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Buch

Der Gotthardstrassentunnel – Scharnier und Kristallisationspunkt

15. Oktober 2021
Paul Schneeberger
16. Dezember 1976: Die letzten Meter des Felsens zum Durchbruch für den ersten Gotthard-Autotunnel sind  mit Hilfe von 100 Kilogramm Dynamit weggesprengt worden. Die Mineure von beiden Seiten der Baustelle feiern den Erfolg. (Foto: KEYSTONE/Photopress-Archiv/Str)
16. Dezember 1976: Die letzten Meter des Felsens zum Durchbruch für den ersten Gotthard-Autotunnel sind mit Hilfe von 100 Kilogramm Dynamit weggesprengt worden. Die Mineure von beiden Seiten der Baustelle feiern den Erfolg. (Foto: KEYSTONE/Photopress-Archiv/Str)
Alexander Grass legt mit seinem Buch „Durchschlag am Gotthard“ eine Geschichte des längsten Schweizer Strassentunnels vor. Er vermittelt Einblicke in den Wandel seiner Begleitumstände – von der Bautechnik bis zur Rezeption des Strassenverkehrs.

Mit seiner Darstellung der Baugeschichte des Gotthardstrassentunnels leuchtet der ehemalige Tessin-Korrespondent des Deutschschweizer Radios die Genese dieses Scharniers zwischen dem Norden und dem Süden auf der bedeutendsten alpenquerenden Verkehrsachse durch die Schweiz aus. Er leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der neueren Strasseninfrastruktur unseres Landes, die ungeachtet ihrer Bedeutung immer noch ein Schattendasein fristet.

Von der Euphorie zur Skepsis

Grass schlägt einen Bogen von der ersten Ideenskizze eines Strassentunnels zwischen Göschenen und Airolo im Jahr 1935 bis zur zweiten Strassentunnelröhre am Gotthard, deren verkehrssicherheitstechnisch begründeter Bau offiziell am 29. September 2021 begonnen hat. Er handelt nicht nur die Planungs- und Baugeschichte des 15 Kilometer langen Bauwerks ab, sondern ordnet diese immer wieder in den Kontext der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen ein.

Allein schon die Bauzeit der ersten Tunnelröhre zwischen 1970 und 1980 war von jenem Paradigmenwechsel geprägt, den Bundesrat Hans Hürlimann in seiner Ansprache bei der Eröffnung des Bauwerks so charakterisierte: „Beginn und Vollendung dieses Tunnels fallen in unterschiedliche Epochen schweizerischer Strassenbaupolitik. Unbestrittene Dynamik hat anderen Erwägungen, Skepsis und Vorbehalten gegen Fortschritt und Verkehr Platz gemacht.“

Ein Abbild schweizerischen Handelns

Der Alpentunnel auf der Verkehrsachse entlang der wirtschaftsstarken „blauen Banane“ zwischen den Beneluxländern und der Lombardei ist nicht nur ein Kristallisationspunkt des gesellschaftlichen Sinneswandels gegenüber solchen Grossprojekten.

Sein Werden und Wesen ist auch ein Abbild des politischen Handelns in der Schweiz, das sich lange Zeit durch Sparsamkeit auszeichnete und nach wie vor von Föderalismus und Partizipation geprägt ist. So war der Gotthardtunnel anfänglich nicht Bestandteil der Nationalstrassenplanung.

Und der kleine Kanton Uri zeigte beim Baumanagement mehr Mühe als der grössere Kanton Tessin. Er verhinderte auch, dass der Tunnel schon während seines Baus um eine zweite Röhre ergänzt wurde. Zudem schalteten sich immer wieder die SBB bremsend in die Diskussionen ein, weil sie durch den Strassentunnel ihre Felle im lukrativen Transitverkehr davonschwimmen sahen.

Die meisten Arbeiter aus Italien 

Baugeschichtlich war der Gotthardtunnel gleichermassen ein Kind der Hochkonjunktur als auch ein Experimentierfeld. Die Fluktuation der zu drei Vierteln aus Italien stammenden Arbeiter war zumindest bis zur Ölkrise von 1973/74 hoch. Und die Herausforderungen, welche die grösste Strassentunnelbaustelle der Welt bot, förderten Innovationen, zum Beispiel bei der Belüftung der Baustellen, aber auch Kontroversen, die der gewerkschaftlichen Organisation der Tunnelarbeiter zuträglich waren.

Waren bei den Bauarbeiten für den Strassentunnel verschiedene Zugänge im eigentlichen Sinne des Wortes notwendig, so motivierten Lücken bei den klassischen Aktenquellen Alexander Grass zum Beizug weiterer Grundlagen.

Als ergiebig erwies sich nicht nur das Privatarchiv des in der Leventina dauerhaft ansässig gewordenen Bauführers und Tunnelbaufotografen Walter Scheidegger, aus dem auch die eindrücklichen Schwarz-Weiss-Bilder von den Bauarbeiten stammen. Aussagen zahlreicher Zeitzeugen, die Grass interviewt hat, verleihen dem Text Unmittelbarkeit und Farbe.

Tiefschürfende Recherche 

Indem er die „Originaltöne“ immer wieder mit seinen Erkenntnissen aus schriftlichen Quellen verwebt, knüpft der Autor an sein ursprüngliches Metier an, den klassischen Radiojournalismus. Was einen kurzen gesprochenen Text lebendig macht, kann im langen schriftlichen Medium des Buches die Übersicht einschränken. Möglicherweise wären die mündlichen Quellen besser punktuell in spezifische Textelemente ausgegliedert worden.

Die grosse Leistung des Autors in Bezug auf Recherche und Interpretation schmälert das nicht. Immer wieder beleuchtet er auch Teilaspekte. Ein Beispiel ist die Überdeckung der Autobahn bei Airolo, die nun mit dem Bau der zweiten Tunnelröhre realisiert wird und ihre lokale Akzeptanz absichert. Sie wurde vor fast 20 Jahren zum ersten Mal politisch aufs Tapet gebracht.

Tunnels bleiben schwarze Löcher

Angelehnt an grundlegende Auseinandersetzungen mit dem Tunnelbau stellt Alexander Grass schliesslich fest, dass Röhren durch Berge ungeachtet ihrer Dimensionen und ihren Beiträgen zur Reduktion topografischer Herausforderungen letztlich schwarze Löcher bleiben. Sie lassen sich weniger gut inszenieren als Hochbauten, „weil sich die künstlerische Gestaltung schwer tut mit dem Nichts“.

Diese Tatsache vermögen die Tunnelportale des Architekten Rino Tami im Süden nur geringfügig zu relativieren –, auch wenn dessen Wirken in einer Publikation des New Yorker Museums of Modern Art gewürdigt wurde.

Alexander Grass: Durchschlag am Gotthard – Der Bau des Strassentunnels 1970–1980. Zürich: Hier und Jetzt, 2021.

 

 

 

 

 

 

 

 

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