
David Lynch (1946–2025) ist unter den Regisseuren der Boomer-Generation der herausstechende Phänomenologe einer postmoralischen Befindlichkeit. Sein Werk fokussiert sich auf eine Diffusion der Gewalt, die einsetzt, wenn erst klare Grenzen entfallen.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmte ein autoritärer Erziehungsstil das Feld. Man wusste, was sich gehörte, was zu tun und zu lassen war. Es gab eine unzweifelhafte Scheidung von Gut und Böse, und die Eltern hatten den Nachwuchs vom Absturz in das Letztere zu bewahren – auch mit Methoden, die uns heute gruselig vorkommen.
Die bürgerliche Familie umgab sich stets mit einem Zaun von rigorosen Verboten. Damit schränkte sie zwar die Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder ein, stellte diesen aber auf der anderen Seite – wenn auch ungewollt – eine Arena zur Verfügung, worin sie den Akt einer als Initiation verstandenen Ablösung erbringen konnten. Die rigiden elterlichen Moralvorstellungen und deren Verlängerung ins Über-Ich hinein, genau das stellte die dornige Hecke dar, die Freuds Ödipus zu überwinden hatte, um sein Dornröschen zu finden.
Die Stunde Null
Hitchcock etwa war der exzellente Zeremonienmeister einer Initiationsform, die nach der Jahrhundertmitte zunehmend Verbreitung fand. Im Grunde artikulierte er im Feld der Unterhaltung dieselbe Mythologie, welche zuvor schon die klassische Psychoanalyse den Gebildeten verkündet hatte. In dieser Mythologie nun verläuft die Initiation ins Erwachsenenleben über ein rituelles Aufbegehren, über die offene Beseitigung jener Schranken, welche zuvor die Familien- bzw. die Standesidentität schützten.
Doch diese Initiation in Form einer ritualisierten Überschreitung zeitigte höchst problematische Folgen: Indem sie nämlich den moralischen Rahmen einer dauernden Erosion unterwarf, begann sie rasch einmal, ihre eigenen Voraussetzungen aufzuzehren. Subjekte, die einmal ihr Über-Ich überwunden, das heisst die Eltern im Kopf entmachtet haben, werden der kommenden Generation ja kaum mehr den entsprechenden Widerstand entgegensetzen. So führt die Initiation über die Reibung an der Moral letztlich zu deren Auflösung.
Die Stunde Null, der Zeitpunkt, an dem die westlichen Industriegesellschaften definitiv in einen postmoralischen Aggregatszustand übergingen, lässt sich im Übrigen ziemlich genau datieren: Es sind die späten sechziger Jahre, in denen sich die materiell bereits reichlich verwöhnte Nachkriegsgeneration erhob und mit einer Welle ungezügelten Begehrens die anal-verstopften Werthaltungen der Grosseltern ins Klosett der Geschichte spülte.
Welt als Experimentierkasten
Darüber, was seither auf dem Feld der Initiation der Fall ist, berichtet das Werk von David Lynch. Geboren 1946, gehört er jener Generation der Sorglosen an, die unter den Segnungen einer fast dauernd prosperierenden Wirtschaft und einer fortschreitenden geistigen Liberalisierung aufwachsen durfte. Soweit bekannt ist, fand er rundum ideale Familienverhältnisse vor – weit entfernt von jenen Abgründen, in die seine Filme immer wieder blicken lassen. In seinen Jugendjahren erlebte Lynch ein Amerika, das noch weitgehend in Ordnung war; das Feindliche, das Böse, wenn es denn überhaupt thematisiert wurde, war weit weg – irgendwo jenseits des Nordpols.
Entsprechend war auch der Geist, in dem Lynch erzogen wurde, ein offener: Da erinnert wenig an den Mief, die moralistische Enge der kleinbürgerlichen Familie. Die Welt erscheint jetzt nicht mehr so sehr als ein Sündenbabel, das einen in die Verdammnis hinabziehen könnte, sondern als eine Art von Experimentierkasten, an dem sich eine gesunde Neugier erproben lässt. Bezeichnenderweise haben alle Protagonisten Lynchs – die weiblichen wie die männlichen – diesen offenen Blick, der ihnen eine grosse Unbefangenheit im Umgang mit ihren Möglichkeiten erlaubt.
