Frankreichs Atombranche war ein halbes Jahrhundert lang so etwas wie der Stolz der Nation: 58 Atommeiler, die 75% des Strombedarfs im Land liefern und noch 15% der Produktion exportieren und daneben AREVA, der weltweit agierende Atomkonzern mit 45 000 Mitarbeitern, der vom Uranabbau, über die Herstellung von Brennstäben, den Reaktorbau und die Wiederaufarbeitung den gesamten Atomzyklus beherrscht.
Jahrzehnte lang wurde dieser Industriezweig als Wunderwerk französischer Ingenieurkunst gepriesen, Ingenieure, die an den beiden Elitehochschulen Polytechnique und X-Mines herangezogen wurden, eine streng geschlossene Kaste mit beachtlicher Macht, auch in den Büros aller wichtigen Ministerien.
Und jetzt das. Der gesamte Atomsektor, dieser Staat im Staat, ist in nur wenigen Jahren in eine geradezu schwindelerregende Krise geschlittert und niemand scheint zur Stunde in der Lage, einen Ausweg aus dieser Krise aufzuzeigen. Die französische Regierung vermittelt den Eindruck, keinerlei mittelfristige energiepolitische Strategie zu haben und auch nicht sagen zu können, wie es mit der Atomenergie im einzelnen weitergehen soll.
Rote Zahlen
Der Atomkonzern AREVA verzeichnete letztes Jahr Verluste von 5 Milliarden Euro bei einem Umsatz von nur knapp 10 Milliarden und steht am Abgrund. Weltweit wird er jetzt zwischen vier- und sechstausend seiner insgesamt 45 000 Mitarbeiter entlassen müssen. Seit mittlerweile 7 Jahren hat der Konzern kein einziges Atomkraftwerk "Made in France" mehr im Ausland verkauft - die Kunden scheinen seit Fukushima endgültig wegzubleiben - und das einzige AKW, das derzeit in Frankreich gebaut wird, macht vor allem durch eine geradezu unglaubliche Zahl von Pannen und Fabrikationsfehlern von sich reden.
Anfang Juni, auf einer Krisensitzung beim Staatspräsidenten persönlich, wurde beschlossen, dass der zu 85% staatliche Stromkonzern EDF jetzt das Atomreaktorgeschäft vom ebenfalls zu 85% staatlichen AREVA-Konzern übernehmen soll. Und natürlich war auch von einer nicht näher bezifferten staatlichen Finanzspritze für das angezählte Unternehmen die Rede – Experten gehen von 2 bis 3 Milliarden Euro aus.
Industrie der Zukunft?
Dabei hatte Frankreichs ehemaliger Wirtschaftsminister, Arnauld Montebourg, noch vor knapp zwei Jahren lautstark verkündet, Frankreichs Atomindustrie sei ohne Wenn und Aber eine Zukunftsbranche! Damit wiederholte er fast wörtlich, was der frühere Staatspräsident, Nicolas Sarkozy, in den Jahren davor bei jeder sich bietenden Gelegenheit betont hatte. Und auch Umweltministerin Ségolène Royal, Anfang dieses Jahres im französischen Parlament zur Zukunft der Atomindustrie befragt, sagte bei dieser Gelegenheit noch: "Unsere Unternehmen, EDF, AREVA und das Atomenergiekommissariat, investieren in Innovationen und neue Technologien für neue Atomreaktoren, die den Erfahrungen mit den Reaktoren der 3. Generation Rechnung tragen werden."
Frankreichs Präsidenten und Ministern, ob rechts oder links, scheint ganz offensichtlich nicht aufgefallen zu sein, dass etwa die weltweit grössten Energiekonzerne oder Investmentfonds schon seit über einem Jahrzehnt nicht mehr auf Atomenergie setzen und dort investieren.
Atomideologie
Bernard Laponche ist einer, der die Atomindustrie von Grund auf kennt. Als Abgänger der Elitehochschule Polytechnique arbeitete er Jahre lang für das französische Atomenergiekommissariat (CEA), die von der Öffentlichkeit streng abgeschirmte Forschungseinrichtung, die sowohl für die zivile Atomenergie, als auch für die Atombomben der Armee arbeitet. Seitdem hat er mit dem Milieu gebrochen, ist als unabhängiger Berater in Energiefragen tätig und betont seit Jahren, dass sich Frankreich mit seiner Atompolitik auf dem Holzweg befindet.
