Schon während mehr als dreieinhalb Jahren dreht sich die neutralitätspolitische Diskussion des Parlamentes zu einer Änderung des Kriegsmaterialgesetzes um sich selbst. Bei dieser helvetischen Nabelschau ist der Realitätsbezug gänzlich verloren gegangen.
Seit September 2022 (Motion 22.4103) befasst sich das Parlament mit einer Änderung des Kriegsmaterialgesetzes (KMG), um das derzeit geltende Verbot der Ausfuhr und Wiederausfuhr von Kriegsmaterial in ein Land, das «in einen internen oder internationalen bewaffneten Konflikt verwickelt ist» (Art. 22a Abs. 2 Bst. a) zu lockern. Damit sollte den Ländern, die früher Flab-Munition oder Schützenpanzer in der Schweiz gekauft hatten (u.a. Deutschland und Dänemark) deren Wiederausfuhr in die Ukraine ermöglicht werden.
Die strikte Verbotsregelung bewirkte und bewirkt, dass kein Nato-Land mehr Kriegsmaterial in der Schweiz kauft, da dessen Weitergabe auch an ein anderes Nato-Land selbst in einem Fall der kollektiven Verteidigungspflicht (Art. 5 des Nato-Vertrages) verboten wäre. Die Folge ist eine Existenzkrise der schweizerischen Rüstungsindustrie. Ein erster Entwurf der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrates (SiK-N) stützte sich auf eine Liste von 25 westlichen Ländern, angehängt an die Kriegsmaterialverordnung, für welche das Wiederausfuhrverbot fünf Jahre nach dem Kauf entfallen sollte. Das bedeutete Neutralität mit Verfalldatum. Eine Mehrheit fand sich nicht.
Unüberlegte Reformvorschläge
Im Juni 2025 nahm der Ständerat einen Antrag an, wonach ein Empfängerland, das dieser Liste der 25 angehört, «das seit Inkrafttreten dieser Bestimmung erhaltene Kriegsmaterial ohne Zustimmung der Schweiz an ein anderes Land weitergeben» darf. Diese Formulierung widerspricht aber explizit dem von der Schweiz ratifizierten Waffenhandelsvertrag, nach dem jede Waffenausfuhr einzeln bewilligt werden muss. Gleichzeitig beschloss der Ständerat auch eine Ergänzung von Art. 22a Abs. 2 Bst. a KMG, wonach diese Bestimmung «nicht für Länder (gelte), für welche der Bundesrat Ausnahmen von der Einzelbewilligungspflicht vorsieht [Länder des Anhangs 2 KMV]. Ausfuhrgesuche für diese Länder werden bewilligt, ausser es liegen ausserordentliche Umstände vor und die aussen- oder sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz erfordern eine Ablehnung.»
Im Juni 2025 verkündete die SVP in der Sonntagszeitung: «Wir haben es abgeklärt, die Wiederausfuhr hat nichts mit der Neutralität zu tun». Doch dies hat sie bereits wieder vergessen. Denn am 6. November war zu vernehmen, dass eine Allianz aus bürgerlichen Fraktionen im Schlepptau der SVP einen neuen Entwurf der SiK-N vorschlägt, und zwar auf dem ungewöhnlichen Weg über die Medien (Echo der Zeit von SRF). Er besteht aus zwei Teilen. Zunächst soll der Beschluss des Ständerates betr. Art. 22a Abs. 2 bst. a KMG ergänzt werden: nicht nur «die aussen- oder sicherheitspolitischen Interessen der Schweiz», sondern auch die neutralitätspolitischen Interessen sollen für eine Ablehnung massgebend sein.
De facto entspricht dies jedoch der heutigen Situation, ausser dass die Regelung auf die neutralitätspolitisch ja nicht haltbare Liste der 25 Länder (aus dem Jahr 2011) beschränkt wird. Zu diesen gehören u.a. die USA, aber auch Ungarn und die Slowakei. Darin fehlen umgekehrt mehrere heutige Schengen-Staaten, welche alle rechtsstaatlichen Anforderungen erfüllten. Pikant an diesem Vorschlag ist, dass der Bundesrat einem dieser quasi neutralitätspolitisch privilegierten Länder die Wiederausfuhr allenfalls verbieten müsste.
