In grossser Eile will Portugals bürgerliche Regierung die Einwanderung erschweren, das Arbeitsrecht liberalisieren und die Sexualkunde an den Schulen keuscher gestalten. Zwar will die Minderheitsregierung ohne festen Partner auskommen und nach allen Seiten offen sein. Aber bisher bietet sich vor allem die rechtsextreme Partei Chega als Partner für einen Rechtsruck an.
Will Montenegro der Chega teilweise entgegenkommen, um ihr das Wasser abzugraben? Er steht aber auch aus ganz anderen Gründen unter Druck.
Wie praktisch alle Nato-Länder will auch Portugal seine Ausgaben für die Verteidigung stark erhöhen. Auch ohne äusseren Feind ist das Land nach wie vor aber nicht in der Lage, sein Staatsgebiet gegen eine ganz andere und altbekannte Gefahr zu verteidigen. Vielerorts lodern in diesem Sommer wieder einmal Waldbrände – die bisher schlimmsten der 2020er Jahre. In diesem Jahr waren bis zum letzten Mittwoch 2,35 Prozent der Staatsfläche abgebrannt, ein Spitzenwert in der EU. Gegen dieses alte Übel hat auch die bürgerliche Minderheitsregierung von Ministerpräsident Luis Montenegro wenig ausrichten können, obwohl sie doch alles besser machen wollte als die 2024 abgewählten Sozialisten.
Es brennt – und wird auch politisch brenzlig
Kaum hatte Montenegro 2022 den Vorsitz des bürgerlichen Partido Social Democrata (PSD) übernommen, da sprach er über dieses Übel just in der Kleinstadt Pedrógrão Grande, in deren Umgebung 66 Menschen im Juni 2017 durch Waldbrände das Leben verloren hatten. Er wollte atypisches Klima und Hitzewellen nicht als Ausrede gelten lassen. Nun ist er aber kleinlaut geworden. In den letzten Wochen bekam er vorgeworfen, den Bränden nicht die nötige Aufmerksamkeit gewidmet zu haben. Nach einer Sondersitzung des Kabinetts am Donnerstag bedauerte Montenegro diese nach seinen Worten irrtümliche «Wahrnehmung» und schüttelte ein 45-Punkte-Hilfsprogramm aus dem Ärmel.
Auch im Kampf gegen harte Engpässe im staatlichen Gesundheitsdienst hatte Montenegro, der seit April 2024 das Amt des Ministerpräsidenten bekleidet und, nach der vorzeitigen Parlamentswahl im Mai, jetzt seine zweite Regierung führt, keine glückliche Hand. Nach wie vor sind die Notaufnahmen in gewissen Spitälern wenigstens für bestimmte Fachgebiete immer wieder vorübergehend geschlossen, weil Personal fehlt.
Schlappe beim Verfassungsgericht
Eine grössere Eile als im Kampf gegen derart brennende Probleme zeigte die Regierung bei einer Änderung des Ausländerrechts, die sie regelrecht übers Knie brach. Sie liess einen alten Grundkonsens mit den Sozialisten in Fragen der Migration links liegen. Im Juli beschloss das Parlament mit den Stimmen des von Montenegros PSD geführten Wahlbündnisses «Aliança Democrática» (AD) und der rechtsextremen Partei Chega neue Regeln für die Einwanderung. Sie sollen unter anderem den Zuzug von Angehörigen und die Beschreitung des Rechtsweges erschweren.
Anstatt das Gesetz mit seiner Unterschrift in Kraft zu setzen, leitete es Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa dem Verfassungsgericht zur vorsorglichen Prüfung zu. Er sah unter anderem die Prinzipien von Gleichheit, Verhältnismässigkeit und Rechtssicherheit sowie das Recht auf Leben in der Familie beeinträchtigt. Anfang August sprach das Gericht sein Urteil. Mit einer knappen Mehrheit von 7 ihrer 13 Mitglieder erklärte die Kammer das Gesetz in fünf Punkten für verfassungswidrig – und bereitete der Regierung eine herbe Schlappe. Es hat indes den Anschein, als habe sie die Schmerzgrenze des Gerichtes ausloten wollen, und so reagierte sie auf das Urteil. Vielleicht liessen sich einzelne Mitglieder der Kammer mit Detailänderungen umstimmen, war zu hören. Ein Vertreter von Chega fand hingegen, dass die Verfassung ausgedient habe.
Im In- und Ausland am Scheideweg
Die Regierung muss nun entscheiden, ob sie die Vorlage mit den Stimmen von Chega nachbessert oder ob sie ein Angebot der Sozialisten zum Dialog akzeptiert. Ihr neuer Generalsekretär, José Luis Carneiro, hatte die Exekutive in dieser Frage auf einem «radikalen und inhumanen rechtsextremen Weg gesehen».