Idyll in Scherben
Da ist zum Beispiel Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan) aus «Blue Velvet» (1986): Er ist aufgewachsen in der Idylle der Ortschaft Lumberton, eingebettet in die Sicherheit eines heilen Amerika, dessen blau-weiss-roter Putz noch nicht vom leisesten Zweifel angekratzt ist. Auf dem Weg zu seinem hospitalisierten Vater findet Jeffrey ein abgeschnittenes Ohr, und dieser Fund lässt ihn buchstäblich durch die Fugen seiner vermeintlich hermetischen Welt fallen. Nun ist nämlich Aufdeckung angesagt – nach aussen wie nach innen.
Während die äussere Ermittlung, die Nachforschung nach dem Besitzer des Ohrs, in eine Kloake von Verderbtheit und Gewalt führt, wird Jeffrey im Zuge der inneren Suche mit seinen geheimsten sexuellen Wünschen konfrontiert. Im Schlafzimmer einer mysteriösen Nachtclubsängerin (Isabella Rossellini) gelangen die parallelen Prozesse schliesslich zur Deckung. Jeffrey erlöst diese Prinzessin aus einem Zustand somnambuler Melancholie, indem er den Perversling Frank (Dennis Hopper) beseitigt, der sie zuvor drangsaliert hat, und sich dann selbst an dessen Stelle setzt.
Aber kaum ist das Werk vollbracht, die sexuelle Initiation durchlaufen, wird der Held zurückgebeamt in die Welt der properen Gärtchen und des beschränkten Biedersinns, wo ihn seine Sandy (Laura Dern) mit ihrem Geplauder über zwitschernde Vögel erwartet. Er hat eben die Hecke durchstossen, doch es ist gerade so, als wäre nichts geschehen; die Initiation hat zu keiner wirklichen Veränderung geführt, war nur ein Alptraum, über dem sich die Normalität wieder fugenlos schliesst. Die plötzliche Erkrankung des Vaters hat ihm gezeigt, dass es für ihn Zeit wäre, in die Erwachsenenwelt einzutreten. Der Schock darüber hat ihn, wie durch eine Falltüre, aus einem gesicherten Kontinuum hinausrutschen lassen, hinaus ins Reich der Phantasmen, welche die Geheimnisse der Sexualität umkreisen.
Unfassbare Präsenz des Bösen
Was er da jedoch erlebt hat, lässt sich mit seiner Mittelschichten-Realität nicht vermitteln; weder die Lust noch die Qual finden eine adäquate Repräsentation in der kollektiv wahrgenommenen Wirklichkeit. Dem monströsen Frank entspricht nichts in dieser psychohygienisch gebleichten Tagwelt; so gibt es hier auch keinen Tabubezirk, in den gebannt werden könnte, was der Unhold verkörpert. Das Böse bleibt somit ungreifbar, erhält eine unheimliche, fluktuierende Qualität. Jeffrey bleibt eine wirkliche Katharsis verwehrt; deshalb kommt er auch nicht umhin, sich seinem Schatten erneut zu stellen.
Er tut das schliesslich in der TV-Serie «Twin Peaks» (1990), nun in der Gestalt von Agent Cooper (wieder Kyle MacLachlan). Erneut gilt es, einen Fall aufzuklären: Laura Palmer (Sheryl Lee), eine Schülerin der örtlichen High-School, ist ermordet worden, und die Nachforschungen Coopers fördern einen wahren Sumpf des Lasters zutage, der sich unter der Oberfläche des verträumten Orts verbirgt. Der Gipfelpunkt: Der eigene Vater hat Laura missbraucht und umgebracht.
Aber dieser Leland Palmer (Ray Wise) stellt mitnichten das Zentrum des Bösen dar; dieses ist vielmehr Bob (Frank Silva), eine diabolische Gestalt, die sich seiner bemächtigt hat und die nach seinem Tod weiter ihr Unwesen treiben wird. Der äusseren Aufklärung gelingt es hier also wiederum nicht, den Kern des Unheils dingfest zu machen. Entsprechend muss Cooper zur inneren Aufdeckung weitergehen, er muss ins Herz der Finsternis eindringen und in den Spiegel schauen, aus dem ihm letztlich Bobs Fratze entgegengrinst.
