Weltweit gesehen verliert Israel ständig an Reputation. Die Strasse ist fast überall palästinensisch dominiert. Mit brachialer Politik treibt Ministerpräsident Netanjahu sein Land immer tiefer in die Sackgasse. Er ist zu Israels grösstem Risiko geworden.
Mit der extremen Antwort auf das von Hamas am 7. Oktober 2023 verübte Massaker hat der Staat Israel weltweit seine Gegner und Feinde mobilisiert. Zugleich hat er Freunde und Verbündete in einen schrecklichen Zwiespalt gestürzt. Loyalität zu Israel ist schwierig geworden, einerseits weil auch in traditionell pro-israelischen Ländern die Palästina-Sympathisanten mittlerweile die Strasse beherrschen, andererseits weil die von Israel angerichtete Verheerung in Gaza ein unerträgliches Ausmass angenommen hat.
Wie eng der Israel-Hamas-Krieg mit der komplexen Konfliktlage in Nahost verzahnt ist, haben die letzten Tage klargemacht. Die primären Kontrahenten sind Iran und Israel. Für die Islamische Republik am persischen Golf ist es erklärter Staatszweck, die Existenz Israels auszulöschen. Hamas, Hizbollah und weitere extremistische Formationen werden von Iran als Speerspitzen im Kampf gegen den Erzfeind instrumentalisiert.
Würde Israel kontinuierlich und glaubwürdig eine auf Ausgleich und Frieden mit den Palästinensern sowie auf Abbau von Spannungen in der Region gerichtete Politik betreiben, so wäre eine breite Unterstützung des nun von Iran angegriffenen Landes fast schon selbstverständlich. Trotz des Fehlens dieser Voraussetzung gab es gegen die iranische Drohnen- und Raketenattacke einen beachtlichen internationalen Schulterschluss, an dem sich sogar Jordanien und Saudi-Arabien beteiligten. Das Zustandekommen dieser Allianz ist vor allem ein Stoppsignal an die Adresse Teherans. Das gemeinsame Eingreifen gegen die iranischen Drohnen und Raketen ist aber sicherlich nicht als dauerhaftes Unterstützungsversprechen zugunsten Israels zu verstehen.
Zu sehr hat sich das nun angegriffene Land in den letzten Jahren selbst als Aggressor gebärdet. Israelische Siedler machen sich mit unverhohlener Unterstützung der nationalistisch-konservativen Regierung sowie der Armee im Westjordanland auf Kosten der ansässigen Palästinenser breit. Und in Gaza zeigen die Israelis bei ihrem Versuch, die Terroristen restlos zu vernichten, eine schockierende Rücksichtslosigkeit gegen die Bevölkerung.
Es ist dieses brutale Machtgebaren, mit dem Israel seine interne Politik, seine eigene Gesellschaft und seine Stellung in der Welt vergiftet. Und mit dem fortgesetzten Unrecht, das es an Palästinensern begeht, macht das Land es seinen Hassern und Feinden leicht, sich mit extremistischen Parolen im Recht zu wähnen.
Mit der Regierung Netanjahu treibt das Land immer tiefer in die Sackgasse einer nahöstlichen und globalen Paria-Position. Joe Biden muss, sollte er bei seiner tatkräftigen Unterstützung Israels bleiben, um seine letzten Chancen einer Wiederwahl fürchten. Eine Distanzierung dieses wichtigsten Verbündeten wäre für Israel existenzgefährdend. Zudem könnten die vorsichtig angebahnten Beziehungen in die arabische Welt abreissen, bevor sie richtig zum Tragen kommen. Und mit der Türkei, die lange auf pragmatischen Umgang mit Israel setzte, hat es Netanjahu vermutlich nachhaltig verscherzt.
Netanjahu kann nur weiterregieren, wenn er seine nationalistischen Regierungspartner zufriedenstellt, und die werden immer dreister und extremistischer in ihren Forderungen. Seine Gründe, sich ans Amt zu klammern sind neben einem robusten Sendungsbewusstsein auch handfest privater Natur: Er würde bei Verlust seiner Immunität wahrscheinlich – wie andere israelische Spitzenpolitiker auch schon – wegen Korruption im Gefängnis enden.
Es sind gerade die grossartigen Qualitäten des israelischen Staates, die Netanjahu in diese Zwangslage bringen: Israel ist eine gefestigte Demokratie und ein funktionierender Rechtsstaat mit (trotz Bemühungen der Regierung) immer noch klarer Gewaltenteilung. Die Menschen dort sind selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger und bilden eine lebhafte Zivilgesellschaft.
All das findet man in Nahost in dieser klaren Ausprägung nur in Israel. Und trotzdem hält sich Netanjahu im Amt. Als virtuoser Techniker der Macht gelingt es ihm immer wieder, das Kalkül der Interessen in Parlament und Regierung zu seinen Gunsten zu drehen. Und als abgefeimter Demagoge spielt er auf der Klaviatur der Ängste und Ressentiments, um sich der Gesellschaft als Retter in der Not zu präsentieren. Netanjahu braucht den Krieg in Gaza und die schwelenden Konflikte im Westjordanland, um diese Erzählung aufrechterhalten zu können. Und er hat keinerlei Scheu, das Feuer zu schüren.
Netanjahu ist zurzeit für Israels Sicherheit die grössere Gefahr als der Verbund der iranischen Arsenale und der terroristischen Milizen in Libanon und Gaza. Es ist nicht nur für Israel, sondern für die ganze Weltregion zu wünschen, dass die israelische Bevölkerung es möglichst bald schafft, dieses eine und entscheidende Risiko, auf das sie dank der Demokratie selbst Zugriff hat, aus dem Verkehr zu ziehen.