Frankreichs konservativ-bürgerliche Parteien bewegen sich in den letzten Wochen immer stärker auf die extreme Rechte zu. Immer häufiger signalisieren Politiker aus ihren Kreisen, dass bei den Kommunalwahlen im kommenden März oder bei erneuten Parlamentswahlen eine Allianz mit Le Pen und Co. durchaus denkbar wäre.
«Niemals mit der extremen Rechten» – das war einmal. Fast darf man heute den Eindruck haben, es war vor Urzeiten. Es war, als Jacques Chirac noch der Chef der bürgerlichen RPR und dann der UMP-Partei war (die inzwischen Les Républicains heisst) und zwölf Jahre lang Präsident Frankreichs. Doch schon kurz nach Chiracs Abtritt vor 18 Jahren begann dieses Prinzip zu bröckeln.
Nicolas Sarkozy hatte es bei den Präsidentschaftswahlen 2007 noch fertiggebracht, Jean-Marie Le Pen und den Front National kleinzuhalten, allerdings nur, indem er sich damals im Wahlkampf die Themen und das Vokabular der extremen Rechten zu eigen gemacht hatte.
Doch Marine Le Pen hatte damals, nachdem sie 2011 die rechtsextreme Partei von ihrem Vater übernommen hatte, geduldig darauf hinzuarbeiten begonnen, dass Teile der traditionellen Rechten – selbstverständlich unter ihrer, Marine Le Pens Fuchtel – einen Pakt mit dem Rassemblement National eingehen könnten. 14 Jahre später scheint sie mit diesem Vorhaben am Ziel angekommen zu sein.
Der erste Schritt
Zunächst waren da schon im Juli 2024 die Wahlen zur Nationalversammlung, ausgelöst durch Präsident Macrons hirnrissige Entscheidung, nach einem schlechten Ergebnis seiner Partei bei den Europawahlen das Parlament im eigenen Land aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben.
Bei dieser Gelegenheit machte ausgerechnet der damalige Parteivorsitzende von Les Républicains, Eric Ciotti, ein Rechtsausleger der Konservativen und Abgeordneter eines Wahlkreises an der politisch traditionell rechtslastigen Côte d’Azur, den ersten wichtigen Schritt.
Um seinen und einige Wahlkreise seiner Freunde und Weggefährten vor den Kandidaten der extremen Rechten zu retten, tat sich seine schnell gegründete kleine Partei in einigen Landstrichen mit Le Pens Rassemblement National zusammen und brachte es am Ende auf 13 Abgeordnete, die seitdem in der Nationalversammlung gemeinsam mit der Le-Pen-Partei stimmen.
Ciotti, der Parteivorsitzende von Les Républicains, hatte ein Grundprinzip seiner Partei einfach über den Haufen geworfen, seine eigene Partei im Grunde verraten und sich auch noch in einer geradezu grotesken Aktion in der Parteizentrale regelrecht verbarrikadiert, als könne er so verhindern, dass er von den Gremien der Partei aus dem Amt gejagt wird. Das war vor 18 Monaten, und damit war definitiv ein erster Ziegelstein aus der Brandmauer gegen die extreme Rechte herausgebrochen.
Ein grenzwertiger Innenminister
Doch damit nicht genug. Derjenige, der Ciotti an der Parteispitze der Republikaner nachfolgte, war Bruno Retailleau. Ein militanter Erzkatholik, lange Jahre Fraktionschef von Les Républicains im Senat, Ziehsohn der ultrarechten und dezidiert antieuropäischen Gallionsfigur der 90er-Jahre, Philippe de Villiers, welcher über Jahrzehnte hinweg der unumstrittene Herrscher im tief konservativen westfranzösischen Departement Vendée war.
Just diesen Bruno Retailleau, dessen Vokabular sich praktisch nicht mehr von dem des Rassemblement National unterscheidet und der Le-Pen-kompatibel ist, hat Emmanuel Macron nach seiner verkorksten Parlamentsauflösung im Sommer 2024 zum neuen Innenminister gemacht.
Ein unzweideutiges Zeichen dafür, dass man von Präsident Macron definitiv nichts mehr erwarten darf, was dem Vormarsch der extremen Rechten in Frankreich Einhalt gebieten könnte. Eine absolute Bankrotterklärung angesichts seiner vollmundigen Versprechen der letzten Jahre, er werde alles tun, damit immer weniger Bürger auf den Gedanken kommen, die extreme Rechte zu wählen. Nichts hat er getan und genau das Gegenteil ist eingetreten.
