Russland hat 264 Menschen evakuiert, die im umkämpften und belagerten Stahlwerk von Mariupol ausharrten. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministers soll es sich um 53 schwerverletzte Kämpfer und um 211 weitere Personen handeln. Mit Bussen wurden sie in russisch kontrollierte Spitäler im ostukrainischen Donbass gebracht. Unklar ist, wie viele Menschen sich noch im Stahlwerk befinden.
Wird laufend aktualisiert
- Evakuierung in Mariupol
- Wie viel Menschen sind noch im Werk?
- «So Gott will wird alles gut»
- Russischer Oberst warnt Russland
- Putin greift ist taktische Planung ein
- Der fast einsame Herr Putin
- Putin schlägt gemässigte Töne an
- Massive russische Artillerie-Angriffe erwartet
- Grosses Nato-Manöver im Baltikum
- Türkisches Nein zu Schweden und Finnland
Die Evakuierung fand im Geheimen statt. Die Verwundeten wurden auf Bahren aus dem Werk herausgetragen. Organisiert wurde die Aktion offenbar vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz IKRK und von der Uno.
Die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maliar sagte, die Schwerverletzten seien in die von russischen Rebellen gehaltene Stadt Nowoasowsk gebracht worden.
Weitere 211 wurden über einen «humanitären Korridor» nach Oleniwka evakuiert. Das ostukrainische Oleniwka wird von pro-russischen Rebellen dominiert und liegt südwestlich von Donezk.
«Helden unserer Zeit»
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj hat die Kämpfer für ihre Standfestigkeit gelobt. Sie hätten dazu beigetragen, dass russische Truppen in Mariupol gebunden worden waren und nicht an anderen Orten eingesetzt werden konnten. «Die Ukraine braucht ukrainische Helden, die am Leben sind», sagte Selenskyj am Dienstagmorgen in einer Ansprache an die Nation.
Die ukrainische Militärführung erklärte, die Verteidiger des Asowstal-Werks hätten Russland gezwungen, rund 20’000 Soldaten in Mariupol zu halten. So seien die russischen Invasoren daran gehindert worden, andere Teile des Landes schnell einzunehmen.
Ein ukrainischer Militärsprecher bezeichnete die Verteidiger des Stahlwerks als «Helden unserer Zeit», die «für immer in die Geschichte eingehen».
Hunderte von Kämpfern hatten sich in den Tunneln unter der riesigen Industrieanlage verschanzt, um die letzte ukrainische Festung in der Stadt zu verteidigen.
Freilassung russischer Kriegsgefangener
Die Ukraine bestätigte am Dienstag, dass im Gegenzug zur Freilassung der ukrainischen Kämpfer russische Kriegsgefangene freigelassen würden. Um wie viele es sich handelt, wurde nicht bekannt. Am Wochenende verbreiteten ukrainische Medien Meldungen, wonach die Ukraine bereit sei, gegen die Freilassung der Asowstal-Kämpfer «hunderte russischer Kriegsgefangener» freizulassen. Die ukrainische Vize-Ministerpräsidentin hatte diese Angaben dementiert.
Die Evakuierung scheint darauf hinzuweisen, dass die Russen endgültig die Kontrolle über das Stahlwerk und damit über ganz Mariupol erreicht haben. Mariupol ist damit nach Cherson die zweite ukrainische Stadt, die vollständig in die Hände der russischen und pro-russischen Streitkräfte fiel.
In früheren Berichten hiess es, dass sich in dem belagerten Werk etwa 1500 Kämpfer und rund 100 Zivilisten befinden, die in den Bunkeranlagen Schutz gesucht haben.
Das Asowstal-Werk wurde seit Wochen fast pausenlos bombardiert. Am Sonntag sollen die russischen Kräfte auch Phosphor-Bomben eingesetzt haben.
«Die Hölle»
Die ukrainische Hafenstadt Mariupol wurde gleich zu Beginn des Krieges am 24. Februar von russischen und pro-russischen Streitkräften angegriffen, täglich bombardiert und schliesslich eingekesselt. Es fehlte zunehmend an sauberem Wasser, Medikamenten und Nahrungsmitteln. Nach Angaben von Hilfsorganisationen starben in der Stadt vermutlich bis zu 20’000 Menschen.
Helfer hatten erklärt, «wenn es die Hölle gibt, dann ist es Mariupol». Neunzig Prozent der Stadt sind zerstört oder schwer beschädigt. Die Stadt zählte zu Beginn des Krieges über 400’000 Einwohner. Zur Zeit sollen noch knapp 100’000 dort leben. Evakuierungen waren in den letzten Wochen immer wieder gescheitert, weil russische Kämpfer Helfer und Zivilisten beschossen. Auf Satellitenbildern sind mehrere Massengräber zu sehen. Die Russen haben offenbar versucht, Hunderte Getötete wegzuschaffen.
In die Schlagzeilen geriet Mariupol auch als die Russen eine Geburtsklinik und ein Theater bomardiert hatten. Dabei kamen offenbar über 300 Menschen ums Leben.