"Man hält in Frankreich an dieser Pro-Atom-Ideologie fest. Man unterstreicht heute zwar weniger die angeblichen Tugenden diese Atomenergie, insistiert jetzt aber vor allem auf ihre absolute, quasi von Gott gegebene Notwenigkeit und suggeriert, man müsse auch Opfer bringen. Nach dem Motto: man wird doch nicht, nur weil es Fukushima gab, auf diese wunderbare Sache verzichten, die man über Jahrzehnte aufgebaut hat und die die Energieunabhängigkeit Frankreichs garantiert und all diesen Schwachsinn."
Die frühere, konservative Umweltministerin, Corinne Lepage, verweist darauf, dass die Atomlobby in Frankreich eine ganz besondere Lobby ist. "Man kann sie nicht mit der Erdöllobby oder der Nahrungsmittelindustrie vergleichen", so Lepage. "Diese Lobbys sind vom Staat getrennt, während die Atomenergiebranche und der Staat in Frankreich vollständig miteinander verquickt sind. Letztlich ist die Atomlobby hierzulande keine Lobby, sondern Teil des Staates selbst."
Fiasko
Währenddessen jagt in Frankreichs Atombranche derzeit eine Katastrophenmeldung die andere. Nicht nur dass der staatliche Atomkonzern AREVA als solcher angezählt ist. Schlimmer noch: der EPR, der von AREVA gebaute europäische Druckwasserreaktor, vor über 10 Jahren als Reaktor der Zukunft, als das Nec plus ultra der Atomsicherheit und als Flaggschiff für den Export französischer Atomtechnologie gepriesen, lässt sich weltweit so gut wie nicht verkaufen und hat, wo er gebaut wird, gigantische Probleme.
Bislang sind überhaupt nur vier dieser Reaktoren im Bau. Zwei davon in China, wo man noch vor wenigen Jahren von mindestens einem Dutzend EPR-Reaktoren ausgegangen war. Die Fertigstellung des ersten verkauften Exemplars in Finnland hat sich um fast ein Jahrzehnt verzögert und die des zweiten, im französischen Flamanville, unweit der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague, um mindestens 5 Jahre. Der Stückpreis kletterte in der Zwischenzeit von drei auf über 8 Milliarden Euro. Und nun wurden beim EPR im normannischen Flamanville, der eigentlich 2017 in Betrieb gehen sollte, Mitte April im Kern des Reaktors auch noch Fabrikationsmängel festgestellt: der bereits verschweisste Stahldeckel des Druckbehälters weist Schwachstellen auf, die unter Belastung zu Rissen führen könnten.
Sehr ernst
Die normalerweise sehr zurückhaltende französische Atomsicherheitsbehörde (ASN) sprach für ihre Verhältnisse aussergewöhnlich deutliche Worte.
„Der Druckbehälter", so ihr Direktor, "ist das Herz eines AKWs, dort findet die Kettenreaktion statt und er steht unter extrem hohem Druck. Es ist bei der Herstellung einer gewissen Anzahl von Komponenten dieses Druckbehälters zu Unregelmässigkeiten gekommen, die erst mit grosser Verspätung festgestellt wurden. Wir haben danach von AREVA, dem Hersteller, zusätzliche Tests verlangt. Die Testergebnisse haben wir dann Ende 2014 bekommen. Sie hätten belegen sollen, dass der Druckbehälter konform ist, haben aber das Gegenteil gezeigt: es gibt in der Tat Unregelmässigkeiten, die ich als ernst qualifizieren würde, ja sogar als sehr ernst.“
Sollte die Atomsicherheitsbehörde den bereits installierten, von Beton umgebenen Druckbehälter am Ende wirklich für nicht konform erklären, wäre die Katastrophe für AREVA perfekt – ihn durch einen neuen zu ersetzen würde rund 3 Jahre in Anspruch nehmen und nochmals hunderte Millionen kosten. Für Yannick Rousselet, den Atomexperten von Greenpeace Frankreich, ist klar: "Der EPR-Reaktor war im Grunde schon vor dieser Panne so gut wie erledigt. Sein Preis hat sich verdreifacht und es gab gigantische Verzögerungen bei der Lieferung, in Finnland sind es neun Jahre. Die Preise und die Probleme sind geradezu explodiert. Die Folgen können wir doch jetzt schon sehen: in den USA sollten 12 dieser Reaktoren gebaut werden – alles ist annulliert. Einen anderen in Südafrika hat man ebenfalls gecancelt. Noch vor wenigen Jahren hat uns AREVA versprochen, sie würden in der Welt zwei bis drei Reaktoren von diesem Typ pro Jahr fertigstellen. Die Realität heute ist: der EPR-Reaktor als industrielles Produkt ist tot. Das jüngste Problem jetzt ist nur noch der Gnadenstoss."
