Die Alternative für Deutschland (AfD) gibt sich siegesgewiss. Früher oder später, so tönt es, werde man mitregieren. Hätte Deutschland ein Demokratiemodell wie die Schweiz, wäre es wohl längst so weit. Da lohnt sich ein Blick über die «Brandmauer» und hinter die Kulissen der Partei. Wer zieht da wirklich die Strippen? Die eloquente Alice Weidel oder Björn Höcke, der vielen als rechtsextremistischer Vordenker gilt. Der «Welt»-Journalist und AfD-Kenner Frederik Schindler vermittelt in einem Buch interessante Einblicke ins Innenleben der Partei.
Zunächst ein Blick zurück: Jubel in Interlaken. «Wir wollen ein Stück mehr Schweiz in das grösste europäische Land tragen», ruft Frauke Petry, die Vorsitzende der noch jungen Alternative für Deutschland (AfD), in den Saal. «Deutschland braucht schweizerische Verhältnisse!» Auf dem Jahrestreffen der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS, heute Pro Schweiz) ist man vom Elan der Gastrednerin begeistert. Auf vielen Tischen liegt das deutsche Magazin «Compact» mit dem freundlichen Konterfei der gebürtigen Dresdnerin auf dem Titelblatt. Überschrift: «Die bessere Kanzlerin». Unterzeile: «AfD vor dem Durchbruch». Es ist die Ausgabe vom März 2016.
SVP als Vorbild und Inspiration
Damals war die Flüchtlingskrise in vollem Gange und die AfD lag in den Umfragen bei 13 Prozent. Hoffnungsfroh schauten viele ihrer Anhänger auf die Eidgenossenschaft. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) galt ihnen mit ihren Positionen zur Migration als Vorbild – und als Inspiration. Zeigte die Schweiz doch, dass eine nationalkonservative Partei stärkste politische Kraft und selbstverständlich Teil der Regierung sein konnte.
Dass Letzteres dank des Schweizer Modells einer um politischen Ausgleich bemühten Konkordanzdemokratie möglich wäre, in der deutschen Konkurrenzdemokratie mit der «Brandmauer» gegen alles rechts von CDU und CSU jedoch nicht funktionieren kann, lässt man gern mal unbeachtet. Argumentiert wird dann oft so: In einem demokratischen Land wie der Schweiz wären wir längst Teil der Regierung, in Deutschland hingegen wird Volkes Wille missachtet.
Ein Oberstudienrat aus Westfalen hat sich durchgesetzt
Knapp zehn Jahre nach Petrys Auftritt in Interlaken ist ihre Partei ungeachtet aller Kritik und Anfeindungen doppelt so stark wie damals – und sie hat gleichgezogen mit der CDU/CSU, die Stimmen verloren hat. Doch um die einstige Möchtegern-Nachfolgerin von Angela Merkel ist es längst still geworden. Frauke Petry hat der AfD resigniert den Rücken gekehrt. Genau wie deren Mitbegründer Bernd Lucke, Konrad Adam und Hans-Olaf Henkel sowie, später, auch Petrys Co-Vorsitzender Jörg Meuthen.
Sie alle fremdelten oder lagen gar offen im Clinch mit einem rechtsextremen Geschichtslehrer und Oberstudienrat aus Westfalen, der heute mächtiger denn je ist: Björn Höcke. Über seine Herkunft, seinen Aufstieg in der AfD, seine siegreichen innerparteilichen Machtkämpfe und seine weiteren Karrierechancen hat der Journalist Frederik Schindler ein gründlich recherchiertes Buch geschrieben: «Höcke – Ein Rechtsextremist auf dem Weg zur Macht».
Grosse politische Ambitionen
Schindler (32) ist seit der Bundestagswahl 2021 als Redakteur für die AfD-Berichterstattung der «Welt» und der «Welt am Sonntag» verantwortlich. Dass er Björn Höcke, den Vorsitzenden des AfD-Landesverbandes Thüringen, und nicht Parteichefin Alice Weidel und/oder deren Co-Vorsitzenden Tino Chrupalla in den Mittelpunkt seines Buches stellt, hat gute Gründe: Höcke gilt heute vielen als Vordenker seiner Partei, und seine politischen Ambitionen sollen weit über das kleine Bundesland mit 2,1 Millionen Einwohnern hinausreichen: Heute Erfurt, morgen Berlin. Erst Thüringen, dann Deutschland.
