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Israel

«Die Welt verschliesst die Augen»

21. Juli 2025
Ignaz Staub
Ignaz Staub
Al-Shifa-Spital
Leichen palästinensischer Männer liegen im Al-Shifa-Spital. Die Männer waren an einer Lebensmittelverteilerstelle in Gaza-Stadt von israelischen Einheiten erschossen wurden. Das Bild stammt vom Sonntag. (Foto: Keystone/EPA/Mohammed Saber)

Erneut hat die israelische Armee am letzten Samstag bei einem Verteilzentrum der Gaza Humantarian Foundation (GHF) Dutzende Menschen getötet und verletzt – der zweite derartige Vorfall innert einer Woche. Wenige Tage zuvor hatte die IDF bei einer Verteilstelle für Wasser sechs Kinder und vier Erwachsene tödlich getroffen. Ebenfalls unter der Woche tötete ein israelischer Luftangriff auf eine katholische Kirche in Gaza drei Menschen. 

Augenzeugen sprachen von einem «Massaker» und davon, die israelische Armee habe «wahllos» auf Menschen geschossen, die bei zwei Verteilzentren der GHF im Süden Gazas auf Lebensmittelhilfe warteten. Mindestens 32 Menschen, unter ihnen vor allem junge Männer, wurden getötet und mehr als 100 Personen verletzt. 

Die Humanitäre Stiftung dementierte, dass es in der Nähe ihrer Stellen zu Zwischenfällen gekommen sei, und die IDF sprach von «Warnschüssen» auf eine Gruppe Verdächtiger, die sich der Truppe genährt und Warnungen, auf Distanz zu bleiben, missachtet hätten. 

Laut einem Verantwortlichen des Nasser Spitals, in das die Opfer am vergangenen Samstag eingeliefert wurden, sei den meisten Toten und Verwundeten in Kopf und Bauch geschossen worden: «Die Lage ist schwierig und tragisch.» Es fehlten Medikamente, um die Menschen, die täglich eingeliefert werden, adäquat zu versorgen.

«Es gibt weder Essen noch Trinken»

Bereits Mitte Woche waren bei einer anderen Verteilstelle der GHF im Süden Gazas mindestens 20 Palästinenserinnen und Palästinenser gestorben, als bewaffnetes Sicherheitspersonal Tränengas oder Pfefferspray auf die wartende Menge hungriger Menschen abfeuerte und es zu einem panischen Gedränge kam. Gazas Gesundheitsministerium zufolge erstickten dabei 15 Menschen. Eine Person wurde erstochen.  

Abdel Ghani Rouqas 20-jähriger Neffe Mohammad war unter den Toten. «Die Zelte sind jetzt völlig leer, es gibt weder Essen noch Trinken, sodass die Menschen, die keine anderen Möglichkeiten oder Alternativen haben, gezwungen sind, sich in gefährliche Zonen zu begeben, nur um eine Dose Fava-Bohnen oder Hummus oder sogar ein paar Kilogramm Mehl zu bekommen – alles, um ihre hungrigen Familien zu ernähren», sagte Rouqa.

Die GHF wies die Darstellungen von Angehörigen und den Gesundheitsbehörden in Gaza zurück und machte stattdessen die Hamas für den Vorfall verantwortlich: «Machen Sie keinen Fehler, dieser tragische Vorfall war kein Unfall. Es handelte sich um eine kalkulierte Provokation, die Teil einer gezielten Strategie der Hamas und ihrer Verbündeten ist, unsere lebensrettenden Einsätze zu unterbinden.» Pfefferspray, so der Sprecher der GHF, sei eingesetzt worden, um einen noch grösseren Verlust an Menschenleben zu vermeiden. 

«Technisches Versagen»

Seit die von Israel und den USA als Ersatz für Uno-Hilfsorganisationen und NGOs initiierte Gaza Humanitarian Foundation Ende Mai ihre Verteilzentren geöffnet hat, hat die israelische Armee mindestens 800 Menschen getötet, die versuchten, für ihre Familien Lebensmittel zu erhalten. Unter der Woche hat die US-Regierung mitgeteilt, sie würde die GHF mit 30 Millionen Dollar unterstützen – ein Beschluss, den der demokratische Senator Chris Van Hollen (Maryland) als «empörend» taxiert.

