
Die Staatsoper Berlin setzte nach der Mailänder Scala (2018) und der Wiener Staatsoper (2024) kürzlich als drittes grosses Haus Kurtágs einzige Oper auf den Spielplan. Das Werk lebt von bedrückender Aktualität, und Regisseur Johannes Erath setzt überraschende Akzente.
«Fin de Partie», «Endgame» von Samuel Beckett, 1957 uraufgeführt: Man sieht vor sich einen kahlen Raum, Hamm, einen Mann mit Sonnenbrille und Mütze im Rollstuhl, Clov, einen herumschlurfenden oder herumhinkenden zweiten Mann, den Hamm herumkommandiert wie einen Sklaven, zwei Mülltonnen, in denen Nell, eine alte Frau, und Nagg ein Greis mit schütterem weissem Haar, stecken. Es sind die Eltern Hamms. Alle sind in ihrer Mobilität versehrt. Hamm kann nicht gehen. Clov hat sich ein Bein gebrochen. Nell und Nagg verloren bei einem Unfall ihre Beine. Und alle warten auf das Ende. Aber vergeblich. Die Welt ist grau und öd. Clov rapportiert, was er mit dem Fernglas durch das Fenster draussen sehen kann: «Nichts». Die Welt nach einer Katastrophe? Irgendwann sagt Hamm: «Der Spass ist zu Ende». Seine letzten Worte: «Altes Linnen. Dich behalte ich.» Becketts letzte der vielen detaillierten Regieanweisungen (sie sind oft ebenso wichtig wie die gesprochenen Texte): «Er nähert das Taschentuch seinem Gesicht.»
Der heute 99-jährige ungarische Komponist György Kurtág ist von Samuel Becketts Werk, dieser europaweit nachgespielten Inkunabel des Absurden Theaters, seit den späten 1950er Jahren fasziniert. Im Alter von 85 Jahren entschloss er sich, zu «Fin de Partie» eine Oper zu schreiben und Becketts Text fürs Libretto zu bearbeiten. Die Arbeit zog sich – ein veritables «Work in Progress» – über Jahre hin bis zur Uraufführung 2018 in der Mailänder Scala. 2024 inszenierte es Herbert Fritsch in der Wiener Staatsoper. Nun spielte es, mit Premiere im Januar, die Staatsoper Berlin. In der Inszenierung des an vielen grossen Opernhäusern erfolgreich tätigen Johannes Erath sagt Hamm am Schluss genau die zitierten Worte, mit denen Becketts Stück endet, und er bedeckt, genau den Regieanweisungen folgend, sein Gesicht mit dem weissen Taschentuch. Doch statt den grauen öden Raum haben wir die zersplitterten Trümmer eines immensen umgestürzten Riesenrads vor uns. Es dreht sich, Lampen blinken. Hamm sitzt mittendrin. In seinem Rollstuhl sitzt eine Hamm-Puppe. Clov lehnt sich mit der Stirn an die rechte Bühnenwand. Becketts «Fin de Partie» wird zum «Weltende-Spiel».
Kein karges Kammerspiel
Das ist die Deutung des Johannes Erath. Da Beckett hartnäckig jede Aussage zu seinem Stück, das nichts und zugleich alles bedeutet, verweigerte und so jedem und jeder alle Deutungsfreiheiten liess, ist auch diese für manche im Publikum vielleicht naheliegende Deutung legitim. Doch es ist auch jedem anheimgestellt, Eraths Deutung abzulehnen: Das sei eben nicht Beckett. Auch die eingespielten slapstickartigen Videos lassen sich als Beckett-fremd und als Zugeständnisse an gängige Opernregie-Moden mit permanentem Zirkus und permanenter Bild-Elektronik ablehnen. Clownerie und Slapstick und (auch drastische) Komik samt Nonsens gehören zu Beckett, doch kaum als raumgreifende opulente Weltuntergangsvision. In Berlin ist «Fin de Partie» grosse pathetische Oper, die sich aller Tricks und Drehs bedient, die ein modernes Haus bietet, aber – mindestens im zweiten Teil des Abends – kein karges Kammerspiel der höchsten Konzentration auf all die filigranen Details der Beckett’schen Sprache und der mit feinsten Nuancen virtuos spielenden Musik Kurtágs. Im März 2024 wagte das Theater Dortmund eine ganz andere und Beckett wohl eher gerecht werdende Variante: «Fin de Partie» in ganz bescheidenem Rahmen mit bloss 120 Zuschauern und intimer Nähe zum Geschehen, aber unter Beibehaltung von Kurtágs riesigem Orchester-Apparat. Vielleicht ist im Kleinen Beckett/Kurtágs Werk grösser geworden als im Grossen der Berliner Staatsopern-Bühne.