Schindler zeichnet die Entwicklung Höckes vom Enkel einer aus Ostpreussen vertriebenen Familie und Sohn eines nationalkonservativen und antikommunistischen Sonderschullehrers zu einem der – wenn nicht dem – einflussreichsten und ambitioniertesten Politiker der AfD nach. Höcke arbeite beharrlich auf ein Ziel hin: «Er will eine ethnisch möglichst homogene völkische Gemeinschaft errichten. Auf dem Weg dahin will er Ministerpräsident werden und die AfD-Spitze auch auf Bundesebene erobern.»
Parteiinterner Widerspruch «ist verstummt»
Wer immer versuchte, sich Höcke entgegenzustellen, musste klein beigeben oder verschwinden, wie Petry oder Meuthen: «Innerhalb der AfD, die 2013 als rechtskonservative und wirtschaftsliberale Anti-Euro-Partei gestartet war, hat er sich inhaltlich bereits weitgehend durchgesetzt», konstatiert Schindler. «Im Gegensatz zu früheren Jahren ist parteiinterner Widerspruch zu Höcke verstummt. Seine stärksten Gegner sind weg – oder sagen nichts mehr, weil sie die Gegenwehr fürchten.»
Deutlich wird nicht nur, wie Höcke es geschafft hat, seine Kritiker in der Partei loszuwerden, sondern auch, wie er die AfD als Plattform zur Umsetzung seiner rechtsnationalen Ziele benutzt. Dazu dient laut Schindler ein über Jahre aufgebautes Netzwerk. Der Grundstein sei 2015 mit dem sogenannten Flügel gelegt worden. Bei dessen jährlichen Kyffhäuser-Treffen hätten Höcke und Gleichgesinnte die Radikalisierung vorangetrieben.
Akzeptanz für Relativierung der Nazi-Verbrechen
Die Lektüre zeigt auch, wie Rassismus und die Relativierung der Verbrechen des Nationalsozialismus immer mehr zu akzeptierten Positionen wurden. Nachdem der Verfassungsschutz den Flügel im März 2020 als «gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung» einstufte, zog die AfD-Führung Konsequenzen und forderte die Auflösung des Flügels. Dass Höckes Netzwerk auch ohne Meetings am Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser funktioniert, weist Schindler anhand von Beispielen nach.
Doch was ist mit Alice Weidel? Ist sie denn nicht die mächtigste und beliebteste Person innerhalb der Partei und zugleich ihre Gallionsfigur? Haben ihre Bundestagsreden nicht viel mehr Zuschauer als alle Auftritte von Björn Höcke? Und hatte sie nicht einst – gemeinsam mit Frauke Petry – versucht, ihn aus der Partei auszuschliessen?
Alles richtig. Nur dass Alice Weidel wohl eines rechtzeitig verstanden hat: Wer ernsthaft versucht, Höcke die Tür zu weisen, riskiert, selbst bald aussen vor zu sein. Sie habe «irgendwann aufgehört, sich nach Rechtsaussen abzugrenzen», schreibt Schindler. «Eine grosse Rolle spielt dabei ihr Wille zum Machterhalt.»
Weidel braucht Höcke, Höcke braucht Weidel
Längst schon gebe es eine Art «Nichtangriffspakt» zwischen Weidel und Höcke. Denn: «Weidel braucht Höcke, um als Bundesvorsitzende die gesamte Partei repräsentieren zu können. Und sie kann es sich nicht leisten, von einer prägenden Strömung angegriffen zu werden. Höcke braucht Weidel, damit seine Interessen von der Bundesspitze vertreten werden und sein Netzwerk ohne Widerspruch schalten und walten kann.»
Zudem gilt Björn Höcke mit Blick auf die Wahlergebnisse der AfD vielen als das beste Pferd im Stall. Seinen bislang grössten Triumph fuhr er am 1. September vergangenen Jahres ein: 32,8 Prozent bei der Landtagswahl in Thüringen, das beste aller Ergebnisse der AfD. Besser noch als in Sachsen (30,6 Prozent) und Brandenburg (29,2).
Höcke als «Deutschlandretter»
Wer immer noch meint, die AfD werde eher trotz Höcke gewählt, quasi aus Protest gegen die unzureichende Performance der etablierten Parteien, sollte Schindlers Buch aufmerksam lesen. Von einer Kundgebung Höckes mit hunderten Teilnehmern im thüringischen Sömmerda kurz vor der Landtagswahl berichtet er: «Hier stehen diejenigen, die die AfD wegen Höcke wählen. Die ihn verehren und von seinen Vorstellungen überzeugt sind. Sie halten den Landes- und Fraktionschef der Thüringer AfD für einen ‘Deutschlandretter’. Davon ist auch Höcke selbst überzeugt.»
Frederik Schindler: Höcke – Ein Rechtsextremist auf dem Weg zur Macht. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2025; 272 S., auch als e-Book