Insbesondere im Verhältnis zu den USA, bei denen die Schweiz nicht nur die F-35, sondern auch Patriot-Raketenabwehrsysteme kaufen will (und im Übrigen in einem heftigen Zollstreit steckt), offenbart sich der Widersinn des Vorschlags. Solange solche gesetzlich vorgeschriebenen Wiederausfuhrbeschränkungen bestehen, wird weiterhin zumindest kein Nato-Land Kriegsmaterial in der Schweiz kaufen. Damit erweist sich der Vorschlag als Rohrkrepierer, auch wenn die Swissmem diesen begrüsst und er dem Vernehmen nach auch im VBS Unterstützung fände.
Ein zweiter Teil des Vorschlages sieht vor, dass «bei Einzelteilen und Baugruppen grundsätzlich auf die Nichtwiederausfuhr-Erklärung verzichtet wird, wenn feststeht, dass es sich um eine Zulieferung im Rahmen einer internationalen Wertschöpfungskette handelt». Dies kommt einer Aushebelung von Art. 1 und 2 des Embargogesetzes gleich und unterläuft den Sanktionsmechanismus «der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa oder von den wichtigsten Handelspartnern der Schweiz» (Art. 1).
Übles Verwirrspiel
Was heisst denn schon «internationale Wertschöpfungskette»? Die Formulierung bezieht sich auf eine schwammige Ausführung des Bundesrates in seiner Botschaft zur Neutralitätsinitiative. Es heisst dort, dass «Zulieferung von Kriegsmaterial in Form von Einzelteilen und Baugruppen an Länder des Anhangs 2 KMV unter bestimmten Bedingungen möglich» bleibe. Die vorgeschlagene Bestimmung hebelt nun auch «unter bestimmten Bedingungen» aus. Schon jetz sind in den russischen Drohnen Elektronikbauteile aus der Schweiz zu finden, die wohl auch via solche Wertschöpfungsketten dorthin gelangt sind.
Es handelt sich um ein übles Verwirrspiel, denn die SVP will explizit, dass keine Waffen in die Ukraine gelangen. Dies kommt dem puren Gegenteil von Neutralität gleich. Im Gegenteil: Entgegen dem ohnehin seit der Uno-Charta obsoleten Gleichbehandlungsgebot, auf das sich bislang der Bundesrat immer wieder bezog, kommt dies einer Bevorteilung des Putinschen Aggressionskrieges mit seriellen Kriegsverbrechen gegen die Ukraine und einer Benachteiligung der ukrainischen Verteidigungsanstrengungen gleich. Noch im Neutralitätsbericht von 1993 schrieb der Bundesrat: «Dieses System (d.h. die Uno-Charta) verlangt immer und von allen Staaten aktives Handeln gegen den Friedensbrecher». Alles vergessen, ein trauriger Befund, der jeden ethischen Gehalt von Neutralität verneint, den Neutralitätsbegriff aushöhlt und rein opportunistischen und puren wirtschaftlichen Interessen unterordnet.
Mit diesen Änderungsvorschlägen wird eine weitere Sprosse auf der Leiter der Unglaubwürdigkeit der aktuellen schweizerischen Neutralität erklommen. Dies ist nicht im Interesse einer schweizerischen Sicherheitspolitik. Diese Befürchtung äussert der Bundesrat mehrfach und prononciert in seiner rüstungspolitischen Strategie vom Juni dieses Jahres. Sie bleibt aber offensichtlich ungelesen und unbeachtet. Man muss sich umgekehrt nur einmal vorstellen, wie dies wäre, wenn sich die Schweiz verteidigen muss – und keine Hilfe erfährt. Egoistischer geht es nicht mehr. Das hat auch Prof. Marco Sassóli in seinem Gastbeitrag in der NZZ vom 7. November 2025 noch nicht bemerkt. Sinn und Zweck der Uno-Charta sind für ihn offensichtlich unbedeutend, er kettet sich an eine formalistische Auslegung einzelner Formulierungen in einem dem schweizerischen Rechtsverständnis fremden, ja verpönten Rechtspositivismus.