Währenddessen hat Ende vorletzter Woche ein israelischer Luftangriff auf eine Wasserverteilstelle im Zentrum Gazas zehn Menschen, unter ihnen sechs Kinder, getötet und weitere teils schwer verletzt. Die Attacke galt der israelischen Armee zufolge einem Terroristen des Islamischen Dschihad, doch die eingesetzte Munition habe das Ziel «aufgrund eines technischen Versagens» um Dutzende Meter verfehlt. Die IDF sei sich der Berichte bezüglich Opfer bewusst und untersuche den Vorfall: «Die IDF bedauert jeglichen Schaden an unbeteiligten Zivilisten.»

«Das Ende der Welt»

«Durstige Kinder, auf der Suche nach Wasser, um ihren Durst zu stillen. Sie sind als starre Leichen in ihre Häuser zurückgekehrt», sagte Ramadan Nasser, ein Augenzeuge des Massakers, der im Gebiet von Nuseirat lebt. «Während ich dokumentiere … meine Augen in der Kameralinse, mein Herz bricht dahinter. Vor mir liegen alle auf dem Boden, ihre Gesichter sind mit Staub bedeckt, ihre Blicke verloren, ihre kleinen Körper zittern und fallen dann zu Boden», schrieb der Augenzeuge in einer WhatsApp-Nachricht nach dem Vorfall: «Es ist, als würde ich das Ende der Welt aufnehmen, Bild für Bild.»

Unter den toten Kindern waren der neunjährige Karam al-Ghussein und seine zehnjährige Schwester Lulu, die ihrem kleinen Bruder beim Wasserholen helfen wollte. Die Geschwister warteten mit Kanistern und Kübeln bei der Verteilstelle, als die Bombe die beiden Kinder fast bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte. «Sie liessen mich nicht einmal Abschied nehmen oder sie ein letztes Mal ansehen», sagte ihre Mutter Heba. «Einer meiner Brüder umarmte mich, versuchte, mir die Szene vor Augen zu halten, während er weinte und mich zu trösten versuchte. Danach erinnere ich mich an nichts mehr. Ich verlor den Bezug zur Realität.»

Der Traum von Ende der Blockade

Beide Kinder träumten ihrer Mutter zufolge vom Tag, an dem Israel seine Blockade des Gazastreifens aufheben würde, damit sie Schokolade, Instantnudeln und die besten Gerichte ihrer Mutter probieren könnten. Für Lulu war dies das palästinensische Hühnergericht Musakhan, für Karam Shawarma. «Sie hatten alle möglichen Essenspläne, die ich für sie zubereiten sollte», sagte Heba. 

Bis zu jenem Sonntag hatte es jedoch noch kein Massaker an Menschen gegeben, die versuchten, Wasser zu holen. Die Familie al-Ghussain schickte ihre Kinder los, um Vorräte für die Familie zu besorgen, weil sie dachte, dies sei weniger gefährlich als die Suche nach Lebensmitteln. Hilfsorganisationen brachten jeweils Wasser in Lastwagen, um die Tanks einer Wasserverteilstation zu füllen, die nur wenige Strassen von der Schule entfernt lag, in der die Familie Zuflucht gesucht hatte, nachdem ihr eigenes Haus bombardiert worden war. Karam wartete dort in der sengenden Hitze, bis er an der Reihe war, um Wasser aus den oft trockenen Wasserhähnen zu holen. 

