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Geostrategie

Die Nato schützt nicht alle

17. April 2024
Heiner Hug
Pearl Harbor
Der Lenkwaffenzerstörers USS Chung-Hoon der Arleigh Burke-Klasse in Pearl Harbor (Foto: Military.com/Petty Officer 3rd Class Robert Stirrup)

Würde eine fremde Macht einen der 32 Nato-Staaten angreifen, wären alle andern Nato-Länder verpflichtet, den angegriffenen Staat zu verteidigen. So sehen es die berühmten Artikel 5 und 6 des Nato-Vertrags vor. Doch es gibt Ausnahmen. 

Der Beistandspakt des Nordatlantikpaktes (North Atlantic Treaty Organization) kommt zur Anwendung, wenn ein bewaffneter Angriff «auf das Gebiet eines Staates in Europa oder Nordamerika» erfolgt. Ebenso erwähnt sind im Nato-Beistandspakt «das Gebiet der Türkei» oder «Inseln im nordatlantischen Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses».

Doch es gibt eine Besonderheit: Zwar sind die USA der wichtigste der 32 Nato-Staaten. Aber nicht das ganze US-amerikanische Territorium fiele bei einem Angriff unter den Nato-Schutz.

Achillesferse Hawaii

Hawaii, der strategisch wichtige 50. US-Staat wäre davon ausgenommen. Würde Hawaii also angegriffen, von wem auch immer, müssten die Nato-Staaten den USA nicht zu Hilfe kommen. 

«Es ist schon seltsam», sagt David Santoro, Präsident der Denkfabrik «Pacific Forum» in Honolulu, gegenüber CNN, dass «selbst die meisten Einwohner von Hawaii keine Ahnung haben, dass ihr Staat technisch gesehen vom Bündnis ausgeschlossen ist.»

Geschützt durch den Nordatlantik-Vertrag sind explizit die europäischen Staaten und die Anrainerstaaten des Nordatlantiks. 

Strategisch enorm wichtig

Doch Hawaii liegt im Pazifik und ist nicht mit dem amerikanischen Festland verbunden. Die Hawaii-Inseln gehören geografisch nicht zu Nordamerika, das im Osten an den Atlantik grenzt. Die amerikanischen Bundesstaaten Alaska, Washington, Oregon und Kalifornien grenzen zwar auch an den Pazifik, sind aber mit dem amerikanischen oder kanadischen Festland verbunden. Zudem: Der Nato-Vertrag wurde 1949 geschlossen. Damals war Hawaii noch kein amerikanischer Bundesstaat.

Das mag alles knifflig und kleinlich klingen, kann aber eine wichtige Bedeutung haben. Denn: Hawaii ist von strategisch enormer Wichtigkeit. Hier liegt, in Pearl Harbor, ein Stützpunkt der amerikanischen Marine, und nordwestlich von Honolulu befindet sich das amerikanische «Indo-Pazifik-Kommando» (United States Indo-Pacific Command, USINDOPACOM), dessen Zuständigkeitsbereich im pazifischen und südostasiatischen Raum liegt. Ihm sind rund 300’000 Armeeangehörige unterstellt.

USS Pearl Harbor
Das amphibische Docklandungsschiff USS Pearl Harbor (LSD 52) in Pearl Harbor (Foto: Military.com/U.S. Navy/David Kolmel)

Pearl Harbor hat auch eine enorm emotionale Bedeutung für die USA. Die japanischen Luftstreitkräfte griffen hier am 7. Dezember 1941 die amerikanische Pazifikflotte an. Kurz darauf erklärten die USA Japan den Krieg. Nachdem sich Hitler-Deutschland und Mussolini-Italien mit Japan solidarisierten und den USA den Krieg erklärt hatten, traten die Vereinigten Staaten in den Krieg ein. Der Angriff auf Pearl Harbor war also ein entscheidender Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg.

USS Arizona
7. Dezember 1941: Das amerikanische Schlachtschiff USS Arizona wird auf Pearl Harbor während des japanischen Überraschungsangriffs getroffen und sinkt. (Foto: Keystone/AP)

Nach wie vor besteht die Befürchtung, dass China Taiwan an sich reisst und einen Konflikt mit den USA auslöst. Peking betrachtet die 23 Millionen Einwohner zählende Insel Taiwan als abtrünnige Provinz. Die US-Militärstützpunkte auf Hawaii könnten bei der Unterstützung einer möglichen Verteidigung Taiwans eine wichtige Rolle spielen. China betont zwar, es wolle Taiwan mit friedlichen Mitteln einverleiben, schliesst aber eine militärische Aktion nicht aus. Käme es zu einem chinesisch-amerikanischen Konflikt, halten Militärstrategen einen chinesischen Angriff auf den amerikanischen Stützpunkt auf Hawaii für möglich.

Die neuen Zeiten erfordern ein Umdenken

Nicht nur von China könnte im Pazifik Gefahr ausgehen, sondern auch von der unberechenbaren nordkoreanischen Führung. Das Regime Kim Jong-un ist dabei, massiv aufzurüsten, zum Teil mit russischer Hilfe. Atomwaffenfähige nordkoreanische Raketen könnten das 7’500 Kilometer entfernte Hawaii in wenigen Minuten erreichen. 

