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Gerontokratie

Zum Teufel mit diesen Alten

5. Oktober 2025
Jürg Schoch
Jürg Schoch
Seniorenturnen
Senioren der Turngesellschaft Chiasso SFG (Societa Federale di Ginnastica) der Sektion Veteranen bei der körperlichen Ertüchtigung. Die Mitglieder haben ein Alter zwischen 80 und 94 Jahren. (Bild vom 28. März 2024, Keystone/Ti-Press, Alessandro Crinari)

Alt werden ist nichts für Weicheier. Der laute Chor aus Politikern, Politikberatern, Politikanalysten und Social-Media-Aktivisten erinnert die Seniorenriege täglich daran, welche Hypothek sie für das Land ist. Und sparen nicht mit Vorschlägen zur Reduktion dieser Hypothek. Der neueste: Wahlrechtsentzug.

Ach, diese Alten. Sie bleiben einfach sitzen in ihren grossen Wohnungen, obwohl die Jungen längst ausgezogen sind. Und wenn ihnen die zu grossen Wohnungen etwas eng werden, gehen sie auf Reisen, besteigen morgens die ohnehin schon prall gefüllten SBB-Wagons, machen sich in den Abflughallen von Kloten, Genf oder Mulhouse breit, sie flitzen, meist auf E-Bikes, über die Velowege, rauf und runter in unserer hügeligen Topografie. Sie bevölkern die Schwimmbäder, die Bergbahnen, die alpinen Wanderwege, kurzum: Die Senioren sind fit, beweglich und mit ihrem «train de vie» trotzen sie dem Bild, das die Gesellschaft vom Habitus des alten Menschen hat. 

Man gönnt das den Alten

Die junge Generation mag sich ärgern darüber, dass diese immer noch lebenslustigen Leute ihnen auf dem Portemonnaie sitzen, weil sie – aller manifestierten Fitness zum Trotz – halt doch mehr ärztliche Leistungen beanspruchen und dergestalt die Gesundheitskosten und die Krankenkassenprämien in die Höhe treiben. Weil sie so zahlreich sind und immer älter werden, was, neben anderem, auch die Disponibilität der grösseren Wohnungen beeinträchtigt. 

Politiker, Politikberater und Politikanalysten haben diese Konstellation schon tausendmal beschrieben. In jedem Beschrieb wird deklariert, wie man den Alten ihre Altersfreuden doch von Herzen gönne. Worauf dann die «Aber» folgen, will sagen: wie die Probleme, die die von Herzen gegönnten Freuden verursachen, allenfalls entschärft werden könnten. Zum Beispiel durch Altersmobilität, nicht nur in sportlich-touristischer Hinsicht, sondern auch punkto Züglete.

Kein Wahlrecht mehr im Alter?

In zwei Jahren werden Schweizerinnen und Schweizer ein neues Parlament wählen. Den Termin nimmt das Politologen-Duo Rahel Freiburghaus und Adrian Vatter zum Anlass, in einem grossen Interview (u. a. im Tages-Anzeiger und Bund) auf eine Reihe von Faktoren aufmerksam zu machen, die die Wahl beeinflussen könnten. Einer davon ist der Generationenkonflikt. Freiburghaus nennt Prognosen, laut denen Mitte der 2030er Jahre das Durchschnittsalter der Abstimmenden deutlich über 60 Jahren liegen werde. «Da verschiebt sich etwas Grundlegendes», erklärt Freiburghaus und fährt fort: «Um die Entwicklung zur 'Gerontokratie' zumindest zu verlangsamen, müssten wir früher im politischen Prozess ansetzen. Junge Stimmen stärker zu gewichten oder sogar das Wahlrecht ab einem gewissen Alter zu streichen, würde das Monopol der Älteren aufbrechen.»

Wer solche Sätze liest und zur Seniorenriege gehört, muss zuerst einmal leer schlucken. «One man, one vote» – dieses Prinzip ist gewissermassen die Herzkammer der Demokratie, es garantiert die Gleichheit der Stimmen und verhindert, dass Stimmen unterschiedlich gewichtet werden. Liest man die Bundesverfassung, entsteht jedenfalls der Eindruck, es sei um die politischen Rechte des Bürgers herum eine Festung gebaut, die durch nichts geschleift werden kann. Schon gar nicht durch eine Asymmetrie im Stimmverhalten, die, wie Freiburghaus meint, auch daher rührt, dass etliche Junge gar nicht zur Urne gingen, weil «sie die Sprache der Politikerinnen und Politiker als zu kompliziert empfinden». 

Exklusion, Inklusion – oder was?

Die Passivität der Stimmverweigerer zu kompensieren durch eine höhere Gewichtung der aktiven Jungen oder Stimmentzug der Alten, das ist eine Anregung, die, höflich gesagt, unausgegoren ist. Und erst noch in die Vergangenheit zurückweist, als Wahlkriterien galten, die heute kein Mensch mehr versteht: etwa das Zensuswahlrecht, bei dem nur Männer etwas zu sagen hatten, die Grundbesitz oder gewisse Finanzmittel vorweisen konnten; oder unser eidgenössisches Wahl- und Stimmrecht, das bis 1971 die Frauen ausschloss. 

Leer schlucken bei solchen Vorschlägen muss man aber auch, weil sie vom Politologen-Duo Freiburghaus/Vatter kommen. Die beiden äussern sich oft gemeinsam in den Medien, und sie tun es überlegt, fundiert, ja, man kann sagen, gewinnbringend. Vielleicht hätte Professor Vatter (60) der Assistenzprofessorin Freiburghaus (30) zuflüstern müssen, dass das Spiel mit Wahlkriterien gefährlich sein kann, jedenfalls leicht anfechtbar ist. 

Wie es überhaupt problematisch ist, wenn ein Staat sich anschickt, seine Bürger so zu modellieren und sortieren, dass Hemmnisse, die die Abwicklung der Staatsgeschäfte stören, minimiert werden. Das hat man, allerdings in andern Dimensionen, während des 20. Jahrhunderts erlebt, als die Sowjets ihre Bürger und Bürgerinnen penetrant darauf trimmten, kollektivtauglich zu werden, während in Grossdeutschland die Ideen des Herren- und Elitevolks propagiert wurden. 

Solche Elite-Ideen fanden auch in der Schweiz Anklang, etwa bei Eugen Bircher (1882–1956), Chirurg, Divisionär, BGB-Nationalrat, während des Kriegs Impulsgeber für die Ärztemissionen an der Ostfront und sehr empfänglich für die Sache der Deutschen. Für Bircher war die Idee, dass alle Menschen gleich sind, ein «naturwissenschaftlicher Unsinn», wobei er, wie sein Biograf Daniel Heller schreibt, auf die körperlich und geistig unterschiedlichen Anlagen verwies. Also, folgerte Bircher, sei auch der Einfluss im staatlichen Leben individuell abzustufen. Womit er eine Art «geistiges Klassen-Wahlrecht» meinte: Wer etwas auf der Platte hat, soll ein höher gewichtetes Stimm- und Wahlrecht haben als jemand, der bildungsmässig auf der Schattenseite steht. Birchers Konzepte blieben folgenlos. 

Vor wenigen Wochen gaben National- und Ständerat grünes Licht für die Inklusion: Die politischen Rechte sollen ausnahmslos allen Personen ab dem 18. Altersjahr zustehen, auch den geistig Behinderten. Da ist es irgendwie merkwürdig, wenn gleichzeitig die Idee in den Ring geworfen wird, den Alten das Wahlrecht zu entziehen.

(Der Autor ist 1941 geboren.)

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