Druckventile
Anfang Juni wurde AREVA aber sogar noch mit einer zweiten Katastrophenmeldung konfrontiert. Diesmal musste die französische Strahlenschutzbehörde Presseberichte bestätigen, wonach die Sicherheitsventile des EPR-Reaktors in Flamanville bei mehreren Tests versagt haben bzw. unregelmässig funktionierten.
Angesichts dessen sind selbst alte Haudegen aus der französischen Atombranche heute mehr als skeptisch, was die Zukunft des EPR angeht. "Der EPR-Reaktor kostet Unsummen", sagt Michel Boiteux, in den 70-er Jahren Chef des Stromkonzerns EDF, "und es kommt zu enormen Verspätungen bei der Fertigstellung. Wenn das so weitergeht und quasi als Charakteristikum dieses Reaktortyps angesehen werden muss, können sich andere Energiesparten die Hände reiben."
Strategie - von wegen
Angesichts dieser Situation entsteht auch der Eindruck, dass Frankreichs Regierung derzeit über keine echte Zukunftsstrategie für seine Atomenergiebranche, ja bei seiner Energiepolitik insgesamt verfügt.
Staatspräsident Hollande wiederholt zwar gebetsmühlenhaft, das älteste AKW im elsässischen Fessenheim werde, wie versprochen, bis Ende 2016 geschlossen – glauben tut das heute kaum noch jemand. Und noch weniger kann man an Hollandes Versprechen glauben, den Atomstromanteil in Frankreich bis 2025 von 75 auf 50% zurückzufahren. Selten sagt das jemand offen, doch man spürt es: Regierung und Atomlobby setzen darauf, dass die Kraft des Faktischen am Ende stärker sein wird als die Versprechen eines Staatspräsidenten. Der trockene Kommentar der ehemaligen AREVA-Chefin, Anne Lauvergeon, zur Reduzierung des Atomstromanteils: "Das würde heissen, 20 Atomreaktoren still zu legen. Ich denke nicht, dass das realistsisch ist, weder politisch noch ökonomisch gesehen."
In zehn Jahren aber wird ein Drittel der französischen Atommeiler die Altersgrenze von 40 Jahren erreicht haben. Vom Bau neuer Reaktoren, der theoretisch bereits in Angriff genommen werden müsste, wird bislang nur sehr diskret und allgemein gesprochen. Gleichzeitig hinkt das Land auf Grund der seit Jahrzehnten praktizierten atomaren Monokultur in der Stromversorgung bei erneuerbaren Energien hoffnungslos hinterher. Staatliche Forschungsgelder für den Energiesektor flossen bislang zu 90% in den Atomenergiesektor. Somit ist die Wahrscheinlichkeit gross, das man am Ende die Laufzeiten der alten AKWs einfach von 40 auf 50 Jahre verlängern wird- und dann sieht man weiter.
Falsches Kalkül
Ein weiterer Grund für die schleppende Veränderung in Frankreichs Atomenergiepolitik ist die Tatsache, dass insgesamt rund 2 500 Betriebe mit weit über 200 000 Beschäftigte im ganzen Land an der Atomindustrie hängen. Mittelfristig wird Frankreich aber kaum darum herumkommen, sich die Frage zu stellen, ob diese Atomenergie wirklich noch eine auch wirtschaftlich tragfähige Zukunftstechnologie darstellt. Spätestens wenn man gezwungen sein wird, an dem künstlich niedriggehaltenem Strompreis zu rütteln und mit der Legende aufzuräumen, Atomstrom sei ganz besonders billig. Dem ist bislang nur so, weil hierzulande die Kosten für die Atommülllagerung zu gering angesetzt und die Kosten für die Abrüstung alter AKWs schlicht überhaupt nicht kalkuliert werden.
Ein niederschmetterndes Beispiel: das kleine AKW im bretonischen Brennilis hätte, als erstes überhaupt, innerhalb von 5 Jahren abgerüstet werden sollen, mittlerweile arbeitet man seit fast 2 Jahrzehnten daran. Ursprünglich waren die Kosten dafür auf 20 Millionen Euro angesetzt, de facto belaufen sie sich jetzt schon auf über 400 Millionen - und die Baustelle ist immer noch nicht beendet.