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EU/Türkei

Erdogan nutzt das „Geschenk Gottes“

27. Juli 2016
Arnold Hottinger
Präsident Erdogan hat kurz nach dem fehlgeschlagenen Putsch den versuchten Staatsstreich als ein „Geschenk Gottes“ bezeichnet, weil er „der türkischen Demokratie“ erlaube, sich vor der Gefahr heimlicher Verschwörer zu retten.

Er ist nun im Begriff, von diesem Geschenk in vollem Masse zu profitieren. Seine Ziele sind bekannt: Er ging schon vor dem Putsch darauf aus, seine eigene Macht als „exekutiver Präsident“ zu festigen und – wie er selbst wiederholt erklärt hat – das Land bis 2023 zu regieren. Darum geht es nun, nach dem Putschversuch ebenfalls, nur mit verstärktem Nachdruck. 2023 ist das Datum des hundertsten Jahrs seit der Gründung der Türkischen Republik durch Kemal Atatürk.

Verfassungsänderung als Priorität

Um sein Ziel zu erreichen, muss Erdogan die türkische Verfassung abändern. Die gegenwärtige schreibt vor, dass der Präsident eine unpolitische und repräsentative Rolle einnimmt. Die exekutive Macht spricht die Verfassung dem Ministerpräsidenten zu. Doch dessen Amtsperiode ist auf zwei mal vier Jahre beschränkt.

Erdogan hat sich, nachdem er acht Jahre als Regierungschef regiert hatte,  bereits vom Volk zum Staatspräsidenten küren lassen. Er hat den Umstand, dass seine Partei die parlamentarische Mehrheit innehat, dazu benützt, um als Parteichef, dem die Partei unbedingt folgt, de facto – wenngleich nicht de jure – zu bestimmen, was in der Türkei geschieht und welche Gesetze verbschiedet werden.

Es fehlt die Zweidrittelmehrheit

Die Mehrheit der Regierungspartei AKP ist jedoch ungenügend, um eine Verfassungsänderung auf dem Wege eines Parlamentsbeschlusses durchzubringen. Die AKP verfügt über 317 Mandate in einem Parlament von 550 Abgeordneten. Um die Verfassung revidieren zu können, müsste die Mehrheitspartei über zwei Drittel der Versammlung verfügen, also mindestens 367 Sitze innehaben. Doch der Weg, die Verfassung durch ein Plebiszit zu verändern, steht ihr offen. Dazu braucht die AKP nur eine einfache Parlamentsmehrheit. Die gegenwärtige Verfassung aus dem Jahr 1982 ist in der Tat schon mehrmals durch Plebiszite revidiert worden.

Alle Parlamentsparteien gegen den Putsch

Vor dem Putsch versuchten die drei Minderheitsparteien des Parlamentes, die Diskussion über die Verfassungsänderung hinauszuschieben und sich dem Ansinnen eines Verfassungsreferendums zu widersetzen. Es war allerdings klar, dass die Mehrheitsverhältnisse im Parlament über kurz oder lang dazu führen mussten, dass das Referendum durchgeführt werde.

Nach dem fehlgeschlagenen Putsch hat sich diese Lage verändert. Alle Parteien im türkischen Parlament haben sich als solidarisch gegen den Putsch und für die türkische Demokratie erklärt. Auch die pro-kurdische Partei Demitaschs (HDP mit 59 Abgeordneten), die schon vor dem Putsch im Schatten einer gerichtlichen Anklage stand wegen angeblicher Sympathien mit dem „Terrorismus“ der kurdischen PKK.

Aufhebung der Immunität schon vor dem Putsch

Das Parlament hatte  am 20. Mai ein Gesetz verabschiedet, das die Immunität der Parlamentarier aufhob. Die pro-kurdische HDP und die  Republikanische Volkspartei (CHP, 133 Abgeordnete) sahen dies als ein Instrument an, das in der Zukunft zur Ausschliessung ihrer Parlamentarier aus dem Parlament durch Anklagen seitens der Staatsanwälte führen könnte. Sie suchten daher den Gesetzesvorschlag abzulehnen. Doch sie wurden nach heftigen Diskussionen durch eine Mehrheit von 376 Stimmen überstimmt.
 
Zusammenarbeitsofferte an Teile der Opposition

Nach dem Putsch hat Erdogan die Chefs von zwei der drei Oppositionsparteien am vergangenen Sonntag in seinen Palast über Ankara eingeladen, um über die politische Zukunft des Landes zu sprechen. Die pro-kurdische Partei wurde nicht eingeladen, und ihr Parteichef, Salahettin Demirtasch, protestierte energisch gegen die Ausschliessung. Er erklärte öffentlich, auch seine Partei habe sich gegen den Putschversuch und für die türkische Demokratie eingesetzt.

