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Wir Überbelichteten

19. Oktober 2025
Eduard Kaeser
Lichter
Die überbelichtete und weniger belichtete Welt aus der Satellitenperspektive.

Leben braucht Licht, ja, Licht ist Leben. Vitale Prozesse beziehen ihren Energieunterhalt grösstenteils vom natürlichen Licht der Sonne. Wir Menschen beziehen Licht auch von künstlichen Quellen, etwa von Öllampen, Kerzen, Neonröhren oder Leuchtdioden. Heute steht unser Leben zunehmend unter dem Diktat permanenter Abrufbarkeit, Dienstbarkeit, Vernetztheit: Always On! 

Im Englischen gebraucht man das Kürzel «24/7» für den Zustand der Dauerbereitschaft: 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Und dazu brauchen wir Licht, immer mehr Licht. 

Vom Gaslicht zur Leuchtdiode

Die Geschichte der Zivilisierung ist auch eine Geschichte der Beleuchtung. Sie geht aus von den Städten. Deren Beleuchtung hat eine buchstäblich aufklärende Aura. Die ersten Abhandlungen, welche die Existenz von Geistern und Hexen bestreiten, entstammen europäischen Metropolen in Holland und England, wo schon früh die Strassen in Licht getaucht wurden. Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmt das Gaslicht die urbane Atmosphäre. Ein Taschenführer New Yorks aus dem Jahre 1850 – «New York by Gaslight» – gibt Ratschläge, «wie man unter dem dicken Schleier der Nacht vordringen und die beängstigenden Geheimnisse der Dunkelheit in der Metropole freilegen kann».

Heute leben wir nicht mehr im Gaslicht, sondern im Licht der Leuchtdioden. Es gibt hier ein dem Moore’schen Gesetz über Transistoren analoges sogenanntes Haitz-Gesetz: Die Kosten von Leuchtdioden verringern sich pro Jahrzehnt um einen Quotienten 10, während die Beleuchtungsleistung (Luminosität) um den Faktor 20 steigt. Das «Gesetz» wird kontrovers debattiert, aber der Gesamteffekt lässt sich nicht leugnen: Mit der Verfügbarkeit von billigeren und effizienteren Lichtquellen steigen auch Verbrauch und Nachfrage. Es scheint sich zu bestätigen, was als Jevons-Paradox bekannt ist: Der technologische Fortschritt führt nicht dazu, dass wir Rohstoff und Energie effizienter nutzen. Wir brauchen mehr. Wir sind Energiejunkies. Wir wissen nicht, wann wir genug haben. Die Anthropologin Carol Worthman, die Feldstudien in Entwicklungsländern mit spärlicher Nachtbeleuchtung wie Neu Guinea und Vietnam durchgeführt hat, schreibt: «Wir haben keine eingebauten Mechanismen, um den Konsum herunterzuschrauben, sogar im besten Interesse unserer physischen Gesundheit.» 

Lichtverschmutzung

Bereits in den späten 1990er Jahren trug man sich mit dem Plan eines Systems von spiegelnden Satelliten, welche das Sonnenlicht auf die Erde reflektieren würden. Ursprünglich gedacht als elektrizitätssparende Beleuchtungsanlage für die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen in Gebieten mit langen Polarnächten, wuchs sich die Idee aus zu einem Projekt planetarischen Ausmasses, durch das der Globus buchstäblich in eine immerwährende Mittagshelle getaucht worden wäre. Es scheiterte an der Opposition von Umweltverbänden und aufgrund zu vieler Zufälligkeiten. Aber die Ambition dahinter – «Tageslicht die ganze Nacht» lautete die Devise – bleibt aktuell und beunruhigend. 

