
Jedes Kind, das in Gaza getötet wird, spricht den Beteuerungen der israelischen Armee (IDF) Hohn, sie würde lediglich Terroristen der Hamas zielgenau und unter Rücksicht auf die Zivilbevölkerung attackieren. Dem Gesundheitsministerium in Gaza zufolge sind seit Kriegsbeginn nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 16’506 Kinder gestorben – in einem jüngsten Fall nach einem Luftangriff neun Geschwister unter zwölf Jahren.
Am vergangenen Freitag tötete eine Attacke der IDF auf ein Haus in Khan Yunis im Süden des Gaza-Streifens neun Kinder; zwei waren zwischenzeitlich noch vermisst und allein ein zehntes, der elfjährige Adam, überlebte schwer verletzt. Alle waren sie die Kinder von Hamdi und Alaa al-Najjar, eines Arztes und einer Ärztin, die im Nasser Spital tätig sind.
Ein Onkel der Kinder berichtete, das Haus sei ohne Vorwarnung angegriffen worden. Währenddessen beteuerten Kolleginnen und Kollegen des Ärztepaares, die Familie Al-Najjar habe weder politische noch militärische Verbindungen zur Hamas unterhalten. Mutter Alaa brach Augenzeugen zufolge zusammen, als sterbliche Überreste ihrer Kinder ins Spital gebracht wurden, wo sie arbeitet.
Der Onkel selbst traf kurz nach dem Luftangriff am Ort des Geschehens ein und fand seinen Bruder und einen Enkel blutend und schwer verletzt vor: «Alles brannte. Wir wussten, dass die Kinder im Haus waren und begannen sie zu suchen. Während wir suchten, tauchten verkohlte Leichen und Körperteile auf. Wir konnten sie nicht identifizieren; sie waren alle verbrannt. Es war ein schrecklicher Anblick, den auszuhalten unmöglich ist. Was haben diese Kinder Falsches getan? Was ist mit der ganzen Familie, einem Arzt, einer Ärztin und kleinen Kindern?»
«Eine neue Phase des Völkermords»
Die israelische Armee teilte mit, sie habe in der Nacht auf Freitag mehrere Verdächtige identifiziert, die in einem Gebäude in der Nähe ihrer Truppen operierten – in einem gefährlichen Kampfgebiet, aus welchem Zivilisten zuvor zu ihrem eigenen Schutz evakuiert worden seien. Doch laut einem Professor der Ben-Gurion-Universität und einem in sozialen Medien präsenten Aktivisten lag das Haus der Familie Al-Najjar ausserhalb des von der Armee angeordneten Evakuationsgebiets.
Die Hamas bezeichnete den Luftangriff auf das Haus der Familie als ein «schreckliches Massaker» und als deutlichen Ausdruck «der sadistischen Natur der Besatzung». Francesca Albanese, Berichterstatterin der Uno für die besetzten palästinensischen Gebiete, kommentierte, die Attacke stelle «ein erkennbares Muster der neuen Phase des Völkermords» dar
Laut einer Einschätzung der Uno stehen derzeit mehr als 80 Prozent Gazas unter Evakuationsbefehl oder direkter militärischer Kontrolle der IDF, was heisst, dass den rund 2,2 Millionen Einheimischen noch 73 Quadratkilometer zum Überleben bleiben. Wie üblich in solchen Fällen hiess es seitens der israelischen Armee bezüglich des Luftangriffs auf das Haus der Familie Al-Najjar, «die Behauptung von Schäden an unbeteiligten Zivilisten» werde untersucht, aber dies wird wohl, wie die Erfahrung aus ähnlichen Fällen zeigt, ohne Konsequenzen bleiben.
Säuglinge vom Hungertod bedroht
Die IDF teilte weiter mit, sie habe am fraglichen Freitag mehr als 100 Ziele im Gaza-Streifen angegriffen. Diese Attacken töteten palästinensischen Behörden zufolge innert 24 Stunden 79 Menschen, unter ihnen 30 Zivilisten und Mitglieder der Familie Dardouna. Eine Aufnahme, die der dieses Jahr mit dem Pulitzer-Preis prämierte palästinensische Dichter Mosab Abu Toha geteilt hat, zeigt ein noch nicht einjähriges Mädchen im Pyjama, dessen Leiche aus den Trümmern eines Hauses geborgen wird.
Seit Kriegsbeginn sind in Gaza laut dem von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium 916 Kinder getötet worden, die jünger als ein Jahr alt waren. 4’365 Kinder waren zwischen ein und fünf Jahre alt, 6’101 zwischen sechs und zwölf. Die übrigen der insgesamt 16’506 jungen Opfer waren zwischen 13 und 17 Jahre alt.