«So Gott will»
Die Ukraine arbeitet an den «nächsten Schritten» der Evakuierung von Kämpfern aus dem Asowstal-Stahlwerk in Mariupol, sagte die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Vereshchuk. Noch ist unklar, wie viele Kämpfer und Zivilsten sich noch in dem Werk befinden.
Am Montag seien 52 «unserer schwer verwundeten Soldaten» evakuiert worden, sagte Vereshchuk. «Nachdem sich ihr Zustand stabilisiert hat, werden wir sie gegen russische Kriegsgefangene austauschen.» Weitere Einzelheiten nannte sie nicht, schloss aber mit den Worten: «So Gott will, wird alles gut werden.»
Sorge um die Evakuierten
Unklar ist, was mit den am Montag Evakuierten passiert. Oksana, die Ehefrau eines Kämpfers, sagte laut einer BBC-Meldung, einige Familien hätten heute Morgen Nachrichten von den Kämpfern erhalten. Darin wurde ihnen mitgeteilt, dass die Lage angespannt sei und sie «für lange Zeit keine Verbindung haben würden».
Anna, deren Bruder in der Anlage war, sagte: «Es gibt viele Bedenken, wie sie behandelt werden und ob sie überleben können, bis ein Austausch stattfindet», sagte sie.
«Im Jahr 2014 wurden gefangen genommene Kämpfer erst nach mehreren Jahren ausgetauscht», sagte sie. Damals nach der Eroberung der Krim haben pro-russische Kämpfer in der Ostukraine mehrere ukrainische Soldaten gefangen genommen.
«Es ist sehr beunruhigend für mich und andere, dass sie nur in das von Russland kontrollierte Gebiet evakuiert wurden», sagte Oksana. «Das macht uns grosse Angst, denn es ist nicht klar, wo sie sein werden. Wir sind sehr, sehr besorgt über die Dinge, die ihnen zustossen können».
Symbolische Bedeutung
Mit der Evakuierung am Montag könnte eine der bisher blutigsten Episoden dieses Krieges zu Ende gehen.
Die ukrainischen Kämpfer, die das Stahlwerk seit über zwei Monaten verteidigten, hielten länger durch, als es die meisten Militäranalysten für möglich hielten. Auch die Russen erlitten bei ihrem Kampf um Mariupol schwere Verluste. Ukrainische Beamte sprechen von Hunderten, vielleicht Tausenden russischer Toten.
Die Einnahme des Stahlwerks hat vor allem symbolische Bedeutung. Russland ist es nun gelungen, eine Landverbindung vom besetzten ostukrainischen Donbass bis zur 2014 eroberten Halbinsel Krim zu schaffen.
«Stadt unter der Stadt»
Das «Asowstal»-Werk in Mariupol stammt aus sowjetischen Zeiten. Der riesige Industriekomplex verfügt über dicke Betonwände, Stahltüren, Bunkeranlagen und unterirdische Gänge. Er war so konzipiert, dass er einem Atomkrieg standhalten könnte. «Es ist im Grunde eine Stadt unter der Stadt», erklärte Yan Gagin, ein russischer Berater in der sezessionistischen «Volksrepublik» Donezk gegenüber der New York Times.
Das Industriegelände ist vier Quadratkilometer gross. Es verfügt über einen eigenen Hafen am Asowschen Meer. Jährlich produzierte das Werk etwa zehn Millionen Tonnen Stahl und war damit eines der grössten Stahlwerke Europas.
Appelle
Ehefrauen der eingeschlossenen Kämpfer hatten in den letzten Tagen immer wieder zur Rettung ihrer Männer aufgefordert. Sogar der chinesische Präsident wurde gebeten, sich einzuschalten. Am Montag appellierten in Istanbul Ehefrauen an den türkischen Präsidenten, sich für die Evakuierung ihrer Männer einzusetzen. Natalia Zarytska (im Bild), die Frau eines der Kämpfer, wurde flankiert von Müttern und der Sängerin Ruslana, die einst den Eurovision Song Contest gewonnen hatte.
Ungewöhnliche Worte im russischen TV
Während einer Diskussion in der Sendung «60 Minuten» im russischen Staatsfernsehen zeichnete Michail Chodarenok ein differenziertes Bild von der Lage in der Ukraine. Damit widersprach er indirekt der offiziellen Behauptung des alles «nach Plan» verläuft. Chodarenok ist Militäranalyst und Oberst im Ruhestand.
Er warnte davor, dass sich für Russland «die Situation eindeutig verschlechtern wird» wenn die Ukraine Militärhilfe aus dem Westen erhält. Die ukrainische Armee könnte «eine Million Menschen bewaffnen». Der Wunsch der ukrainischen Soldaten, das Vaterland zu verteidigen, sei «sehr stark vorhanden». «Der endgültige Sieg auf dem Schlachtfeld wird durch die hohe Moral der Truppen bestimmt, die ihr Blut für die Ideen vergiessen, für die sie bereit sind zu kämpfen.»
