Traum oder Albtraum? Nicht für alle Ostdeutschen war der 3. Oktober 1990 ein Freudentag. Doch lässt sich die Geschichte vom Werden und Vergehen der DDR glaubhaft und nachvollziehbar anhand des Lebens (und Leidens) treuer SED-Genossen erzählen? Christoph Hein zeigt eindrucksvoll, wie das geht.
Es war wenige Minuten nach Mitternacht, als junge Sportler aus beiden Teilen Berlins am 3. Oktober 1990 zu den Klängen der Freiheitsglocke das schwarz-rot-goldene Banner vor dem Reichstag aufzogen. Hunderttausende jubelten. Sektkorken knallten, Lichtkegel erhellten den Nachthimmel. «Für die Deutschen wird ein Traum Wirklichkeit», sagte Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Fernsehansprache.
Für die Deutschen? Vielleicht für die meisten, gewiss nicht für alle. Und ganz sicher nicht für die Protagonisten des Romans «Das Narrenschiff» von Christoph Hein. Für sie war die «Wiedervereinigung» – genauer: der offizielle Vollzug des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland – an jenem 3. Oktober ein Albtraum. Ihr Feiertag war nicht der 3., sondern der 7. Oktober, die Gründung des «ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden» im Jahr 1949.
Epochales Werk über Werden und Vergehen der DDR
Christoph Hein, geboren 1944 im schlesischen Heinzendorf, aufgewachsen in Bad Düben bei Leipzig, hat mit dem «Narrenschiff» ein epochales Werk über die Geschichte der DDR und das Leben in diesem Frontstaat des Kalten Krieges geschaffen. Hein erzählt schnörkellos, was die 750-Seiten-Lektüre sehr erleichtert. Persönliche Schicksale sind eingebettet in die nicht selten dramatische Ost-West-Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. So entsteht ein Spannungsbogen, der auch dank Heins Geradeaus-Erzählweise nie abreisst.
Das Werden und Vergehen der DDR, die so mancher als eine Diktatur von Moskaus Gnaden ansah, macht Hein anhand des Schicksals von Menschen nachvollziehbar, die lange an den Sozialismus als die bessere Gesellschaftsordnung glaubten: Da sind Johannes und Yvonne Goretzka. Er ist ein Ex-Nazi, der sich in russischer Kriegsgefangenschaft zum Sowjetfreund wandelte und als SED-Kader eine wechselvolle Karriere erlebt. Yvonne hat ihn nicht aus Liebe, sondern aus Not geheiratet; ein Versorger für sie und die kleine Tochter von ihrem in der Nazi-Zeit verschollenen jüdischen Geliebten. In die SED tritt Yvonne zwar erst nach hartnäckigem Drängen ihres Ehemanns ein, aber auch sie arrangiert sich mit dem System.
Treue SED-Genossen mit gewissen Schwächen
Die Goretzkas freunden sich mit Rita und Karsten Emser an. Rita ist eine hohe Funktionärin im staatlichen Kulturbetrieb. Der Ökonomieprofessor Emser – im Krieg gehörte er zum Führungskreis der deutschen Exil-Kommunisten in Moskau – ist sogar Mitglied des SED-Zentralkomitees. Wenngleich man dort wenig von seinen Wirtschaftstheorien hält.
Karsten Emser ist das Zentralgestirn eines Freundeskreises, zu dem auch der international angesehene Shakespeare-Kenner Benaja Kuckuck gehört. Allesamt sind sie (mal mehr, mal weniger) treue SED-Genossen – und ansonsten auch Menschen mit Mucken und Macken, mit Schwächen zum Beispiel für teure Schuhe, Alkohol oder Liebesaffären, wobei Kuckuck dasselbe Geschlecht wie das seine bevorzugt.
Die regelmässigen Treffen des Freundeskreises, meist im Hause Emser, werden zu Reflexionen von Ereignissen und Entwicklungen, die massgeblich die Geschichte der DDR prägten: Konrad Adenauers Ablehnung einer Wiedervereinigung zu sowjetischen Bedingungen, der Volksaufstand am 17. Juni 1953, die Aufdeckung der Verbrechen Josef Stalins, der Mauerbau, die Entmachtung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker mit dem Segen Moskaus und schliesslich der Fall der Mauer.