Riesig und doch leise
Riesig ist Kurtágs Orchester-Apparat tatsächlich, und das betrifft nicht nur die Anzahl der Instrumente, die der Komponist einsetzt, sondern auch ihre Vielfalt. Man hört zum Beispiel Piccolo und Bassflöte und die ganze Palette der traditionellen Blasinstrumente, verschiedene Pauken, Streicher sowieso, ebenso Harfe, doch auch Folkloristisches wie Bajan (eine östliche Form des Knopfakkordeons) oder wie Cimbalom (eine in Ungarn verbreitete Hackbrett-Version) und natürlich alle möglichen Schlaginstrumente. Da und dort treffen geballte Klangverbindungen oder -Schläge aufs Publikum. Doch viel häufiger setzt Kurtag seine musikalischen Ausdrucksmittel dosiert, sparsam oder gar minimal ein wie mit leichtem Pinsel hingetupfte Farbclusters. Die oft ausgedehnten Pausen sind analog zu jenen in Becketts Sprache eingesetzt: Sie bieten dem sorgfältig und präzise auf die Musik hin einstudierten Spiel der Gesten Raum zur Entfaltung und dem Publikum Gelegenheit zum eigenen Bedenken und Deuten dessen, was auf der Bühne, in der Musik und in den Texten vorgeht. Im ersten Teil, bis zum Sterben Nells, ist eine frei im Bühnenraum schwebende abgewohnte Bürgerstube Schauplatz des Geschehens – der Pantomimen Clovs, der eine Leiter aufstellt, um sich Ausblick auf das leere und öde Draussen zu verschaffen, und der ausgedehnten Monologe der vier Personen und ihrer knappen Dialoge. Gegen Schluss hin dominiert das eingestürzte Riesenrad das Geschehen so sehr, dass kaum mehr Raum bleibt für ein reflektierendes Begleiten der Situationen, die Beckett in seiner radikal kargen Absurdität zeigt.
Becketts «Fin de Partie» hat die Jahrzehnte seit seiner Uraufführung überdauert und beweist, gerade weil es sich nur auf sich selbst bezieht, weil es, gemäss Beckett selber, «nichts» bedeutet und sich darum jeder Deutung öffnet und zugleich entzieht, in Kurtágs Opernfassung auf erschreckende Weise seine Aktualität. Trotz Fragen zu Eraths überraschendem Akzent im zweiten Teil: Das Publikum kam in den Genuss grossartiger Leistungen der französisch singenden Sänger/Schauspieler und der von Alexander Soddy geleiteten Musikerinnen und Musiker der Staatskapelle Berlin im Orchestergraben. Sie hatten sich in einem in jeder Hinsicht – klanglich wie auch rhythmisch – höchst komplex gestalteten Notentext zurechtzufinden. Das gilt auch für die vorzüglichen Sängerinnen und Sänger – Laurenz Naouri als Hamm, Bo Skovhus als Clov, Dalia Schaechter als Nell und Stephan Rügamer als Nagg –, die allesamt regelmässig in grossen Rollen an grossen Häusern zu hören sind: Die Staatsoper Berlin begnügte sich nicht mit einer zweiten Sänger-Wahl, sondern setzte ihr ganzes Prestige ein, um dem grossen Werk des betagten Komponisten zu würdiger Bühnenpräsenz zu verhelfen.
Ernstes Spiel mit der Sprache
Diesem Impetus entspricht auch, dass die Oper und ihr Orchester, die Staatskapelle Berlin, im Pierre Boulez Saal im zeitlichen Umfeld von «Fin de Partie» ein weiteres Werk György Kurtágs zur Aufführung brachte, ebenfalls eine Vertonung von Beckett-Texten. Auch «What is the word» (op 30b) von 1990/91 für Sängerinnen und Sänger und Rezitatoren sowie für zahlreiche ganz verschiedene Begleitinstrumente beansprucht im Vergleich zu anderen Werken Kurtágs relativ viel Zeit: Der Komponist bevorzugt ja weitgehend die aphoristische Kürzestform. Es gibt da, auch bei Grossbesetzungen, kaum Opulenz, sondern durchwegs Konzentration auf das Wesentliche – darin verwandt mit Beckett und seinem akribisch sorgfältigen Umgang mit Sprache und Wörtern, was denn auch das Thema dieses varianten- und farbenreich besetzten, aber meist sehr leise klingenden Werkes ist. Es ist geschrieben u. a. für eine sprachbehinderte Schauspielerin, die nach einem Autounfall während Jahren nicht recht sprechen konnte und stotterte.