
Für sein schriftstellerisches Werk bekommt diesen Sonntag Alain Claude Sulzer den Solothurner Literaturpreis. Was er kann, hat er zuletzt im Roman «Fast wie ein Bruder» gezeigt. Ein Buch, das eine aufschlussreiche Debatte ausgelöst hat – über «Zigeuner».
Wie rasch doch ein Leben aus dem Gleichgewicht kommen kann. Das ist, neben der Homosexualität, eine der Grundfragen, die der 1953 geborene Schriftsteller Alain Claude Sulzer in immer neuen Anläufen seit vier Jahrzehnten umkreist – und wofür er diesen Sonntag den Solothurner Literaturpreis bekommt. In überraschenden Volten kommt er auch in «Fast wie ein Bruder» auf diese Themen zurück, seinem neuesten, im letzten Jahr erschienenen Roman. Der mit gleich zwei Katastrophen beginnt.
Sein Erzähler lebt in einer engen Freundschaft mit dem Nachbarsjungen Frank, als innerhalb weniger Monate ihre Mütter sterben. Es ist die erste Katastrophe in ihrer beider Leben. Zwei Stockwerke unter ihnen wohnen die Zigeuner, vor deren Wohnung sich die Schuhe unordentlich stapeln. Ein fremdes, aber irgendwie auch anziehendes Volk, jedenfalls in Gestalt der jungen Zigeunerinnen, die mit den Zungen schnalzen und anzügliche Bemerkungen machen.
Die aber eines Tages bedrohlich vor Franks Wohnung stehen. Dort drin steckt Matteo, einer der Ihren, und hat wenig am Leib: Frank und er, sie lieben sich. Was natürlich nicht sein darf, wir sind in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Der Skandal um Frank löst eine Trennung aus: Beide Väter ziehen mit ihren Söhnen weg, die alsbald ihre eigenen Wege gehen. Frank wird Kunstmaler, der Ich-Erzähler Kameramann. Frank hat hochfliegende Pläne, sieht sich als Künstler, der Erzähler bleibt auf dem Boden und fängt ganz bescheiden mit Werbefilmen an. Sie bleiben verbunden, sehen sich immer mal wieder, dann aber trennt sie ein Ozean: Frank lebt in New York, der Erzähler in Hamburg, später zieht er mit Marie-Noëlle, seiner Frau, nach Südfrankreich.
Qualvolles Sterben und ungeliebter Nachlass
Erfolg hat Frank nicht, aber er fühlt sich frei, seine Homosexualität auszuleben. Bis in den Achtzigerjahren mit Aids eine andere, diesmal weltumspannende Katastrophe auch über ihn hereinbricht. Als er zuerst davon hört, denkt der Erzähler sofort an Frank. Nicht zu Unrecht. Todkrank kehrt Frank in die Heimat zurück, liegt im Spital, wo der Erzähler ihn besucht. Ein qualvolles Sterben beginnt, unablässig zeichnet Frank – und macht den Erzähler zum Verwalter seines Nachlasses. Der verstaut Bilder und Zeichnungen achtlos in einer Remise, anfangen kann er damit nichts. Bis er Jahrzehnte später die Zeitung aufschlägt. Den überraschenden Rest verraten wir nicht.
Souverän, mit kühnen Zeitsprüngen und begleitet von unterschwelliger Spannung zeichnet Alain Claude Sulzer in knappen Strichen zwei Leben nach, jenes des arrivierten, aber auch in Routine erstarrten Kameramanns und jenes des lebenshungrigen Künstlers, den seine Homosexualität zum Aussenseiter macht. In einer Nebenszene taucht als einer von vielen seiner Liebhaber der Pianist Marek Olsberg auf, «dem der Ruf vorausging, sich in den Fussstapfen der Berühmtesten seiner Zunft zu bewegen», wie es heisst. Der aber dann dadurch berühmt wird, dass er mitten in einem Konzert den Klavierdeckel zuschlägt und den Saal verlässt.
Ein Blick auf das Werk
Es ist jener Marek Olsberg und jene Szene, die in «Aus den Fugen» (2012), Alain Claude Sulzers bekanntestem Roman, nicht nur den Starpianisten aus seiner steilen Karriere katapultiert. Sondern die auch manche Zuhörerinnen und Zuhörer in Verlegenheit bringt. So entwirft Sulzer ein Geflecht unterschiedlicher Schicksale. Die «Welt» hat ihn denn auch im Jahr 2010 als «einen der stilsichersten, subtilsten und gleichzeitig eigenwilligsten Prosaautoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur» bezeichnet. Die Sehnsucht sei ein zentrales Motiv, schrieb 2018 das «Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur»: «Sehnsucht nach dem Schönen und nach der Kunst, nach dem Geliebten und nach der gemeinsamen Zeit».