Das Ende dieses Staates war vorgezeichnet
Es zeugt von Grösse und zugleich von gestalterischem Können, dass Hein – seinerzeit selbst alles andere als ein Freund der DDR-Oberen – diese Menschen mit Empathie darstellt statt als dumpfe Gefolgsleute eines beim Volk verhassten Regimes. Das macht ihre Irrungen und Verstrickungen und den Prozess ihrer Desillusionierung ebenso gut nachvollziehbar wie das unausweichliche Scheitern ihres Staates.
Natürlich ist das Ende der DDR zu weiten Teilen jenen ihrer Bürger zu verdanken, die ihr 1989 in Scharen den Rücken kehrten oder – mehr noch – mutig auf die Strasse gingen, um gegen die SED-Herrschaft zu protestieren. Doch letztlich war der Untergang dieses Staates wohl vorgezeichnet. Vor allem, weil er auf einem starren ideologischen Gesellschafts- und Wirtschaftssystem beruhte, in dem Menschenrechte und individuelle Freiheiten keine Rolle spielten.
Wodka kann das Entsetzen über Stalin nicht dämpfen
Eine Vorahnung vom Untergang des Kommunismus bekommt die Roman-Freundesrunde schon lange vor dem tatsächlichen Ende der DDR: Bei einem ihrer Treffen im Jahr 1956 berichtet der dank ZK-Mitgliedschaft stets besser informierte Karsten Emser von der Geheimrede, in der Nikita Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU die Verbrechen des Stalin-Regimes offenlegte. Auch etliche Gläser Wodka können an diesem Abend nicht das Entsetzen der Gutmensch-Genossen über die Erkenntnis dämpfen, dass «Väterchen Stalin», der Bezwinger Hitlers, gezielt die Eliten in Partei, Wirtschaft und Armee der UdSSR vernichten und Hunderttausende Sowjetbürger, die er als Volksfeinde ansah, in der Haft hatte umbringen oder in Straflager einweisen lassen.
Benaja Kuckuck, sichtlich unter Schock: «Karsten, das könnte all dem, woran wir glauben, wofür viele von uns ihr Leben einsetzten, was unser Traum von einer menschlichen, einer gerechteren Zukunft ist oder vielmehr war, den Todesstoss versetzen. Der Traum von einer Sache, ist er nun ausgeträumt?»
Eine Partei mit enorm vielen Mitläufern
Nein, Narren waren sie nicht, diese Genossinnen und Genossen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Dass sie nach den Gräueltaten des Nazi-Regimes lange daran glauben wollten, im Orbit sowjetischer Kommunisten könne ein gut funktionierender, halbwegs demokratischer sozialistischer Staat auf deutschem Boden aufgebaut werden, macht sie nicht zu Dummköpfen. Dennoch hätten sie – zumindest in den letzten Jahren der DDR – erkennen können, dass sie auf einem Narrenschiff mit Kenterkurs unterwegs waren.
Doch sie blieben an Bord. Wie so viele andere. Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung hatte die SED im Mai 1989 noch fast 2,3 Millionen Mitglieder. Und damit, bezogen auf die Bevölkerungszahl, die meisten unter den kommunistischen Parteien der Ostblockstaaten. Freilich war der Anteil der Mitläufer enorm hoch: Massenweise traten Menschen aus der Partei aus, sobald dieser Schritt angesichts des absehbaren Zusammenbruchs des SED-Regimes ihre berufliche Entwicklung nicht mehr gefährden konnte. Aber eben keinen Moment früher.
Wichtiger Beitrag zum Verständnis des DDR-Systems
Auch mit Blick darauf leistet Hein einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des Systems DDR, indem er die Fahrt des sozialistischen Narrenschiffs mit dem Fokus auf das Schicksal von Passagieren in den besseren Kabinen nachzeichnet, ohne den kritischen Blick auf ihr Tun und Lassen zu verlieren.
Zur Feier der Einheit am 3. Oktober passt die Lektüre seines bei Suhrkamp erschienenen Romans bestens. Am Ende herrscht zwar eine gewisse Traurigkeit über Menschen, deren Kompass sie 40 Jahre lang auf einen falschen Weg führte. Aber es überwiegt die Erleichterung darüber, dass das alles längst der Vergangenheit angehört. Was nicht heisst, dass wir Deutschen uns immer wieder – und nicht nur jeweils am 3. Oktober – fragen müssen, wie weit wir mit der Verwirklichung unserer Einheit tatsächlich gekommen sind.
Christoph Hein: Das Narrenschiff. Roman; Suhrkamp, Berlin 2025; 750 S., auch als e-Book