Die totale Belagerung

«Ich hatte keine andere Wahl, als sie zu schicken», sagte Heba. «Oft ging mein Sohn hin und wartete, manchmal eine Stunde lang, bis er an der Reihe war, nur um am Ende mit leeren Händen dazustehen, weil das Wasser ausgegangen war, bevor alle an die Reihe gekommen waren.» Wenn er Wasser bekam, waren es nur 20 Liter, sehr wenig für eine siebenköpfige Familie, aber eine schwere Last für einen kleinen Jungen: «Karam war erst neun Jahre alt und mutiger als Dutzende von Männern. Er trug es, ohne müde zu werden oder sich zu beschweren.»

«Israel hat seit März eine elfwöchige totale Belagerung verhängt, die den Gazastreifen an den Rand einer Hungersnot bringt, und die seit Mai nur sehr begrenzt zugelassenen Lebensmittel-, Treibstoff- und medizinischen Lieferungen haben den extremen Hunger und Durst nicht gelindert. Eine beispiellose Unterernährung tötet Kinder und verhindert die Genesung von Verletzten», sagt ein in Gaza tätiger britischer Arzt. 

«Wir gehen hungrig schlafen und wachen hungrig und durstig auf, weil die Entsalzungsanlagen kaum funktionieren», sagte die Mutter der beiden getöteten Kinder. Dem Gesundheitsministerium in Gaza zufolge leiden heute gegen 17’000 Kinder an akuter Unterernährung. 620 Menschen, unter ihnen mindestens 69 Kinder, sind bisher an Hunger gestorben.

Gazas katholische Kirche getroffen

Die Familie al-Ghussein konnte sich keine Grabstätte für die Kinder leisten, also begruben sie Karam und Lulu neben Hebas Vater. Sie befürchten, dass sie das Grab für das jüngste ihrer drei überlebenden Kinder erneut werden öffnen müssen, wenn die Hilfe für die Zivilbevölkerung nicht aufgestockt wird. Mit 18 Monaten ist Ghina unterernährt und hat Hautausschläge, weil die Familie sich keine Windeln leisten kann und nicht genug Wasser hat, um sie zu waschen. «Die ganze Welt sieht alles, doch sie verschliess die Augen, als ob sie nichts sehen würde», sagt Heba. 

Derweil hat ebenfalls unter der Woche eine israelische Panzergranate die einzige katholische Kirche in Gaza getroffen und drei Menschen getötet. «Wir sind erschüttert über diesen jüngsten Angriff auf Menschen, die lediglich versuchten zu überleben und in der Kirche Zuflucht gesucht hatten», sagte Alistair Dutton, Generalsekretär von Caritas Internationalis, die sich auf dem Kirchengelände um Einheimische kümmert. «Ihr Tod ist eine schmerzhafte Erinnerung an die entsetzlichen Bedingungen, unter denen Zivilisten und medizinisches Personal unter Belagerung leben.»

Ibrahim Saqallah, Rettungssanitäter im nahe gelegenen al-Ahli Arab Hospital, berichtete, dass in der Kirche etwa zehn Menschen verletzt worden seien, einige unter ihnen schwer. Die Verletzungen seien durch Splitter einer explodierenden Granate verursacht worden: «Diese [israelische] Armee ist arrogant – sie unterscheidet nicht zwischen Christen und Muslimen, und es ist ihr egal, ob es sich um eine Kirche, eine Moschee, ein Haus oder sogar eine Schule handelt. Wir leben mitten in einem brutalen Krieg.» Die Kirche der Heiligen Familie in Gaza ist jenes Gotteshaus, deren verwundeten Priester Gabriel Romanelli Papst Franziskus vor seinem Tod jeweils täglich anzurufen pflegte, um sich nach dem Befinden der Gemeinde zu erkundigen.

Den Papst angerufen

In diesem Fall sah sich Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sogar persönlich bemüssigt, sich zu erklären und sein «tiefes Bedauern» auszudrücken, dass «eine verirrte Granate» die Kirche getroffen habe. «Jedes verlorene unschuldige Leben ist eine Tragödie», liess er vollmundig verlauten: «Wir teilen den Kummer der Familien und der Gläubigen.»

