Sébastien Lecornu, Frankreichs neuer Premierminister ist schon wieder ein ehemaliger Premierminister. Kaum hatte er endlich eine Regierung zustandegebracht, reichte er am Montagmorgen völlig überraschend beim Staatspräsidenten seinen Rücktritt ein. Emmanuel Macron hat diesen akzeptiert.
27 Tage war er im Amt, 14 Stunden, eine Nacht lang, hatte er eine Regierung und dann war schon wieder Schluss.
Sébastian Lecornus Rücktritt im Eilzugtempo am Montagmorgen war ein wahrlich ungeheuerlicher Vorgang, wie es ihn in der über 60-jährigen Geschichte der 5. Republik noch nie gegeben hat. Das Szenario ist ein Ausdruck der Hilflosigkeit, der Auswegslosigkeit und der tiefen Krise, in der Frankreichs Politik seit jetzt 15 Monaten steckt.
Der Vertraute des Präsidenten
Vor knapp vier Wochen, nach dem Sturz der Regierung Bayrou, war Lecornu, der alte Weggefährte Macrons, einer der letzten Verbliebenen aus den Zeiten der Machtergreifung 2017, mit seinen nur 39 Jahren zum 3. Regierungschef innerhalb eines Jahres ernannt worden.
Kaum ernannt, war er dann für fast vier Wochen von der Bildfläche verschwunden, zeigte sich nicht und liess nichts von sich hören.
Hatte er nichts zu sagen, weiss auch er nicht, wohin es eigentlich gehen soll, schafft er es einfach nicht, eine Regierung zu bilden, will vielleicht einfach niemand mehr in eine neue Regierung einsteigen, die angesichts einer fehlenden Mehrheit im Parlament einem Himmelfahrtskommando gleicht und wahrscheinlich ohnehin nur ein paar Wochen oder Monate Bestand haben dürfte? Berechtigte Fragen, wie man sie sich im Land über drei Wochen hinweg und bis Sonntagabend stellen durfte.
Neu und doch alt
Da wurde dann endlich die neue Regierung bekanntgegeben und – viele wollten es kaum glauben – es war quasi die alte, die abgewählte, der die Nationalversammlung das Vertrauen entzogen hatte. Trotz dieser Tatsache behielten 12 von 18 Amtsinhabern aus der Vorgängerregierung ihren Ministersessel. Und das seit 2024 extrem geschwächte Macron-Lager bildete auch diesmal wieder das Gerüst der Regierungsriege – so als hätten die Wahlen im Juli vergangenen Jahres nicht stattgefunden und Macrons Partei dabei mit dem Verlust mehrerer Dutzend Sitze in der Nationalversammlung nicht eine gewaltige Abfuhr erhalten.
Der extrem unpopulär gewordene Präsident – gerade noch 16% Zustimmung im Land – scheint immer noch überzeugt, dass die nun von allen Seiten beschworene und herbeigesehnte Stabilität nur zustande kommen kann, wenn er und sein schrumpfendes Umfeld einfach weitermachen und weiterregieren. Nach dem Motto: Er und seine letzten Weggefährten verkörpern die Stabilität, alles andere bedeutet Chaos. So oder so ähnlich denkt anscheinend der in die Enge getriebene französische Präsident.
Blind auf dem linken Auge
Emmanuel Macron, der seit diesem Montagmorgen einsam wie noch nie und im Grunde völlig nackt dasteht, hat sich seit Sommer 2024 schlicht und einfach geweigert, der Tendenz des Ergebnisses der damaligen Parlamentswahlen Rechnung zu tragen, und hat die Linke, deren Block bei diesen Wahlen immerhin die meisten Stimmen, wenn auch keine Mehrheit erhalten hatte, niemals in die Regierungsbildung miteinbezogen.
Nun, nach der Katastrophe dieser jüngsten und gründlich misslungenen Regierungsbildung, musste sich der Präsident sogar von seiner bisherigen Umweltministerin, Agnès Pannier-Runacher, die Leviten lesen lassen. Niemand könne in Frankreich derzeit regieren, wenn er die Linke völlig ausschliesst, liess sie verlauten, um hinzuzufügen, sie habe endgültig die Nase voll davon, diesen ganzen Zirkus mitansehen zu müssen und Teil dieses Zirkus zu sein.