Bis dato sind seit dem 7. Oktober 2023 im Küstenstreifen 53’901 Menschen ums Leben gekommen. Zuständige internationale Stellen und Hilfsorganisationen gehen von einer noch deutlich höheren Opferzahl aus. Währenddessen sind der Uno zufolge 14’000 Säuglinge in Gaza in den nächsten Monaten ohne Hilfslieferungen vom Hungertod bedroht – eine Folge, wie die NGO Human Rights Watch das nennt, von «Hunger als einem Werkzeug des Auslöschens». Zwar hat Israel angekündigt, die Verteilung von Hilfsgütern selbst in die Hand nehmen zu wollen, aber die dafür von Premier Netanjahu hinter dem Rücken der IDF gegründete und von den USA unterstützte Gaza Humanitarian Foundation Organisation (GHF) gilt als unerfahren, wenn nicht sogar als leicht suspekt.
Menschliche Schutzschilde
Die israelische Armee gab am Wochenende ferner bekannt, sie untersuche «mehrere Fälle», in denen Soldaten der IDF Palästinenser gezwungen hätten, als menschliche Schutzschilde zu dienen, wenn es darum ging, Gebäude oder Tunnels auf Bomben oder Verstecke von Hamas-Kämpfern hin zu checken. Ein solches Verhalten, so die IDF, sei gemäss ihren Reglementen strikt verboten. Dagegen berichtet die Nachrichtenagentur AP, das fragliche Vorgehen sei während der 19 Monaten des Krieges «allgegenwärtig» geworden.
Auch Menschenrechtsgruppen äussern sich besorgt, was die Praxis des Einsatzes von menschlichen Schutzschilden betrifft. «Das sind keine isolierten Vorfälle; sie verweisen auf ein systemisches Versagen und einen moralischen Kollaps», erklärt Nadav Weiman, Direktor von «Breaking the Silence», einer Gruppe von Whistleblowern in der israelischen Armee: «Israel verurteilt die Hamas zu Recht für den Einsatz von Zivilisten als menschliche Schutzschilde, aber unsere eigenen Soldaten beschreiben, wie sie dasselbe tun.»
«Ein ewiger Krieg»
Währenddessen sagte am Wochenende Eyal Zamir, der Generalstabschef der IDF, während einer Tour durch den Gaza-Streifen: «Dies ist kein endloser Krieg – wir werden daran arbeiten, ihn zu verkürzen, während wir seine Ziele erfüllen … wir werden es mit Entschlossenheit, Gründlichkeit und unter Wahrung der Sicherheit der Streitkräfte tun.»
Die von einem IDF-Sprecher zitierte Äusserung des Armeechefs erfolgte zwei Tage nach einem Bericht des Fernsehsenders Channel 12 News, wonach Generalmajor David Zini, den Premierminister Benjamin Netanjahu zum Leiter des Inland-Geheimdiensts Shin Bet ernannt hat, in geschlossenen Gesprächen gesagt habe, er sei gegen Geiselgeschäfte und der Krieg in Gaza sei ein «ewiger Krieg».
Schüsse auf westliche Diplomaten
Erklärungsbedürftig war Mitte der Woche auch der Umstand gewesen, dass israelische Soldaten Warnschüsse auf eine Gruppe von westlichen Diplomaten, palästinensischen Offiziellen und Journalisten abfeuerten, welche die Stadt Jenin im Westjordanland besuchten. Die Delegation, teilte die IDF mit, sei von der offiziell vereinbaren Route abgewichen und habe sich in einer verbotenen Zone aufgehalten. Die Armee bedaure jedoch «die verursachten Unannehmlichkeiten» und werde den Vorfall untersuchen. Der Bürgermeister von Jenin und Diplomaten widersprachen der Interpretation der IDF: «Es gab keine Provokation.»
Zwar würden die internationale Politik und die Medien langsam erwachen, was die Realität des Krieges in Gaza und das Schicksal der Kinder angehe, schreibt «Guardian»-Kolumnistin Arwa Madhawi. So habe sich Grossbritannien etwa dazu durchgerungen, die Lage als «unerhört» zu bezeichnen: «All das ist zu wenig und zu spät. Es wird die kleine Hind Rajab nicht zurückbringen, ein fünfjähriges Mädchen, das getötet wurde, als israelische Soldaten 335 Kugeln auf das Auto abgefeuerten, in dem das verängstigte Kind eingeschlossen war. Oder die von Israel hingerichteten und in flachen Gräbern verscharrten Mitarbeiter von Hilfsorganisationen.»
Grosse Gruppe amputierter Kinder
Die blosse Kritik, so Madhawi, werde auch die Krankenhäuser, Kindergärten, IVF-Zentren und Universitäten, die von Israel systematisch dem Erdboden gleichgemacht wurden, nicht wieder aufbauen: «Sie wird den Kindern in Gaza – der grössten Gruppe von amputierten Kindern in der Welt – nicht ihre Gliedmassen zurückgeben. Sie wird die langfristigen Schäden nicht beheben, die Unterernährung und fast zwei Jahre ohne Schulbildung bei einer ganzen Generation hinterlassen haben.»
Quellen: Haaretz, The Guardian, The New York Times, AP, BBC