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Drogen? Alkohol? Unfall?

Ein Diplomatensohn in der Genfer "Bronx"

3. September 2011 , Genf
Pierre Simonitsch
Die Genfer Medien wurden dieses Jahr im Hochsommerloch mit einer Story beglückt, die alle Zutaten eines Knüllers enthielt: Daniel, 20, Sohn amerikanischer Diplomaten, sei in der Nacht von 15. auf den 16. Juli auf dem Nachhauseweg nach einem Fest mit Freunden mitten in der Stadt auf einer Brücke von „zwölf bis dreizehn Nordafrikanern“ überfallen worden, die versuchten, ihn übers Geländer in die Rhône zu werfen.

Ein zufällig daherradelnder Velofahrer habe die brutalen Angreifer in die Flucht geschlagen. Daniel, der mit einem gebrochenen Handgelenk und oberflächlichen Gesichtsverletzungen davonkommt, erstattete Anzeige.

Ein Aufschrei der Empörung hallte durch die Republik. Auf den Leserbriefseiten dominiert die bange Frage: Herrschen in Genf schon Zustände wie in der Bronx? Dass die Bronx seit Jahrzehnten ein Mittelklassequartier von New York und nicht gefährlicher als Manhattan oder Brooklyn ist, tut nichts zur Sache. Der Spruch soll ein mulmiges Gefühl ausdrücken, das fremdenfeindliche Gruppen sofort weidlich ausschlachten. „L’insécurité“ ist zum Thema Nummer eins der Lokalpolitik geworden.

Eine breitere Dimension erhielt der „Fait divers“ durch das ungestüme Vorpreschen des Sicherheitschefs des Genfer UNO-Sitzes. Der internationale Polizeibeamte fühlte sich veranlasst, seine Untergebenen von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen. Anschliessend schickte er allen 3000 UNO-Beamten eine E-Mail, in der er sie davor warnte, nachts allein durch die Rhonestadt zu wandeln. „Der junge Mann hätte sein Leben verlieren können“, gibt das Rundschreiben zu bedenken.

Sogar Micheline Calmy-Rey...

Das mutmassliche Opfer ist zwar kein amerikanischer Diplomatensohn, wie er von den Medien weiterhin beschrieben wird, aber immerhin der Sohn einer Amerikanerin, die im Genfer „Palais des Nations“ arbeitet. Daniels Vater hat einen Job beim Sicherheitsdienst im New Yorker Hauptquartier der UNO. Das erklärt vielleicht das aktive Mitgefühl der Kollegen in Genf.

Die Warnung vor den Gefahren im Dschungels der Beinahe-Grossstadt verbreitete sich über die Mauern und Stacheldrahtzäune der UNO-Festung hinweg. Auch ausländische Medien stürzten sich auf den Fall. Genf sei auf bestem Wege, seinen Ruf als sicherer Ort für Konferenzen, internationale Organisationen und Weltfirmen zu verspielen, befürchten besorgte Bürger.

Sogar Bundesrätin Micheline Calmy-Rey (SP) fühlte sich verpflichtet, die für die Genfer Polizei zuständige radikal-liberale Staatsrätin Isabel Rochat zu ermahnen. In einem Brief an Rochat drückte die Aussenministerin ihre „Sorge über die Verschlechterung der Sicherheitslage in Genf in den letzten Monaten“ aus. Diese Kritik eskalierte zu einem handfesten Streit zwischen der Genfer Regierung und dem Bund, die sich gegenseitig Versäumnisse vorwerfen. Calmy-Rey und Rochat wollen sich am 12. September treffen, um über die Situation zu diskutieren. Bis dahin könnte sich aber der Überfall einer Bande von Nordafrikanern auf den amerikanischen Diplomatensohn als ein Produkt jugendlicher Phantasie entpuppen.

Streit im Drogenmilieu?

Die Angaben des jungen Amerikaners wiesen von Anfang an Widersprüche auf. Er konnte nicht glaubhaft erklären, was er um vier Uhr morgens auf der „Pont de l’Ile“ suchte, die als Drogenumschlagplatz bekannt ist. Der Velofahrer, der die Angreifer in die Flucht geschlagen haben soll, blieb unauffindbar. Am Freitag brachte die Zeitung „Le Matin“ eine neue Fassung. Sie will aus Genfer Polizeikreisen erfahren haben, dass sich Daniel nach seiner Rückkehr aus den Ferien in Südfrankreich an nichts mehr erinnern kann.

„Er war damals zu besoffen, um sich zu erinnern, ob er Drogen kaufen wollte oder nicht“, zitiert „Le Matin“ eine Polizeiquelle. Daniel sei ein gelegentlicher Haschischkonsument. Bei seiner Vernehmung am Mittwoch sprach er nur mehr von zwei oder drei Personen, die ihn überfallen hätten. Journal 21 will den polizeilichen Ermittlungen nicht vorgreifen, aber es hat allen Anschein, dass die Staatsaffäre zu einem tätlichen Streit im Drogenmilieu oder einem Unfall zusammenschrumpft.

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