Putin greift selbst ein
Der russische Präsident soll im Krieg gegen die Ukraine vermehrt selbst taktische Entscheidungen treffen. Dies berichtet die BBC und beruft sich auf «westliche Quellen». Da die russische Offensive nicht wie gewünscht verlaufe, treffe nun Putin zusammen mit Generalstabschef Waleri Gersassimow Entscheide, die «normalerweise von jüngeren Offizieren» getroffen würden.
Die Quelle, die laut BBC anonym bleiben will, sagt: «Wir glauben, dass Putin und Gerassimow in taktische Entscheidungen auf einer Ebene involviert sind, die normalerweise von einem Oberst oder Brigadier getroffen werden.»
In letzter Zeit gab es auch Spekulationen, dass Gerassimow ins Abseits geraten sein könnte. Ebenso kamen Gerüchte auf, wonach er bei einem Besuch im Donbass verletzt worden sei.
Der fast einsame Herr Putin
Der russische Präsident empfing am Montag fünf seiner engsten Verbündeten in einem vergoldeten Saal des Kreml. Doch nur der belarussische Präsident Lukaschenko unterstützte ihn.
Dabei waren die Präsidenten der sechs postsowjetischen Staaten Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Belarus. Die Sieben trafen sich im Rahmen einer Feier des 30-jährigen Bestehens der «Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit» (CSTO), eine Art Pendant zur Nato.
In einer vom Fernsehen übertragenen Rede kritisierte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko die anderen Mitglieder, dass sie Russland im Kampf gegen die Ukraine nicht ausreichend unterstützten.
Er wies darauf hin, dass die CSTO im Januar Truppen nach Kasachstan entsandt hatte, um die Regierung des Landes angesichts der Proteste zu stützen. Im Krieg gegen die Ukraine würde Russland weitgehend allein gelassen.
Kasachstan hat erklärt, dass es Russland nicht dabei helfen werde, internationale Sanktionen zu umgehen. In einer Abstimmung der Vereinten Nationen am 2. März, in der der Einmarsch in die Ukraine verurteilt wurde, war Belarus das einzige postsowjetische Land, das sich auf die Seite Russlands stellte.
«Schauen Sie sich an, wie monolithisch die Europäische Union abstimmt und handelt», sagte Lukaschenko auf dem Gipfel am Montag, «Wenn wir getrennt sind, werden wir einfach zerquetscht und auseinandergerissen.»
Putin schlägt gemässigte Töne an
«Russland, das möchte ich ihnen mitteilen, liebe Kollegen, hat kein Problem mit diesen Staaten», sagte Putin während des Treffens mit den Staaten der Organisation für kollektive Sicherheit (CSTO). Die Nato-Erweiterung um Schweden und Finnland stelle «keine direkte Bedrohung für uns» dar.
«Aber die Ausweitung der militärischen Infrastruktur auf dieses Territorium wird sicherlich unsere Reaktion hervorrufen», fuhr er fort. «Wir werden prüfen, wie diese auf der Grundlage der entstehenden Bedrohungen aussehen wird.» Zuvor hatte er erneut erklärt, dass in der Ukraine «Neonazis» an der Macht seien.
«Massive Artillerie-Angriffe» erwartet
Russland könnte nach Angaben des britischen Verteidigungsministeriums in den kommenden Wochen «auf massive Artillerie-Angriffe setzen, um seinen Vormarsch im Donbass wieder in Schwung zu bringen». Im jüngsten Update des Ministeriums heisst es, in der nördlichen Region Tschernihiw seien etwa 3’500 Gebäude – hauptsächlich Wohnhäuser – von den Russen zerstört oder beschädigt worden.
Dies zeige, dass die Russen bereit seien, mit Artillerie bewohnte Gebiete wahllos zu bombardieren, weil sie «nur begrenzte Möglichkeiten haben, ihre Ziele zu erreichen» und weil sie keine Kampfflugzeuge jenseits der Front einsetzen wollen.
Türkisches Nein
Die Türkei wehrt sich noch immer gegen einen Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens. Staatspräsident Erdoğan scheint entschlossen zu sein, einen hohen Preis für seine Zustimmung zu fordern. Der amerikanische Aussenminister Antony Blinken wird am Mittwoch seinen türkischen Amtskollegen in Washington treffen. Schweden hat die Waffenverkäufe an die Türkei vor drei Jahren ausgesetzt, nachdem Ankara in Syrien militärisch interveniert hatte. Auch das entspannte Verhältnis, das Schweden zur PKK hat, irritiert die Türken.
Nato-Manöver «Igel»
In Estland begann eines der grössten Nato-Manöver im Baltikum. 15’000 Soldaten aus zehn Ländern nehmen daran teil, darunter auch aus den Beitrittskandidaten Schweden und Finnland. Die Manöver tragen den Namen «Hedgehog». Die Übungen sollen bis zum 3. Juni dauern und waren schon vor dem russischen Einfall in der Ukraine vereinbart worden. Mit der Übung soll ein russischer Angriff auf Estland simuliert werden.
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Journal 21