Hans Magnus Enzensberger starb am Donnerstag im Alter von 93 Jahren. Er bleibt als Lyriker, Essayist, streitbarer Intellektueller und bedeutender Herausgeber («Kursbuch», «Die Andere Bibliothek») in Erinnerung. Eine zwar kurzlebige, aber nachwirkende Gründung von HME war die legendäre Zeitschrift «TransAtlantik» (1980 bis 1991).
Hans Magnus Enzensberger war der Gründer und – obschon nicht Mitglied der Redaktion – führende Kopf von «TransAtlantik». Schon im dritten Jahr trennte er sich von dem Projekt. Fünfzehn Jahre zuvor hatte der umtriebige Literat das «Kursbuch» mitbegründet, das in den hohen Zeiten der studentischen Protestbewegungen Auflagen von über 50’000 Exemplaren erreichte. An diesen grossen Erfolg konnte HME mit «TransAtlantik» nicht anschliessen, obschon es mit seiner artistischen Unflätigkeit und seinen akribischen Enthüllungen nicht weniger treffsicher auf den Geist der Achtziger zielte als das leidenschaftliche «Kursbuch» auf den der Achtundsechziger.
Beide Titel bedienen sich der Metaphorik von Transportmitteln. Das «Kursbuch» sagt, wo es langgeht, und erklärt der Gesellschaft den Tarif. Ganz anders «TransAtlantik»: Der Titel evoziert das weite Reisen, das Hinübersetzen und Übersetzen, das Erkunden fremden Terrains, sei es – wie in Beiträgen der ersten Jahre geschehen – in Hannover, L. A., Basel, Rio oder Leipzig. Der Name «TransAtlantik» stand für einen vagabundierenden metropolitanen Geist. Er grüsste hinüber zum «New Yorker», dem er nahe war, ohne ihn zu kopieren. Ein bisschen intellektuellen Jet-Set durfte man heraushören, oder ganz nach Wahl auch den Impetus der historischen Entdeckungsfahrten.
Der Name «TransAtlantik» stand für einen vagabundierenden metropolitanen Geist. Ein bisschen intellektuellen Jet-Set durfte man heraushören.
Entsprechend dem Prinzip des Hefts machte der Titel Andeutungen, die er nicht erklärte und die man trotzdem irgendwie verstand. Aus exakt dieser hermetischen Attitüde gewann das Journal seine Anziehungskraft. Es oszillierte zwischen Schalk und Herablassung und setzte mit schnöder Selbstverständlichkeit eine komplett gebildete, rundum informierte, im Dechiffrieren von Spuren und Zitaten trainierte Leserschaft voraus.
Obschon der Ironie verschrieben, war «TransAtlantik» weit entfernt davon, eine Satire-Zeitschrift zu sein. Es ging dem Heft jede Harmlosigkeit ab, vielmehr war es zuweilen beissend sarkastisch und oft wirklich böse. Seine giftigen Traktate und Sentenzen nahmen in keiner Richtung Rücksicht. Ausgeteilt wurde links und rechts, oben und unten, hinten und vorn. Auf Schonung durfte niemand hoffen. Keine Gesinnungsformation konnte diese Publikation als ihr Sprachrohr betrachten. Keine durch Interessen verbundene Gruppierung von Lesenden kam als ihr prädestiniertes Publikum in Frage. Das Heft bildete keine Fraktionen, organisierte keine Gefolgschaften. Es war einfach vorhanden, sperrig, unkalkulierbar, und es wandte sich an lauter Einzelne, denen es oblag, es zu entdecken als ihr ebenso schwer verdauliches wie nahrhaftes Leib-Magazin. «TransAtlantik» war ein postmodernes Produkt: geniesserisch raffiniert, durchtrieben elegant und ohne Seele.
Ohne Seele? Tatsächlich zeigte sich hinter Reportagen und Essays, Tiraden und Spielereien eine schmerzhafte Illusionslosigkeit. Man betrachtete die Welt mit abgebrühtem Blick und kritisierte nicht um der Besserung, sondern des Spottes willen. Trotzdem erstarrte die erlesene Nonchalance nicht in der Todeskälte des Zynismus. Die Glut unter der Asche war zu ahnen. «TransAtlantik» litt geradezu demonstrativ am Verlust seiner Seele, der Seele engagierten Lebens, und offenbarte sich als Manifest zeitgemäss verhüllter politischer Romantik.
Die Glut unter der Asche war zu ahnen. «TransAtlantik» war das Manifest zeitgemäss verhüllter politischer Romantik.
Da wurde jeder Schindluder angeklagt, alle Dreistigkeit an den Pranger gestellt und jegliche Lüge entlarvt. Die Macher wollten bloss nicht bei der Empörung ertappt werden und sich nicht die Blösse eines Hoffens auf bessere Zustände geben. Die Wut musste cool bleiben. Befriedigung verschaffte sie sich im überlegenen ästhetischen Spiel. Der Zorn trug Kostüm und Maske.
Von «TransAtlantik» erzählen heisst auch von Bildern reden. Glanzpunkt fast jeder Nummer war die Rubrik «Fresko», meistens gestrichelt oder gepinselt von Hans Hillmann. Diesem Grafikbeitrag gehörte stets die mittlere Doppelseite. Was hier an traumwandlerischen und virtuosen Zeitbildern geschaffen wurde, verdiente eine eigene Betrachtung. Bei «TransAtlantik» spielten Text und Grafik in der gleichen Liga. Legendär auch die farbigen Titelbilder des im redaktionellen Teil sonst schwarzweissen Hefts.