Die Änderungen am Ausländerrecht könnten sogar aussenpolitische Wellen schlagen. In den letzten Jahren hat die Zuwanderung aus Brasilien enorm zugenommen. Viele Leute von dort kamen mit Visa für die Arbeitssuche, die es nur noch für hoch qualifizierte Personen geben soll. Zwar hat das Verfassungsgericht diese Norm nicht beanstandet. Auch mit Blick auf einige noch geplante Erschwernisse für die Einbürgerung liess der Präsident von Brasilien, Lula da Silva, jedoch wissen, dass sein Land reziprok reagieren könne. Verstimmungen drohen auch mit ehemaligen Kolonien in Afrika.
Die Rechtspopulisten bieten sich als Partner an
Montenegros «nein heisst nein» gegenüber den Rechtspopulisten, das war einmal. Chega stellt mit 60 Abgeordneten – zwei mehr als die Sozialisten - die zweitstärkste Fraktion im neuen Parlament, und Montenegro will nach allen Seiten offen sein, also ohne festen Partner auskommen, also scheint auch die frühere Brandmauer gegenüber Chega gefallen zu sein.
Chega-Führer André Ventura versucht naturgemäss, sich der Regierung als Mehrheitsbeschaffer anzudienen, nun auch mit Plänen für mehr als 100 teils ultraliberal anmutenden Änderungen des Arbeitsrechts. Geplant ist unter gewissen Umständen die Erleichterung individueller Entlassungen – dies in einem Land, in dem Arbeitskraft zwar knapp ist, die geografische Mobilität der Arbeitskraft wegen der horrenden Preise für Wohnraum aber zur Utopie geworden ist. Von gewerkschaftlicher Seite kam zudem der Vorwurf, die Regierung wolle das Streikrecht aushöhlen, konkret mit der Möglichkeit, mehr Minimaldienste festlegen zu können als bisher.
Mütter von Kleinkindern unter Verdacht
Nicht einmal Mütter, die kleine Kinder über das Alter von zwei Jahren hinaus noch stillen und dafür das Recht haben, zwei Stunden am Tag bei der Arbeit fehlen zu dürfen, bleiben da verschont. Für Polemik sorgte Anfang August die Arbeitsministerin, Maria do Rosário Ramalho, die in einem Interview von «vielen Situationen» des Missbrauches sprach, offenbar aber über keine konkreten Daten verfügte. Als entsprechende Daten ans Licht kamen, wurde klar, dass von umfassendem Missbrauch kaum die Rede sein konnte.
Über Sexualität sollen junge Leute in der Schule fortan derweil weniger lernen als bisher. Ende Juli beschloss die Regierung eine Keuschheitskur im Schulfach «cidadania» (von «cidadão» – Bürger), dessen Lehrplan ein breites Spektrum von Fragen des Lebens in einer Gemeinschaft umfasst. Auch hier kamen von Chega erwartungsgemäss keine Einwände.
Zugleich nimmt eine «Staatsreform» langsam Gestalt an. Für einiges Unbehagen in wissenschaftlichen Kreisen sorgt ein Plan, die öffentliche Stiftung für Wissenschaft und Technologie (Fundação para a Ciencia e a Tecnologia, FCT) unter das Dach einer neuen Körperschaft zu bringen. 1997 unter Regierungschef António Guterres (heute Uno-Generalsekretär) ins Leben gerufen, gab die FCT wichtige Impulse für gewaltige Sprünge auf dem Gebiet der Forschung, unter anderem in der Biomedizin, die Portugal seither bewältigt hat.
Winde des Wahlkampfes
Das Stimmvolk soll sich derweil auch über einige Gefälligkeiten der Regierung freuen. Kürzlich traten einige kleine Erleichterungen bei der Einkommenssteuer in Kraft. Im September sollen die Bezieher niedriger und mittlerer Altersrenten einen einmaligen Zuschlag erhalten. Wer nicht mehr als 522,50 Euro monatlich erhält, soll sich über einen Zuschlag von 200 Euro freuen. Gerade jetzt herrscht vielerorts zudem Hochkonjunktur im Bausektor. In Städten und Dörfern werden Plätze verschönert oder Strassen ausgebessert – in der Hoffnung auf Wählerstimmen bei den landesweiten Lokalwahlen am 12. Oktober.
Es soll um lokale Belange gehen. In der Lokalpolitik hatte Chega bisher wenig zu melden, die Partei macht zur Wahl aber mobil. Für Montenegros Regierung – und vielleicht auch für ihre Flirts mit Chega – ist dies der erste grosse Test an den Urnen. In der Frage der Migration fand die Regierung den Zuspruch der Rechtspopulisten; vielleicht hegte sie die Hoffnung, ihnen das Wasser abzugraben. Ob diese Rechnung aufgeht, steht dahin, da das Stimmvolk an den Urnen dazu neigen kann, eher das Original als die Imitation zu bevorzugen. Ein hoher Stimmanteil für Chega bei der Lokalwahl könnte Anlass sein, den Kurs zu überdenken.