Cooper selbst, der Garant einer offenen, toleranten Vernunft, entgeht nicht der Kontamination mit jenem Fürchterlichen, das er von Twin Peaks fernzuhalten versucht. So rächt sich die Abschaffung einer eindeutigen Trennung von Gut und Böse: Nachdem die aufgeklärte Vernunft Hölle und Teufel ins Reich der Märchen verwiesen hat, wird Destruktion zugleich unfassbar und universal, lauert schliesslich in jeder Ritze der alltäglichen Banalität. Die psychologisch gut informierte mittelständische Welt, in die Lynch hineingeboren wurde, bezahlt ihre Weigerung, das Böse ausdrücklich an Sündenböcken und Tabubezirken festzumachen, mit einer diffusen Allgegenwart der Gewalt.
Im Irrgarten der Zeichen
Die Orte Lumberton und Twin Peaks bieten Bilder eines trügerischen Friedens, über die jederzeit die vernichtende Aggression hereinbrechen kann. Insofern spiegeln sie die moralische Verfassung einer offenen Gesellschaft wider, die sich der Offenheit für jegliche Erfahrung verschrieben hat und entsprechend feste Schranken wie klare Ausschliessungen zurückweist. Was da an Trennlinien bleibt, erinnert an osmotische Membranen oder an jene unsichtbaren Abgrenzungen zwischen einzelnen Shops, wie man sie in grossen Einkaufslandschaften vorfindet. Da geht alles durcheinander, niemand weiss je, wo er steht.
Ein aufgeklärt liberales Denken hält sich zugute, dass es substantielle Differenzen zugunsten reversibler Unterscheidungen zurückgenommen hat: So steckt denn eben in jedem Tellerwäscher ein Millionär, in jedem Erwachsenen ein Kind – aber auch in jedem Vater ein Vergewaltiger. In diesem Irrgarten der Zeichen ist nichts, was es scheint; alles ist in fortwährender Permutation begriffen. Hier muss kein Prinz sich mehr mit einer Dornenhecke abmühen; was bleibt, sind Gummizäune, die immer zurückweichen, die nie wehtun, die einen aber auch nicht wirklich rauslassen.
Hitchcocks Generation hatte die ungebrochene Autorität von Eltern gegen sich, die sich auf eine intakte Moral berufen konnten und daher immer genau wussten, was «man» tut oder eben nicht. Da hatte das Familien-Ei eine harte Schale, die einengte, die aber immerhin auch durchbrochen werden konnte. Diesbezüglich tat sich die Generation der Enkel, der Lynch angehört, um einiges schwerer – paradoxerweise genau in dem Masse, in dem der Druck von ihr genommen wurde. Der fehlende Widerstand liess nämlich die Initiations-Aufwände tendenziell ins Leere laufen. In der Gummizelle kann der Tapferste kein Profil gewinnen.
Was will Dornröschen?
Und das ist fatal für Dornröschen. In der Tat hat Lynch ja auch dessen Perspektive thematisiert, beispielsweise in «Wild at Heart» (USA 1990): Dieser Film erzählt von Lula (Laura Dern), die sich von ihrer besitzergreifenden Mama (Diane Ladd) lösen will. Die ödipale Anlage der Geschichte wird schon daran deutlich, dass die Mutter selbst Lulas Vater beseitigen liess, wie sie auch ihrem Freund Farragut (Harry Dean Stanton) Killer auf den Hals hetzt, sobald der sich für die Unabhängigkeit der Tochter stark macht. Die Mutter erscheint als eine Über-Glucke, der jedes Mittel recht ist, um zu einer ungebrochenen Zweieinigkeit zurückzukehren, um wieder einzutauchen in die Seligkeit der symbiotischen Verschmelzung.
Lula brauchte wirklich einen starken Helden, um da herauszukommen. Sie kriegt Sailor (Nicolas Cage). Der ist – anders als Jeffrey oder Cooper – nicht der Aufdecker einer verborgenen, verhängnisvollen Wahrheit, sondern deren Träger; er war nämlich als Fahrer dabei, als Lulas Vater ermordet wurde. Nachdem er schon nicht ins Geheimnis eindringen kann, versucht er stattdessen, möglichen Konsequenzen zu entfliehen; in «Wild at Heart» führt die Bewegung denn tatsächlich auch nur nach aussen. Sie bleibt aber um nichts weniger hoffnungslos: Die Flucht mit Sailor kann Lula nicht wirklich befreien, weil der ja selbst Teil des initialen Komplotts war. Doch abgesehen davon taugt Sailor auch von seiner Konstitution her nicht als Retter, dazu fehlt dieser Figur ganz einfach die nötige Konsistenz.
