
Wen das Geschehen in Gaza nicht an die Grenzen seines Verstandes führt, der ist um seine robuste Psyche zu beneiden. Für alle anderen stellen sich Fragen, auf die es bis heute keine Antworten gibt.
Auslöser für Israels Angriffe auf Gaza ist bekanntlich das Massaker vom 7. Oktober 2023. Damit wurde wieder unter Beweis gestellt, dass die Hamas für Israel die kardinale tödliche Bedrohung darstellt. Der Kampf gegen sie ist ein Akt der Notwehr. Um sich davor zu schützen, benutzt die Hamas die Bevölkerung von Gaza samt ihren Einrichtungen wie Krankenhäusern und Schulen als Schutzschilde.
Die harte Probe
Was bedeutet das ethisch? Man könnte argumentieren, dass es ethisch nicht vertretbar ist, zahllose unbeteiligte Zivilisten in Mitleidenschaft zu ziehen, um die Hamas zu bekämpfen. Zumindest dürfte das nicht in grossem Stil geschehen. Israel hat sich anders entschieden. Man kann fragen, ob Israel damit in ethischer Hinsicht nicht in eine Falle gelaufen ist, die von der Hamas gestellt wurde.
Die ethische Unantastbarkeit des menschlichen Lebens kennt Ausnahmen. So sind kriegerische Handlungen erlaubt, nicht aber das willkürliche Töten von Zivilisten oder von Kriegsgefangenen. Ebenso sind Kollektivstrafen wie das Aushungern oder Vertreibungen nach den geltenden völkerrechtlichen und kriegsrechtlichen Konventionen nicht erlaubt.
Israel hat mit seinem Vorgehen seine Freunde und Verbündeten auf eine harte Probe gestellt. Sie mussten und müssen akzeptieren, dass Israel zu seiner Verteidigung Mittel anwendet, die in anderen Konstellationen geächtet sind. Da es aber um das Existenzrecht Israels geht, handelt es sich bei der Bedrohung durch die Hamas um eine Ausnahmesituation, in der jedes Mittel der Notwehr vermeintlich erlaubt ist.
Drei Beobachtungen
Wo aber liegt die Grenze zwischen der Notwehr und dem, was Juristen als «Überschreitung der Notwehr» bezeichnen? Es gibt drei Beobachtungen, die in der Betrachtung der vermeintlichen Notwehrsituation irritieren:
Bis heute ist nicht geklärt, wie es der Hamas gelingen konnte, unbemerkt die Vorbereitungen für das Massaker vom 7. Oktober 2023 zu treffen. Es gab Soldatinnen, die sie beobachtet und gemeldet haben. Die Meldungen aber wurden angeblich nicht weitergeleitet. Aber schon der gesunde Menschenverstand fragt, wie es möglich sein soll, auf einem eng begrenzten und gut überwachten Gebiet zum Beispiel unbemerkt Übungen mit Paraglidern abzuhalten, die Öffnung von Durchlässen im Grenzzaun zu üben und anderes mehr. Und dabei soll Israel nicht nur mit Schin Bet und dem Mossad über die besten Geheimdienste der Welt verfügen. Bis heute hat es Netanjahu verstanden, diesbezügliche Untersuchungen zu blockieren. Vielleicht wollte er das Massaker gar nicht verhindern.
Die zweite Beobachtung betrifft die Unverhältnismässigkeit der gigantischen Militärmaschinerie zu den Zielen in Gaza. Wäre sie nur kurz zum Einsatz gekommen, hätte man vielleicht nur gestutzt, aber nun zermalmt sie seit mehr als eineinhalb Jahren das Gebiet von Gaza, ohne allerdings auch nur eines der selbst gesteckten Ziele zu erreichen.
Zudem gibt es eine dritte Beobachtung, die alle Alarmglocken schrillen lassen: Unter der Hand hat Israel sein Kriegsziel verändert. Die Freilassung der Geiseln und die Vernichtung der Hamas ist mehr und mehr der Absicht gewichen, die Bevölkerung von Gaza loszuwerden. Der irre Plan von Donald Trump, die Bevölkerung von Gaza zu vertreiben und auf den Trümmern ein fabelhaftes Resort zu errichten, ist zumindest von Teilen der Regierung bejubelt worden.
Das unsägliche Leid
Deswegen wird das Argument, der Krieg wäre sofort zu Ende, liesse die Hamas doch nur die restlichen Geiseln frei und würde fortan keine Bedrohung mehr darstellen – wie soll etwas Derartiges überhaupt versichert werden können? – schaler und schaler, um es zurückhaltend auszudrücken.
Man kann über diese Beobachtungen und Argumente streiten, aber es gibt eine Evidenz, über die niemand hinweggehen kann, der etwas in seinem Inneren hat, «das ansprechbar ist», wie Hans Jonas das ethische Potential des Menschen einmal so einfach wie treffend charakterisiert hat. Das ist das unsägliche Leid, das Israels Kriegsmaschinerie und Israels Besatzungsregime anrichten. Im Zeichen dieses Leides erscheint die Staatsräson Deutschlands, der gemäss die Existenz Israels nicht verhandelbar ist, im Zwielicht. Das ist fatal. Denn ganz sicher ist die Existenz Israels bedroht, zum Beispiel durch Iran. Aber sie wird nicht dadurch gesichert, dass Israel das Leben in Gaza zur Hölle macht und am liebsten alle Bewohner eher heute als morgen verjagen möchte.
In seinem eindringlichen Gedicht «Höre Israel» hat Erich Fried 1972 gefragt:
Als wir verfolgt wurden,
war ich einer von Euch.
Wie kann ich das bleiben,
wenn ihr Verfolger werdet?
Und hellsichtig fährt er fort:
Eure Sehnsucht war,
wie die anderen Völker zu werden,
die euch mordeten.
Nun seid ihr geworden wie sie.
Israel macht es auch seinen Freunden schwer. Einfache Antworten gibt es nicht.