Resultat der Zusammenkunft im Präsidentenpalast war, dass die beiden eingeladenen Oppositionsparteien den Vorschlag Erdogans annahmen, über eine Verfassungsänderung zu beraten. Im Parlament wurde darauf eine Kommission ernannt, die sich mit der Verfassungsabänderung beschäftigen soll. Auch die Kurdenpartei stimmte der Bildung dieser Kommission zu, gewiss in der Hoffnung, in ihr ebenfalls Vertretung zu finden.

Zuerst „kleine Verbesserungen“

Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte, zunächst seien „kleine Verbesserungen“ der Verfassung geplant. Welche genau, verschwieg er. Man kann annehmen, dass die AKP versuchen wird, zunächst die Mitarbeit und Zustimmung der beiden Oppositionsparteien für kleinere Verfassungsänderungen zu erlangen. Diese könnten dann mit einer Zweidrittelmehrheit innerhalb des Parlamentes beschlossen werden.

Die „kleinen Verbesserungen“ könnten möglicherweise, wie die Beobachter vermuten, die Organisation der Gerichte im Sinne einer weiteren Unterstellung der Richter unter das Justizministerium angehen. Dies würde den Boden bereiten für die „grosse Verbesserung“ betreffend die Vollmachten des Präsidenten.

Demokratie oder Mehrheitsdiktatur?

Das Wort Demokratie wird im Gefolge des Putschversuches gross geschrieben. Alle Seiten erklären sich für Demokratie und gegen das Ansinnen einer Militärregierung. Man hat jedoch anzunehmen, dass der Begriff „Demokratie“ unterschiedlich ausgelegt wird. Für Erdogan und seine Mehrheitspartei bedeutet es, dass der Wille des Volkes vollstreckt werden müsse, und dieser sei, wie die Mehrheitsverhältnisse bewiesen, der Wille der AKP und ihres Führers Erdogans.

Für die Minderheitsparteien gehören zur Demokratie auch die Unabhängigkeit der Gerichte und die Pressefreiheit. Werte, die sie im Zuge der gegenwärtigen „Reinigung“ der Gerichte und der Medien als gefährdet ansehen.

Kuscht die Opposition?

Doch im gegenwärtigen Augenblick ist es einzig Demirtasch und seine Partei, die es wagen, auf solche Demokratiedefizite öffentlich hinzuweisen. Am vergangenen Sonntag demonstrierte die grösste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), auf dem Taksim Platz für Demokratie. Sie hatte trotz des herrschenden Ausnahmenzustandes die Erlaubnis dazu von der AKP-Regierung erhalten. Zehntausende von türkischen Fahnen und von Atatürk-Bildern waren zu sehen, Hunderttausende von Personen demonstrierten auf dem geschichtsträchtigen und zentralen Platz von Istanbul. 

Den Berichten nach waren längst nicht alle Parteigänger der CHP. Viele Demonstranten waren gekommen, um ihrem Willen Ausdruck zu geben, dass die Demokratie erhalten bleibe. Von einer Militärregierung wollen sie jedenfalls nicht regiert werden.

Die Propaganda der AKP

Auch die Mehrheitspartei stellt sich dar als Verteidigerin der Demokratie. Die gegenwärtige Reinigungswelle, die das Land überspült, soll ihren Aussagen nach der Demokratie dienen. Nur undemokratische, verräterische, terroristische Gruppen bekämen nun ihre Strafe zu spüren, so die Propaganda der herrschenden Mehrheitspartei.

Einzig Demitasch und seine Mitstreiter, die selbst wissen dürften, dass sie bereits mit einem Bein im Gefängnis stehen, wagen es, nachzufragen, ob denn diese Demokratie nicht auch gefährdet sei, wenn sie als Mehrheitsdiktatur gehandhabt werde, ohne unabhängige Richter, ohne Pressefreiheit und ohne Versöhnung mit den Kurden, die 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Nicht an Versöhnung interessiert

Dabei verfehlt der Kurdenpolitiker nicht, darauf hinzuweisen, dass die Niederschlagung des Putsches und die Übereinkunft aller Parteien, für ein demokratisches Regime einzustehen, eine Gelegenheit für Erdogan und seine Partei wäre, nun eine Politik der Versöhnung zu betreiben in einer breiten Front aller Demokratiewilligen.