Innenminister mit Präsidentschaftsambitionen
Zu diesem Zirkus einer neu ernannten Regierung, die 14 Stunden später schon nicht mehr existiert, hat die traditionelle konservative Partei, «Les Républicains», und ihr Vorsitzender, der bisherige Innenminister Bruno Retailleau, ganz entscheidend beigetragen.
Keine zwei Stunden nach Bekanntgabe der neuen Regierung, liess der erzkonservative, erneut berufene Innenminister, mit Ambitionen auf das Präsidentenamt 2027, wissen, dass seine Partei dieser neuen Regierung noch nicht zugestimmt habe, und berief eine Krisensitzung seiner Parteiführung für den nächsten Vormittag ein.
Mit anderen Worten: Die Konservativen kündigten Premierminister Lecornu die Gefolgschaft auf.
Kindisch, lächerlich, pathetisch
Die Hintergründe dieses Schachzugs erscheinen angesichts der politischen Krisensituation und der schwierigen wirtschaftlichen Lage, in der sich Frankreich derzeit befindet, als kindisch, lächerlich, ja geradezu pathetisch.
Retailleau, Innenminister und Parteichef von «Les Républicains», war schlicht der Ansicht, seine Partei habe nicht genügend Ministersessel erhalten. Dabei ist ihr Gewicht in der Nationalversammlung zahlenmässig mehr als beschränkt. Ganze 47 von insgesamt 576 Sitzen nehmen ihre Abgeordneten im Parlament ein: 7%! Doch weil man einst die Partei von Jacques Chirac oder Nicolas Sarkozy war, tut man heute immer noch so, als hätte man ein grosses Gewicht.
Und ausserdem nahm der Parteivorsitzende Anstoss an der Rückkehr ins Kabinett des ehemaligen Finanzministers, Bruno Le Maire, der nun das Verteidigungsressort bekleiden sollte.
Bruno Le Maire ist für die Partei «Les Républicains» ein Verräter, weil er sich als ehemaliger Parteigänger 2017 auf Macrons Seite geschlagen hatte. Ausserdem ist Le Maire inzwischen zum Symbol für die katastrophale Schuldenlast Frankreichs geworden. Sieben Jahre lang war er Finanzminister gewesen – in dieser Zeit stiegen Frankreichs Gesamtschulden um eine ganze Billion Euro und liegen heute bei 3,3 Billionen – 115% des Bruttosozialprodukts.
Das kleinkarierte politische Kalkül, das Geschacher um Ministerämter, die Starrköpfigkeit und Unbeweglichkeit der Parteien und ihre Unfähigkeit zu Kompromissen – all dies wird seit 15 Monaten und in diesen Tagen nochmals sehr eindrücklich vorexerziert.
Bruno Retailleau, Chef einer Partei, die sich einst als neogaullistisch bezeichnete, sollte sich daran erinnern, dass General De Gaulle, als er 1946 als Regierungschef von den kleinen und grossen Streitigkeiten der Parteien genug hatte und sich auf seinen Landsitz zurückzog, dies damals mit den Worten tat: «Ich lasse die Parteien mit ihren kleinen Süppchen auf ihren kleinen Kochern in ihrer kleinen Ecke.»
Wie auch immer: Die am Sonntag vorgestellte Regierung Lecornu war auf jeden Fall im Grunde ein Witz, ja fast eine Provokation angesichts der Tatsache, dass Lecornu nach seiner Ernennung zum Premierminister von «Brüchen» gesprochen hatte, die er vornehmen wollte und knapp vier Wochen später eine Regierung präsentierte, die signalisierte: Alles bleibt mehr oder weniger beim Alten.
Macron im Freiflug
Wie angeschlagen Staatspräsident Macron inzwischen ist, wie ausweglos die Situation scheint, in die er sich verfahren hat, verdeutlicht sein Verhalten an diesem gestrigen, extrem ereignisreichen Montag.
Keine Ansprache ans Volk, keine Erklärung, aber eine Art letztes Aufbäumen bzw. das Eingeständnis einer gewissen Hilflosigkeit: Macron hat den am Morgen zurückgetretenen Premierminister tatsächlich am Nachmittag noch einmal in den Élyséepalast zitiert und ihn beauftragt, allerletzte Gespräche mit den politischen Kräften Frankreichs zu führen, um die Stabilität des Landes zu gewährleisten. Bis Mittwochabend hat der gebrechliche Jupiter seinem Untergebenen ein Zeitlimit gesetzt, um vielleicht doch noch eine Lösung zu finden.