Das fängt 1983 an mit «Das Erwachsenengerüst», der Geschichte einer Jugend, setzt sich 1990 fort mit «Die siamesischen Brüder» über die siamesischen Zwillinge Cang und Eng, einer «weit über die beiden hinausreichende Geschichte von Trennung und Sterben zweier Menschen» (Süddeutsche Zeitung). In der Novelle «Annas Maske» (2001) greift Sulzer die wahre Geschichte der Sängerin Anna Sutter auf, die oft die «Carmen» gesungen hat – und die von einem Dirigenten umgebracht wird, dessen Liebe sie verschmäht hat. Daraus entwickelte Sulzer 2017 das Libretto zu einer von David Philipp Hefti für das Theater St.Gallen komponierten Oper.
In «Ein perfekter Kellner (2004) lässt er in einem fiktiven Schlüsselroman auf Thomas Mann eine grossbürgerliche Welt und ihrer Hotelangestellten lebendig werden. Als sein «bisher schönstes, tiefstes, sprachsinnigstes Werk» beschrieb der «Rheinische Merkur» den Roman «Privatstunden» (2007), der die kurze Liebesbeziehung zwischen einem jungen politischen Exilanten und seiner verheirateten Sprachlehrerin beschreibt.
«Zur falschen Zeit» (2010) handelt von der Suche eines 17-Jährigen nach seinem leiblichen Vater, bei der er herausfindet, dass dieser als Homosexueller in den frühen 1950er-Jahren ein Doppelleben führen musste. Einhelliges Lob erntete Alain Claude Sulzer für die Autobiographie «Die Jugend ist ein fremdes Land» (2017). Auch in «Doppelleben» (2022) stehen zwei Schriftsteller im Zentrum – Jules und Edmond de Goncourt –, mehr aber noch ihre rätselhafte Haushälterin.
Eine Debatte über «Zigeuner»
«Fast wie ein Bruder», Alain Claude Sulzers neuestes Werk, hat schon im Vorfeld Wellen geworfen, und zwar deshalb, weil er einen Auszug aus dem Roman bei der Basler Literaturjury mit einem Antrag auf Förderung eingereicht hatte. Der zuständige Fachausschuss wurde stutzig, empfahl aber grundsätzlich die Förderung und riet, wegen des Wortes «Zigeuner» mit Sulzer zu reden. Ohne diesem Vorschlag zu folgen, verlangten die Leiterinnen der Abteilung Kultur in Basel und Baselland, Sulzer solle schriftlich Stellung nehmen. Eine von ihnen war nicht bereit, Mittel für das Buch zu sprechen.
Sulzer sollte begründen, warum er das Wort «Zigeuner» verwende, welches der Duden als «diskriminierend» markiere, und überdies die «Relevanz» der «stereotypen Beschreibung des Wohnumfelds» erläutern. Ausser Acht blieb dabei, dass er in seinem Roman ja die Sichtweise seines Ich-Erzählers wiedergibt, und zwar in Worten, wie sie in den 1960er-Jahren üblich waren. Sulzer zog sein Gesuch umgehend zurück und machte den Fall öffentlich. Dutzende von E-Mails an ihn warnten vor diesem Eingriff in die Kunstfreiheit, sein Verlag intervenierte mit einem offenen Brief. Es stellte sich heraus, dass das Fachgremium vom Brief ihrer Vorsitzenden nichts gewusst hatte.
Die «NZZ am Sonntag» bat darauf mehrere Schriftsteller um eine Stellungnahme. «Sulzer darf nach meinem Dafürhalten Zigeuner schreiben, wenn seine Figur im Text Zigeuner meint», schrieb etwa Nora Gomringer. «Wie sonst kann ein Zeit-, Sitten- und glaubhaftes Erinnerungsbild gelingen, das uns die Menschen vorführen kann, wie sie waren, als sie waren?» Das schreibe eine, «die auf zwei Indianer in ihren Texten bestehen musste bei einer Lektoratsrunde, weil sie Teil der Erinnerungen einer Frau waren, die an ihre Kindheit in den 1960er-Jahren zurückdenkt». Und Thomas Hürlimann hatte von seinem Freund Sandor erzählt, der ihm als allererstes beigebracht hatte, dass er nicht Roma oder Sinti, sondern Zigeuner genannt werden wollte. «Denn dieses Wort enthielt sein Schicksal, die bittere Geschichte seiner Sippe.»
Alain Claude Sulzer: Fast wie ein Bruder. Galiani, Berlin 2024, 186 Seiten
Hinweis: Der Teil des Artikels nach dem letzten Zwischentitel wurde ergänzt.