Gummizäune, Plastikhelden
Den Gummizäunen im postmoralischen Alptraum entsprechen die Plastikhelden. Sailor präsentiert sich als eine einzige Ansammlung von verbrauchten Klischees der Jugendkultur: Das Schlangenlederjäckchen, das für seine Individualität und persönliche Freiheit bürgen soll, ist bei Marlon Brando geklaut; die Elvis-Songs schmalzt er im Stil einer Jukebox herunter. Wie beliebig austauschbar Sailor ist, zeigt sich nicht zuletzt in jener Szene, als Bobby Peru (Willem Dafoe) sich anschickt, Lula zu verführen. Dieser Prinz ist noch nicht einmal ein Frosch, er hat gar keine Kontur. So wird er Lula auch nicht aus ihrem Bann erlösen.
Dem scheint zwar das Ende des Films zu widersprechen, wo Sailor und Lula glücklich vereint sind, während die «böse Hexe» – die Mutter – sich in rasender Eifersucht verzehrt. Doch dieser Schluss ist viel zu artifiziell, um für wahr genommen zu werden. Lula mag von einer Bilderwelt in die andere gelangt sein, von einer Fiktion zur nächsten, aber nicht wirklich nach draussen. Sie bleibt weiterhin ungeboren, umfangen vom Fruchtwasser flottierender Zeichen.
Noch deutlicher hat Lynch dieses Scheitern auch der weiblichen Initiation in der Kino-Filmfassung von «Twin Peaks – Fire Walk With Me» (USA 1992), der Kinofassung seiner legendären TV-Serie, zum Ausdruck gebracht. Dort ist der Prinz in spe von allem Anfang an als Patchwork-Protagonist gekennzeichnet. Es gibt gar keinen einheitlichen Ermittler; dieser ist vielmehr zersplittert in die Figuren der Agenten Cole (David Lynch selber), Desmond (Chris lsaak) und natürlich Cooper. Der erste ist schwerhörig und versteht nichts, der zweite verschwindet einfach unmotiviert, und der dritte gibt Banalitäten von sich: Weder bildet die Figur des Aufklärers eine Einheit, noch folgt ihr Tun einer erkennbaren Richtung. Kein Wunder, kann Laura Palmer ihrem Vater nicht entrinnen.
Unmöglichkeit der Abgrenzung
Gerade über fragmentierte Helden wie Sailor oder den multiplen Detektiv aus «Twin Peaks – Fire Walk With Me» kann man aber ins eigentliche Zentrum von Lynchs Universum gelangen, nämlich zur Frage: Wer kann ich werden, wenn mir gegenüber keine(r) ist? Dabei meint der Nebensatz nicht die Absenz eines jeglichen Gegenübers, er besagt einzig, dass niemand mehr da ist, der eine feste, identifizierbare Position bezieht. Nachdem eine allgemein verbindliche Ordnung fehlt, fällt es den einzelnen zunehmend schwerer, sich gegeneinander abzugrenzen.
Dieser Umstand jedoch ist geeignet, zwei entgegengesetzte Ängste auszulösen: Wenn der andere nicht fassbar ist, kann die Furcht entstehen, dass er sich schliesslich ganz verflüchtigt; die entsprechende Reaktion läuft auf ein reflexhaftes Anklammern hinaus. Umgekehrt mag aber der unbestimmte Umriss des andern auch die Angst wecken, von ihm gleichsam überflutet zu werden, bewirkt also einen Horror, der zwangsläufig zur Fluchtreaktion führt. Unter der Drohung dieser beiden Ängste sind alle Beziehungen letztlich von tiefgreifenden Abgrenzungsproblemen überschattet.
Und in seinen späteren Filmen («Lost Highway», «Mulholland Drive») hat Lynch die Entfesselung der Signifikanten noch weitergetrieben. Hier fehlt den Protagonisten jede feste Kontur und ihre eigentliche Botschaft lautet: Seht her, wir sind nur Zeichen – und genau wie ihr auf der Suche nach Sinn. Es gibt keinen Referenzpunkt mehr, der sicheren Halt böte. Das ist in der Tat die existenzielle Befindlichkeit im späten 20. wie auch im frühen 21. Jahrhundert. David Lynch hat mit bestechender Brillanz analysiert, was ist; kein Wunder, dass er mit keinem Wort sagt, was aus uns werden soll.