In der Rückschau auf «TransAtlantik» hat die Rubrik «Journal des Luxus und der Moden» einen besonderen Platz. Sie stand am Anfang jeder Nummer, und es fiel den Machern des Hefts nie ein zu erklären, woher dieser Titel stammt. Man musste es eben einfach wissen, oder man hatte gefälligst findig zu sein und irgendwie drauf zu kommen. Den schmucken Namen hatte einst eine in deutschen Salons viel gelesene Zeitschrift getragen, seit 1786 von Friedrich Justin Bertuch in Weimar herausgegeben und erschienen bis 1827. In der stark von Enzensberger inspirierten Rubrik ging es vordergründig um Intellektuellen-Klatsch, Politgrotesken, beziehungsreiche Fundsachen. Zugleich präsentierte sie von Mal zu Mal eine kunstvolle Collage, die ein Tableau der gesellschaftlichen Zustände entwarf.
Hier erlaubte sich die Redaktion auch so ausgesuchte Frechheiten wie die Verdoppelung und Veräppelung echter gerichtlich aufgebrummter Gegendarstellungen, indem sie fingierte Gerichtserlasse zu weiteren «TransAtlantik»-Beiträgen als überdrehte Dreingaben nachschob. Satirische Höchstleistungen waren auch die deutschen Schlagertexte, die regelmässig kommentarlos abgedruckt wurden, sowie die Literaturkritiken in der Form von «Nacherzählungen», in denen für wichtig gehaltene Bücher gnadenlos auf ihre narrative Grundsubstanz reduziert wurden.
Satirische Höchstleistungen waren die deutschen Schlagertexte, die regelmässig kommentarlos abgedruckt wurden.
Mit der Novembernummer 1981 wurde die Schlussrubrik «Ventil» eingeführt, ein Podium für Publikumsbeschimpfungen der Extraklasse. Es begann mit dem furiosen und kaum erträglichen Artikel «Nichts gegen Krüppel», der schweres Geschütz auffuhr gegen eine da und dort womöglich überzogene Doktrin der unbedingten und lückenlosen Integration von Behinderten. Damit war die Benchmark gesetzt: Grundsätzlich lieber die Infamie riskieren, als nur der Geschmacklosigkeit entlang schrammen.
«Ventil» war eine Mutprobe für die Schreibenden und ein Härtetest für die Toleranz der Lesenden. Die satirischen Volltreffer waren von einer Schärfe, die selbst die nicht direkt Getroffenen beim Lesen leer schlucken liess. «Nichts gegen die da drüben», eine Schilderung des DDR-Alltags war eines dieser unverschämten Stücke, und mit Beiträgen wie «Nichts gegen Feministinnen», «Nichts gegen Nachwuchs», «Nichts gegen Hundefreunde», «Nichts gegen Hausmänner» und «Nichts gegen Radfahrer» stapfte die Redaktion trittsicher und lustvoll von einem Fettnapf zum nächsten.
Die Rubrik «Ventil» war eine Mutprobe für die Schreibenden und ein Härtetest für die Toleranz der Lesenden.
Doch «TransAtlantik» war, wie gesagt, kein Satire-Magazin. Viel Raum gab man stets der breit angelegten Reportage, dem gründlichen Bericht. Vorbild in diesem Genre war zweifellos «The New Yorker», und mit Jane Kramer und anderen traten in «TransAtlantik» auch Autorinnen und Autoren auf, deren Namen mit dem amerikanischen Journal verbunden waren.
Überhaupt, die Namen: Beim Durchblättern der alten Nummern immer wieder das Erstaunen, wer alles für «TransAtlantik» geschrieben hat. Viele von ihnen gehören, wie Wilhelm Genazino, Irene Dische, Hanns-Josef Ortheil, Bodo Kirchhoff, Eva Demski, Christoph Ransmayr heute zum etablierten Bestand der deutschsprachigen Literaturszene. Und mit Autoren wie Gore Vidal, Bruce Chatwin, György Konrád, Joseph Brodsky, Lars Gustafsson, Italo Calvino gewann das Heft einen internationalen Horizont, der im deutschen Feuilleton ungewöhnlich war.
Zudem war das Magazin ein Experimentierlabor der publizistischen Formen. Das Heft zeugte von überbordender Kreativität. Dauernd wurden Genres revitalisiert oder erfunden, und es ist mit Händen zu greifen, mit welcher Lust sie probiert, variiert und gelegentlich auch zu Schanden geritten wurden. «TransAtlantik» war ein amphibisches Gebilde, heimisch sowohl auf dem viel beackerten Boden der politisch-kulturellen Publizistik wie auch in der freien Luft der sprachlich-literarischen Kreativität.
Als Lyriker, Literat und politischer Essayist war Hans Magnus Enzensberger der Erfinder und Inspirator eines Produkts, in dem die Sprachwelten der Politik und der Kunst nicht bloss koexistierten, sondern miteinander redeten und stritten. Im Grunde war «TransAtlantik» das Projekt einer politischen Gesprächskultur, die sich der Utopie einer grenzenlosen Neugier verschrieb. Programmatisch war die Zeitschrift lediglich mit ihrer Hypothese, unverstelltes unbeengtes Denken habe die Anziehungs- und Bewegkraft des Eros. «Die Lustflotte steht unter Dampf.» Mit dieser Zeile seines Gedichts «Utopia» hatte Enzensberger zwei Jahrzehnte vor dem Stapellauf des «TransAtlantik» schon ein Motto für das publizistische Flaggschiff hingeworfen, so leicht, dass es auch für ein Papierschiffchen taugte.