Am 11. September feiert Arvo Pärt seinen neunzigsten Geburtstag. Aus der jüngeren Filmgeschichte ist seine Musik nicht wegzudenken.
Kein zeitgenössischer Komponist ist so häufig im Kino zu hören wie Arvo Pärt. Hundertfünfzig Filme verzeichnen den gebürtigen Esten gemäss der Online-Datenbank IMDb auf dem Nachspann, weitere Produktionen, etwa «The Endless», ein Dokumentarfilm über die Opfer des mexikanischen Drogenkriegs, sind im Entstehen. Sein filmischer Werkkatalog umfasst so unterschiedliche Titel wie «Heaven», der romantische Thriller von Tom Tykwer, «Avengers: Age of Ultron und Paul Thomas Andersons episches Drama «There Will Be Blood». Auch Richard Dindo hatte «Grüningers Fall» (1997) eine Partitur von Pärt hinterlegt.
Mag sein, dass die Affinität dieser Filmemacher mit Pärts Musik in deren religiöser Färbung begründet liegt. «Cantus» und «Missa Sillabica» zählen zu Pärts frühen Arbeiten, die noch in der UdSSR entstanden waren; in den Achtzigerjahren – bereits in der Emigration – folgten eine «Johannes-Passion» und ein «Te Deum». Die Gregorianik nimmt in seinem künstlerischen Schaffen seit jeher einen zentralen Platz ein, auch die Vokalpolyphonie der Renaissance war prägend. Die spirituelle Dimension seiner Musik war insbesondere für das an Mystik interessierte, beziehungsweise generell um «Tiefe» bemühte Filmschaffen relevant, das in Pärts Kompositionen eine adäquate musikalische Entsprechung fand.
Pärts Sensibilität
Terrence Malick etwa hat ein Werk geschaffen, das – von «The Thin Red Line» bis zu «A Hidden Life» – mittels einer sorgfältig kalibrierten Tonmischung die (inneren) Dialoge seiner Figuren und die Musik nachgerade zum Verschmelzen brachte. «Annum per annum», «The Deer’s Cry» und «Symphony No. 4 Los Angeles» gehören unter anderem zu den Titeln, die es Malicks Regie erlaubten, sich von einem naturalistischen Erzählstil abzuwenden. Doch auch in Inszenierungen, die sich aufs Weltliche beziehen, ist Pärts Sensibilität gefragt: Für «Revoir Paris» griff Alice Vinocour auf «Fratres» zurück, um das Schockgefühl, das die französische Hauptstadt in der Folge der 2015 verübten Attentate erfasste, akustisch erfahrbar zu machen.
Überraschenderweise sind es oft die klaren harmonischen Strukturen, die die prägendsten Begegnungen von Musik und Film provozieren. Allein «Für Alina», ein wenige Minuten langes, minimalistisches Klaviersolo, ist in einem Dutzend Produktionen zu hören. Erstaunlich ist auch die stilistische Bandbreite der jeweiligen Inszenierungen, beziehungsweise der nachgerade willkürlich erscheinende Einsatz der Musik. So setzt etwa Andrei Zvyagintsevs «Die Verbannung» auf «Für Alina», um den Zerfall einer Ehe nachzuzeichnen, während Sandra Nettelbeck die Komposition in ihrer Küchenkomödie «Bella Marta» zitiert.
«Tintinnabuli-Stil»
In «Gerry» von Gus Van Sant, der zwei Männer (Matt Damon und Casey Affleck) auf ihrer Odyssee durch eine Wüstenlandschaft begleitet, ist die Melodie einer meditativen Szene unterlegt, in der die Kamera in einer langen Kreisbewegung um Afflecks Gesicht zirkuliert, als ob sie versuchte, dessen seelische Befindlichkeit zu erkunden. «Foxcatcher» von Bennett Miller wiederum baut auf die Partitur, um den vom Protagonisten begangenen Mord als Akt eines Psychopathen darzustellen, der nach und nach in den Wahn abgleitet. Pärts Musik ist in dieser Szene umso dominanter als sie die Szenengeräusche übertönt und zugleich die Schlusssequenz einleitet, die mittels einer komplexen Bildmontage zu einer visuellen Entsprechung der Paranoia des Täters gelangt.
«Für Alina» gilt als Geburtsstunde von Pärts sogenanntem «Tintinnabuli-Stil», der im Anschluss auf eine lange schöpferische Pause im Lauf der 1970er Jahre entstanden war, und ist nicht undenkbar, dass das Ideal der Einfachheit, das Pärts Partituren in der Folge unterlag, dem Dialog zwischen Spiritualität und (Film-)Ästhetik förderlich war: die asketischen Kompositionen – ein «glockenähnlicher» Dur- oder Moll-Dreiklang steht einer Melodiestimme gegenüber – schienen jedenfalls nachgerade dazu bestimmt zu sein, die kinematografischen Innen- und Aussenwelten zu illustrieren.
Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Gefühlslagen
Nanni Moretti etwa baute auf das «Dies Irae» der Komposition «Miserere», um das Vakuumgefühl des angehenden Papsts in «Habemus Papam» fassbar zu machen. In «Félicité» des Franko-Senegalesen Alain Gomis, der ein intimes Mutter-Sohn-Drama in Kinshasa nachzeichnet, bietet das vom «Orchestre symphonique kimbanguiste» eingespielte «Fratres» einen frappanten Kontrapunkt zu den dokumentarisch anmutenden Strassenszenen, die das Publikum mit dem rohen Chaos in der kongolesischen Hauptstadt konfrontieren. Bei Michael Mann («The Insider») dient der Rückgriff auf «Litany» dazu, den Jobverlust der Hauptfigur und deren anschliessendes gesellschaftliches Abgleiten als sensorielle Erfahrung nachvollziehbar zu machen.
Ebenso wie in die Tiefe — wovon etwa die Chorkomposition «De Profundis» zeugt – zielt Pärt jedoch stets auch auf die Oberfläche: Arbeiten wie «Spiegel im Spiegel» sowie «Tabula Rasa» tragen diese Ambition bereits im Titel. Beide Werkbezeichnungen könnten überdies als Synonym für die Leinwand gelten und scheinen sich als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Gefühlslagen nachgerade anbieten.
Hypnotische Partituren
Lässt sich die Popularität von Pärts Musik unter den Filmemachern mit ihrem reflexiven Potenzial erklären? Seine Musik sei «ein einzigartiger Moment, der sich über einen Zeitraum erstreckt», schrieb der Biograph (und Dirigent) Paul Hillier. Das Fliessende, die Plastizität des «Spiegel»-Themas ermöglichte es Alfonso Cuarón, den Trailer von «Gravity» zu veredeln, auch in der israelischen Produktion Foxtrot», die das Kriegstrauma eines Elternpaars nachzeichnet, ist das Stück zu hören.
Gus Van Sant, definitiv ein Pärt-Apologet, zitiert die Komposition in der Eingangssequenz von «Gerry», während die Kamera das Auto begleitet, in dem Matt Damon und Casey Affleck in die Wüste fahren. Die minimalen melodischen Variationen finden im kargen Dekor eine ideale Entsprechung, man ahnt bereits, dass die Figuren die Reise nicht unbeschadet überstehen werden. Solange ihnen die Filmbilder einen adäquaten Resonanzboden liefern, werden Pärts hypnotische Partituren im Kino wohl auch in Zukunft zu hören sein.