Wobei man niemandem erklären kann, warum der geprügelte Sébastien Lecornu nun plötzlich in 48 Stunden schaffen soll, was er in knapp vier Wochen nicht zustande gebracht hatte.
Macron soll zurücktreten?
Wie tief das Land im Chaos und in der Krise steckt, mag man auch daraus ersehen, dass inzwischen selbst Politiker des konservativen Lagers Emmanuel Macron verdeckt oder auch ganz offen auffordern, vor Ende seiner Amtszeit im April 2027 zurückzutreten.
Bislang wurde diese Forderung nur von der Linkspartei und ihrem Leader Maximo, Jean-Luc Mélenchon, vorgetragen, der am Montag prompt erneut forderte, der schon seit langem im Parlament eingebrachte Antrag von 107 Abgeordneten zur Absetzung von Präsident Macron müsse nun sofort verhandelt werden.
Seit der schwierigen, inzwischen schon wieder hinfälligen Regierungsbildung machten sich aber auch Stimmen in der politischen Mitte und bei den Konservativen breit, die Präsident Macron zum Rücktritt drängen. So empfahl etwa am Morgen nach dem Rücktritt Lecornus’ der konservative und einflussreiche Bürgermeister von Cannes, David Lisnard, Präsident Macron solle seinen Rücktritt vorbereiten, nur so könne diese ausweglose Situation und das herrschende Chaos seit den Parlamentswahlen im Juli 2024 beseitigt werden.
Und Macrons Umweltministerin, die zum politischen Lager des Präsidenten zählt, nahm in dieser aufgewühlten Stimmung kein Blatt mehr vor den Mund. Man müsse nun endlich auf die Linke zugehen und hätte spätestens jetzt zumindest einige Minister aus ihren Reihen ernennen können.
Extreme Rechte reibt sich die Hände
Die einen rufen nach einer erneuten Auflösung des Parlaments mit anschliessenden Neuwahlen, um aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen, andere fordern Präsident Macron auf, einen vorzeitigen Rücktritt ins Auge zu fassen. Das Vertrackte dabei ist, dass jeder, der dies derzeit fordert, sehr genau weiss, dass beide Varianten nur einer Partei zugute kommen werden: dem rechtsextremen «Rassemblement National», ihrer Galionsfigur, Marine Le Pen, und Jordan Bardella, dem Präsidenten der Partei.
Denn die bürgerlichen Parteien und die der Linken sind heute in einer derartig katastrophalen Verfassung und die gesamte politische Stimmung im Land ist so gründlich weit nach rechts gerückt, dass die berühmte «republikanische Front» gegen die extreme Rechte, die bei den Wahlen 2022 und 2024 noch einigermassen funktioniert und ein noch besseres Ergebnis von Marine Le Pen und Co. verhindert hatte, bei Wahlen in den kommenden Monaten wohl nicht mehr zustande kommen würde.
Vor allem weil in den letzten zwei Jahren eine Entwicklung ganz klar zu beobachten ist: Die zunehmende Annäherung zwischen der traditionellen Rechten und der extremen Rechten, die von Marine Le Pen seit über zehn Jahren gewünscht und inständig betrieben wurde. Es ist, als würden all ihre Bemühungen nun Früchte tragen. Immer mehr klassisch-konservative Republikaner sehen inzwischen so gut wie kein Problem mehr, mit der extremen Rechten zusammenzuarbeiten.
Man darf sich fragen, ob diese Entwicklung, dieser Zug, überhaupt noch aufzuhalten ist.
«Präsident Macron ist hochgebildet und extrem intelligent, aber von einem versteht er offensichtlich nichts, nämlich von der Politik.» Alain Duhamel
Die Verantwortung von Emmanuel Macron für diesen Zustand der politischen Landschaft Frankreichs mehr als acht Jahre nach seinem Amtsantritt ist jedenfalls enorm.
Wie sagte es nochmal am Montagabend Alain Duhamel, 85 Jahre alt und seit über einem halben Jahrhundert Beobachter und Kommentator der französischen Politik, als es um die Verantwortlichkeiten für die historische Krisensituation ging?
«Präsident Macron ist hochgebildet und extrem intelligent, aber von einem versteht er offensichtlich nichts, nämlich von der Politik».