Deshalb plädiert David Santoro vom Pazifikforum dafür, Hawaii unter den Nato-Schirm zu nehmen. Santoro ist nicht der Einzige. John Hemmings, Senior Director des «Indo-Pacific Foreign and Security Policy Program» beim Pacific Forum, sagt, die Zeiten seit der Nato-Gründung 1949 hätten sich grundlegend geändert. Die heutige politische Situation im indopazifischen Raum erfordere ein Umdenken.

«Ein Element der Abschreckung»

Gegenüber dem amerikanischen Fernsehsender CBS sagt Hemmings, der Einbezug Hawaiis in die Nato könnte «ein Element der Abschreckung» darstellen und dazu beitragen, eine mögliche chinesische Invasion in Taiwan zu verhindern. «Warum sollten wir dieses Element der Abschreckung nicht nutzen? Warum sollten wir das vom Tisch lassen, wenn es (China) tatsächlich von einer Invasion Taiwans abhalten würde?»

Auch Alan Mendoza, Leiter der Denkfabrik «Henry Jackson Society» in London, erklärt, dass ein Einbezug Hawaiis in der Nato das Nordatlantische Bündnis stärken würde. «In einer Zeit, in der die freie Welt erneut bedroht ist, sollten alle Massnahmen, die die Verbindungen zwischen freien und demokratischen Ländern stärken, gefördert werden», sagt Mendoza gegenüber Newsweek.

Wichtiger als Hawaii: Guam

Nicht nur Hawaii könnte bedroht sein. Strategisch wichtiger ist Guam, das US-Inselterritorium im westpazifischen Ozean, gut 6’000 Kilometer westlich von Hawaii gelegen. Guam ist ein «Aussengebiet» der USA, ein sogenannt «nichtinkorporiertes Territorium».

Anderson Air Force
Die Andersen Air Force Base in Guam (Foto: Air Force Times/Airman 1st Class Christopher Quail/Air Force)
USS Carl Vinson
Der Flugzeugträger USS Carl Vinson (CVN-70) der Nimitz-Klasse läuft in die Naval Base Guam ein. (Foto: Military Times/MC2 Allen Michael McNair/Navy)

Die Insel beherbergt den Luftwaffenstützpunkt Andersen, auf dem die USA ihre B-1-, B-2- und B-52-Bomber stationieren. Die Insel, leicht grösser als der Kanton Basel-Landschaft, ist nicht nur den Chinesen, sondern auch den Nordkoreanern ein Dorn im Auge. Vom ostchinesischen Festland nach Guam sind es nur 3’000 Kilometer und von Nordkorea nach Guam 3’400 Kilometer.

Sowohl David Santoro als auch John Hemmings möchten neben Hawaii auch Guam unter den Schutzschild der Nato stellen. 

Und die französischen und britischen Überseegebiete?

Soll man also den Nato-Vertrag neu verhandeln und Hawaii und Guam miteinbeziehen? Dann wären nicht mehr wie bisher die Geografie (Europa, Nordamerika und der Nordatlantik) das Kriterium für eine Mitgliedschaft, sondern weltweite strategische Überlegungen.

Kompliziert würde es, wenn auch französische und britische Territorien und Überseegebiete fordern würden, unter den Schutzschirm der Nato gestellt zu werden. 

Also zum Beispiel die französischen Überseegebiete Réunion im Indischen Ozean oder Französisch Guayana in Südamerika oder die Antillen-Inseln Guadeloupe und Martinique oder Neukaledonien oder Französisch Polynesien. Oder die britischen Falkland-Inseln vor Argentinien, Bermuda, Anguilla, St. Helena und andere. Allerdings steht ein Einbezug solcher Gebiete nicht zur Diskussion. Schon während des Falklandkrieges 1982 zwischen Grossbritannien und Argentinien war klar festgehalten worden, dass die Nato die Briten nicht unterstützen muss. 

Kein Konsens in Sicht

Doch auf Hawaii und auf Guam werden die Forderungen nach einer Integration in die Nato immer lauter. Eine solche Einverleibung würde jedoch voraussetzen, dass der Nato-Vertrag von 1949 ergänzt und neu verhandelt würde. Experten bezweifeln, ob es dem Nordatlantikpakt gelingen würde, in dieser Frage einen Konsens zu finden. Doch Einstimmigkeit wäre notwendig. Eine solche allerdings wäre wohl schwer zu erreichen. 

Manche Nato-Staaten fühlen sich unter dem Nato-Schutzschild geborgen und sicher. Wenn sie jedoch andere Staaten verteidigen müssten, wären sie wohl zurückhaltend. Es kann vermutet werden, dass Nato-Länder wie zum Beispiel Estland, Slowenien oder auch die Türkei sich nicht darum reissen würden, eigene Truppen in den fernen Pazifik zu schicken, um Hawaii und Guam zu verteidigen.

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