Der von Macron ernannte Retailleau ist einer, der bei seinem Amtsantritt als Innenminister gleich den markigen Satz sprach: «Ich stehe für Ordnung, Ordnung und nochmals Ordnung.» Womit das Wichtigste gesagt und jedem klar war, woher der Wind nun wehen würde.
Zumal sowohl Bruno Retailleau, der Parteichef von Les Républicains, als auch der Fraktionsvorsitzende dieser Partei in der Nationalversammlung, Laurent Wauquiez, in den letzten Wochen gleich mehrmals durchblicken liessen, dass sie die Positionen der extrem rechten Partei weitgehend teilen mit Ausnahme des Wirtschaftsprogramms von Le Pen.
Auch derartiges ist neu und war aus dem Mund von bürgerlichen Politikern bislang so gut wie nie zu hören. Womit ein weiterer Stein aus der Brandmauer gegen die extreme Rechte herausgebrochen wäre.
Ein Schritt nach dem anderen
Anfang Oktober hatte Bruno Retailleau, inzwischen Ex-Innenminister, aber immer noch Parteichef von Les Républicains, bei einer Abgeordnetennachwahl im Südwesten Frankreichs vor der entscheidenden Stichwahl im zweiten Wahlgang ohne mit der Wimper zu zucken gesagt: «Keine einzige Stimme für die Kandidatin der Sozialisten!» Dieser Kandidatin stand aber in der Stichwahl ein Kandidat der extremen Rechten gegenüber. Da sagte also ein ehemaliger französischer Innenminister und Chef der ehemaligen Chirac- und Sarkozy-Partei seinen Parteianhängern de facto laut und deutlich: Wählt extrem Rechts. Und tatsächlich gewann am Ende der Kandidat des Rassemblement National diese Nachwahl.
Damit war auch ein anderes, jahrzehntelang praktiziertes Prinzip auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen, die sogenannte Republikanische Front. Sie bestand darin, dass die traditionellen Parteien, ob links oder rechts, vor der entscheidenden Stichwahl alles taten, um einen Sieg der Kandidaten der extremen Rechten zu verhindern. Auch das war einmal.
Und nach und nach fielen in den letzten Wochen dann noch weitere Steine aus der Brandmauer gegen die Rechtsextremen. Da stimmte etwa der Fraktionschef der französischen Konservativen im Europaparlament, François-Xavier Bellamy, gemeinsam mit der extrem rechten Fraktion für einen Misstrauensantrag gegen Kommissionspräsidentin van der Leyen.
Ein paar Tage später erklärte der ultraliberale Bürgermeister von Cannes, David Lisnard, es gäbe durchaus genügend Stoff, um mit der extremen Rechten in einen Dialog zu treten.
Dann fiel einer konservativen Senatorin dieser Tage nichts Besseres ein, als in einer Parlamentsdebatte den antisemitischen Urvater der französischen Rechtsextremen, den Schriftsteller Maurice Barrès zu zitieren, als sie von Wurzeln und Identität redete.
Schliesslich erfuhr man vor einigen Tagen, dass der konservative Ex-Politiker Renauld Dutreil – zwischen 2002 und 2007 Minister unter Präsident Chirac, danach in die Wirtschaft abgewandert – seit gut einem Jahr Marine Le Pen in Wirtschaftsfragen berät.
Der Gipfel
Das spektalurärste Ereignis in diesem Zusammenhang war aber die jüngste Präsentation einer Liste für die Kommunalwahlen im März 2026 in Bourg-en-Bresse, einer 50’000-Einwohner-Stadt nordöstlich von Lyon, die Hauptstadt der Gegend, die allen Feinschmeckern wegen des Bressehuhns ein Begriff ist. «Einheitsliste der Rechten» hat man sie ganz unverfänglich getauft. Angeführt wird sie aber nicht etwa von einem Konservativen, ja nicht mal von einem Vertreter des Rassemblement National, sondern von einem aus der Partei Reconquête (Wiedereroberung) des mehrfach wegen rassistischen Äusserungen vorbestraften ehemaligen Präsidentschaftskandidaten: Eric Zemmour!