Und wie immer betonte der Premier, Israel untersuche den Vorfall und bleibe dem Ziel verpflichtet, «Zivilisten und heilige Stätten zu beschützen». Benjamin Netanjahu rief in dieser Sache auch Papst Leo XIV. an, der dem Isareli gegenüber seinen Aufruf für einen «unmittelbaren» Waffenstillstand in Gaza erneuerte und seine Sorge bezüglich der «dramatischen humanitären Situation» im Gebiet äusserte, unter der vor allem Kinder, ältere und kranke Menschen leiden würden. Die Pressesprecherin des Weissen Hauses indes teilte mit, Präsident Donald Trump habe nicht «eine positive Reaktion» auf die Attacke gezeigt.  

In einer späteren Erklärung teilte die israelische Armee mit, eine erste Untersuchung der Berichte über Verletzte in der Holy Family Church in Gaza-Stadt deute darauf hin, dass Fragmente einer Granate, die während einer Militäroperation in der Region abgefeuert wurde, versehentlich die Kirche getroffen hätten.

Landesweite Proteste in Israel

Die IDF, hiess es zum x-ten Mal, aber deswegen nicht überzeugender, richte ihre Angriffe ausschliesslich gegen militärische Ziele und unternehme alle möglichen Anstrengungen, um Schäden an Zivilisten und religiösen Einrichtungen zu minimieren. Sie bedauere jegliche unbeabsichtigten Schäden, die diesen zugefügt worden seien. 

Währenddessen marschierten am Samstag Zehntausende Israelis zur US-Botschaft in Tel Aviv, um im Rahmen landesweiter Proteste eine Vereinbarung zur Freilassung der Geiseln in Gaza und einen Waffenstillstand zu fordern. Die ehemalige Geisel Doron Steinbrecher, die am 19. Januar dieses Jahres im Rahmen eines Waffenstillstandsabkommens freigelassen worden war, betrat unter lautem Jubel und Applaus die Bühne auf dem Geiselplatz: «Vor genau sechs Monaten habe ich die Pforten der Hölle durchschritten und bin in den Staat Israel gekommen. Ich stehe hier und kann es immer noch nicht glauben. Ich kann nicht glauben, dass ich hier stehe. Ich kann nicht glauben, dass noch immer Menschen dort sind. Ich kann nicht glauben, dass ich 471 Tage dort war. Ich kann nicht glauben, dass noch immer Menschen dort sind, in der Hölle, seit 652 Tagen.»

Ein letztes Massaker

Und am Sonntag schliesslich, als würde es zur Routine, ein neues Massaker der israelischen Armee – laut Premier Netanjahu «die moralischste Armee der Welt». Beim Grenzübergang Zikkim im Norden Gazas, über den Lastwagen des «World Food Program» mit Hilfsgütern ins Gebiet zu fahren pflegen, tötete die IDF mindestens 67 Menschen und verwundete über 100 Personen. Die Begründung der israelischen Armee: Sie habe «Warnschüsse» abgefeuert, nachdem sich Tausende Palästinenserinnen und Palästinenser im Norden Gazas massiert hätten, die dort offenbar auf Lebensmittelhilfe hofften. 

Die Soldaten, hiess es, hätten geschossen, «um eine für sie unmittelbare Bedrohung zu neutralisieren». Wobei die Zahl der gemeldeten Opfer, so die Armee, nicht mit jener ihrer ersten Untersuchung des Vorfalls übereinstimme. Das Massaker geschah, nachdem die IDF zuvor Bewohnerinnen und Bewohnern Deir al-Balahs befohlen hatte, Teile der Stadt im Zentrum des Gebiets zu verlassen, die bisher noch keine Kämpfe zwischen der israelischen Armee und der Hamas gesehen hatten. 

Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium sind seit dem Massaker der Hamas im Süden Israels vom 7. Oktober 2023, bei dem rund 1’200 Israelis getötet und 251 als Geiseln genommen wurden, in Gaza 58’885 Menschen getötet und mehr als 140’980 verwundet worden.  

Qellen: «Haaretz», «The Guardian», «The Washington Post», «The New York Times»

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