere Kompanie mit dem Hinweis, dass wir jetzt wieder wissen, warum wir Dienst leisten: «Die Russen» hatten soeben Afghanistan überfallen. Es galt damals als logisch, dass eine Grossmacht, die in 5000 km Entfernung einen Nachbarn im Blick auf das drohende Übergreifen des Islamismus überfällt, ebenso gut die keineswegs islamistische Schweiz überfallen will.

Die Aufarbeitung des Kalten Krieges durch die Geschichtswissenschaft zeigt ernüchternd auf, dass in keiner Zeit konkrete Direktiven des Politbüros vorlagen, das westliche Europa samt Schweiz mit einem grossen Krieg zu überziehen. Die Sowjetarmee stand nach wissenschaftlichem Forschungsstand nie in den Startlöchern Richtung Alpen. Eine Invasion Westeuropas gehörte nicht zur realen, im eigenen Machtbereich aggressiven Dynamik dieses diktatorischen Imperiums, weder in seiner Ideologie noch in seinen Ressourcen. Dennoch prägte die Gewissheit von der täglichen Bedrohung durch ein seinem Wesen nach aggressives, brutales «Russland» die Innenpolitik und die geistige Atmosphäre Westeuropas, auch der neutralen Schweiz, 40 Jahre lang und band grosse materielle und geistige Ressourcen. Rückblickend lässt sich das aufgrund der Forschung schwerlich in diesem Ausmass als angemessen rechtfertigen.

Fazit und These

Ich fasse als Alternative zur massiven Aufrüstung nicht einen prinzipiellen Pazifismus, verbunden mit dem Glauben an Putins gute Absichten ins Auge, auch keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Gefahrenpotential im Osten Europas, sondern ihre zwingende Anbindung an eine rationale Analyse im offenen, nie abgeschlossenen demokratischen Diskurs. Die Begründung mit der Logik: «Wer die Ukraine angreift, will auch Europa angreifen», ist verantwortungslos angesichts der schweren Nebenwirkungen dieser Aufrüstung auf die gesunde Entwicklung von Wirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat und auf die Zukunftsstimmung der heranwachsenden Generation.

Falls die rationale Analyse eine Notwendigkeit der Aufrüstung begründen kann, darf diese nicht die Notwendigkeit von Diplomatie ersetzen, sondern muss ihr parallel gehen. Für solche hohe Kunst der Diplomatie zwischen Feinden zugunsten der Bevölkerungen gibt es historische Erfahrungen. Das gegenwärtige Bekenntnis zur Aufrüstung als einzige Antwort auf die komplexe geopolitische Bedrohungslage ist ein Bekenntnis zur Abwesenheit von fruchtbaren Ideen für die Zukunft.

Letzte Artikel

Wie weiter mit dem Klimaschutz?

Jörg Hofstetter 5. Dezember 2025

Der Papst und der Patriarch von Istanbul in Nizäa – Nur der Kaiser fehlte

Erwin Koller 4. Dezember 2025

EU berechenbarer als USA

Martin Gollmer 4. Dezember 2025

Dröhnendes Schweigen um Venezuela

Erich Gysling 1. Dezember 2025

Spiegel der Gesellschaft im Wandel

Werner Seitz 1. Dezember 2025

Bücher zu Weihnachten

1. Dezember 2025

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Zurück zur Startseite
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.