Doch im gleichen Atemzug räumt Demirtasch ein, dass es leider bis jetzt keinerlei Anzeichen dafür gebe, dass Erdogan und seine Gefolgsleute diesen Weg der Zusammenarbeit einzuschlagen gedächten. Die Zeichen deuten vielmehr in die entgegengesetzte Richtung, sie weisen auf ein Streben nach Machtmonopol.

Ängste über das Schicksal der verhafteten Soldaten

Vor dem Gefängiskomplex von Silivri lagern Mütter, Väter und andere Verwandte der Soldaten, die am 16. Juli gefangen genommen wurden. Sie sagen, sie hätten noch immer kein Wort über sie und ihre Lage vernommen. Sie schlafen des Nachts vor dem Gefängnistor. Manche schlafen in ihren Autos andere auf dem Boden, und sie sagen, sie wollten bleiben, bis sie über den Aufenthaltsort und das Wohlbefinden ihrer Kinder Informationen erhielten.

Der Umstand, dass Amnesty International erklärte, die Organisation befände sich im Besitz von Beweisen dafür, dass die gefangenen Soldaten misshandelt würden, steigert ihre Beunruhigung. Der Slogan mancher der AKP-Demonstranten, der lautet: „Wir fordern Blut“, womit sie die Wiedereinführung der Todestrafe verlangen, weckt Furcht bei den Eltern der ausgehobenen Soldaten.

Soldaten unter Gehorsamszwang

Diese Soldaten sind junge Leute, die ihren obligatorischen Militärdienst absolvierten. Sie konnten nicht anders, als das zu tun, was ihnen befohlen wurde, betonen ihre Verwandten. Es gehen auch Berichte um, nach denen diese Soldaten von ihren Vorgesetzten getäuscht worden seien. Sie hätten ihnen gesagt, es handle sich um eine Übung. Nach einer anderen Version habe man ihnen gesagt, Rebellen hätten die Bosporosbrücken besetzt, und sie müssten nun gegen sie vorgehen.

Die wenigen Advokaten, die sich bereit zeigen, die Verteidigung solcher inhaftierter Soldaten zu übernehmen, sagen aus, sie hätten keine Erlaubnis erhalten, ihre Mandanten zu sehen. Man habe ihnen nur die Papiere über die Aussagen der Gefangenen zukommen lassen. Darin stehe übereinstimmend, sie seien getäuscht und gezwungen worden, die Putschhandlungen zu begehen.

Die Säuberungswelle rollt weiter

Die Zahl der inhaftierten Generäle ist inzwischen auf über 120 gestiegen. Unter ihnen befinden sich auch Kommandanten der Truppen im Osten des Landes, die aktiv in den Kurdenkrieg involviert waren. So viele Richter und Gerichtspersonal sind entlassen oder inhaftiert worden, dass man sich schwer eine zügige Bereinigung der Anklagen vorstellen kann, die auf Tausenden von Inhaftierten lasten. Der Ausnahmezustand, der zunächst  auf drei Monate festgelegt ist, erlaubt es den Polizeibehörden, Verhaftete festzuhalten, ohne sie einem Richter vorzuführen. Erdogan hat bereits angetönt, dass dieser Ausnahmezustand wenn nötig auch verlängerbar sei.

Am Dienstag wurde gemeldet, dass Haftbefehle gegen 42 Journalisten ausgestellt worden seien. Die Verdachtsgründe sind meist, dass die Betroffenen für – heute der Regierung unterstellte – Medien gearbeitet hätten, die als solche der Gülen-Anhänger eingestuft wurden.

Belastungsmaterial gegen Gülen? 

Verhaftet wurde auch ein angeblicher Neffe Gülens, der als sein Vertrauensmann in der Türkei gilt. Die Polizei wirft ihm vor, er sei beauftragt gewesen, die in der Türkei gesammelten Gelder der Gülen- Anhänger an Gülen nach den USA zu überweisen. Was jedoch in sich selbst schwerlich eine verbotene Handlung darstellt.

Wenn er ein belastendes Geständnis ablegt, könnte dies den türkischen Behörden dazu dienen, von den USA die Auslieferung Gülens zu fordern. Dass sie dies tun wollen, haben die Regierungsmitglieder und Erdogan selbst sehr deutlich gemacht. Sie erklärten, Beweise gegen Gülen würden gesammelt, um sie den USA zukommen zu lassen. Die Präsidialgarde, eine Elitetruppe von 2'000 Mann, wurde aufgelöst. 300 ihrer Offiziere gelten als in den Putschversuch involviert.

 

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