Auf dieser Liste finden sich mehrere Mitglieder der Partei Les Républicains und einer Reihe anderer konservativer Parteien. Hauptzweck dieses Bündnisses ist es, den sozialistischen Bürgermeister der Stadt, der seit 17 Jahren im Amt ist, aufs Altenteil zu schicken. Bürgerlich-Konservative sind also inzwischen bereit, dafür einen Pakt mit dem Teufel einzugehen.
Angesichts der Gesamtstimmung im Land darf man inzwischen die Hand dafür ins Feuer legen, das Bündnis «Einheitsliste der Rechten» von Bourg-en-Bresse werde nicht das letzte dieser Art sein vor den Kommunalwahlen im März 2026.
Der Coup in der Nationalversammlung
Vergangene Woche gab es dann in diesem Zusammenhang auch in der Nationalversammlung ein hochsymbolisches Ereignis zu bestaunen. Die extreme Rechte von Le Pen hatte einen Antrag im Parlament eingebracht, der dafür plädierte, ein spezielles Visa-Abkommen mit Algerien aus dem Jahr 1968 solle aufgekündigt werden.
Dieser nicht bindende Antrag der extremen Rechten erhielt mit 185 zu 184 Stimmen tatsächlich die Mehrheit in der Nationalversammlung, dank des Votums von einem Teil der konservativen Abgeordneten, die gemeinsam mit dem Rassemblement National gestimmt hatten. Ein bislang einmaliger Vorgang in der Geschichte der Fünften Republik.
Und der Haushalt?
Dies alles geschieht in einer Zeit, da der Staatspräsident innenpolitisch nichts mehr zu sagen hat und sich seit zwei Monaten nicht mehr in die Öffentlichkeit wagt. Seine Sympathiewerte liegen je nach Umfrage bei 11 bis 14 Prozent.
Es ist auch die Zeit, da sein Premierminister ohne Mehrheit im Parlament verzweifelt versucht, bis zum Jahresende einen Haushalt für 2026 verabschieden zu lassen. Gleichzeitig zeigen sich die Parteien angesichts der wirtschaftlichen und politischen Krise des Landes alles andere als verantwortungsbewusst. Sie scheinen absolut unfähig, Kompromisse zu finden und warten nur darauf, dass sie erneut den Premierminister und seine Regierung stürzen können, um das dann als Sieg zu feiern.
Dieser Zustand der Instabilität, der weite Teile der Bevölkerung und der Wirtschaft verunsichert, scheint die Abgeordneten nicht weiter zu stören, ebenso wenig, dass Frankreich von allen drei grossen Ratingagenturen in den letzten Wochen auch auf Grund der politischen Instabilität heruntergestuft worden ist.
Während der Premierminister angesichts der gigantischen Staatsverschuldung – nur Griechenland und Italien stehen in Europa noch schlimmer da – versucht, einen um 40 Milliarden gekürzten Sparhaushalt durchzubringen, fordern beispielsweise die Sozialisten, dass die Rentenreform von vor zwei Jahren, welche das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre erhöht hatte, neu aufgerollt und auf den Prüfstein gelegt werden müsse.
Ein konservativer Senator sagte jüngst an den Preminister gewandt, er solle doch einmal die spanischen Sozialisten ins französische Parlament einladen, damit diese den französischen Sozialisten erklären, warum sie in Spanien das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht und ein Sparprogramm vorgelegt haben.
Und derweil Marine Le Pen …
Bei diesen sterilen und für die Öffentlichkeit zunehmend unverständlichen Parlamentsdebatten der letzten Wochen braucht sich die Fraktionsvorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National eigentlich nur in ihrem Sessel zurückzulehnen und die Dividenden einzustreichen.
Alle Umfragen sagen ihr und ihrer Partei rund 35 Prozent der Stimmen voraus. Danach kommt lange nichts mehr. Die herkömmlichen Parteien kriechen alle bei 10 bis 15 Prozent herum.
Und das jüngste, fruchtlose Spektakel in der Nationalversammlung ist sicher nicht dazu angetan, dass die Franzosen wieder mehr Vertrauen in ihre Institutionen und in die klassischen Parteien bekommen. Marine Le Pen darf sich die Hände reiben, dass das von ihr seit jeher gegeisselte «System» in einer tiefen Krise steckt und keine Lösungen zu finden scheint.