Unser Planet ist überbelichtet. Man spricht von der Lichtverschmutzung. Sie stört natürliche Zyklen. Der menschliche Organismus richtet sich nach Rhythmen, die sich durch die Erdrotation und die entsprechenden Lichtveränderungen ergeben: Hormonhaushalt, Regulation der Körpertemperatur, Blutdruck und andere vitale Funktionen. Viele Tierarten brauchen Nacht und Dämmerung, um aktiv zu werden. Und dadurch wird ihr Habitat durch künstliche Beleuchtung empfindlich beeinträchtigt. Meeresschildkröten können sich in überbeleuchteten Küstenzonen nicht mehr am Mond orientieren und verirren sich in Strandhäusern. Andere Arten passen sich an. Zum Beispiel entwickeln Wanderfalken in den Städten ein neues Jagdverhalten. Normalerweise stürzen sie sich von oben mit hoher Geschwindigkeit auf ihre Beute. Weil nachts diese Beute eher von unten beleuchtet wird, schiessen die Falken jetzt von unten hoch und stossen dem Opfer die Krallen in die Brust.  

Geistige Überbelichtung

Es verlockt, dieses ökologische Problem der Überbelichtung des Planeten noch aus einer anderen Perspektive zu betrachten: aus jener der geistigen Überbelichtung. Licht durchzieht als Kardinalmetapher die ganze westliche Philosophiegeschichte, von Genesis 1.2–5, über Platons Höhlengleichnis, Augustinus’ Gott als «lux intelligibilis», Descartes «lumen naturale» des Verstandes, das «siècle des lumières», bis zu den aktuellen neurobiologischen Bemühen, Licht in das Gehirn zu bringen, um das Bewusstsein zu erklären. Licht ist die Metapher des Verständnisses: Mir geht ein Licht auf; mir leuchtet etwas ein. 

Wo Dunkel ist, soll Licht werden – das ist die Devise der wissenschaftlichen Aufklärung. Im 18. Jahrhundert galt Newtons Physik als die grosse Lichtbringerin in die Geheimnisse der Natur.  Der Dichter Alexander Pope feierte sie in den berühmten Versen «Nature and Natures’ laws lay hid in night / God said, ‹Let Newton be!› and all was light». Aber ist unbeschränkte Helle, die totale Transparenz, wirklich das Ziel des Verstehens? 

«Lichtzwang»

Paul Celan betitelte einen seiner Gedichtbände mit «Lichtzwang». Und genau dies kennzeichnet die Moderne als Überbelichtung. Letztlich führt sie zum Transparenzzwang. Der Philosoph Jeremy Bentham entwarf im 19. Jahrhundert das «Panoptikum», ein architektonisches Überwachungsmodell für Gefängnisse, Fabriken, Spitäler und Schulen. Panoptikum: Alles sehen, sichtbar machen! Der lichtdurchflutete Raum eliminiert die dunklen Schlupfwinkel. Keiner kann sich mehr verbergen. Das erinnert an die gnadenlose Helligkeit der Social Media. Sie schaffen das Zwielicht ab, das Privatheit und Intimität brauchen. 

Dieser Durchleuchtungswillen entwickelt seine geheime Dialektik. Wir stehen in fortgeschritten technisierten Gesellschaften vor einem Paradox: Transparenz meint einerseits freien Zugang zu möglichst vielen Informationen; andereseits aber basieren die Technologien, welche die Informationen verwalten, auf den Black Boxes intransparenter Algorithmen. Mit immer potenterer Datenanalysiertechnologie aufgerüstet, neigt der Durchleutungswillen dazu, nicht nur die ohnehin auf tönernen Füssen stehenden Institutionen des demokratischen Staates, sondern generell die Freiheit des individuellen Bürgers zu unterhöhlen.

Wissenschaft hat ein Streichholz angezündet

Zweifellos hat der Erkenntnisfortschritt der modernen Wissenschaft viel Licht ins Dunkel von Ignoranz und Aberglauben gebracht. Aber mit dem Radius des Kreises wächst sein Umfang. Je grösser der von der Wissenschaft erleuchtete Lichtkreis, desto länger die Grenze zum Dunkel «draussen». Der britische Schriftsteller Herbert G. Wells hat das einmal in einem äusserst einprägsamen Bild beschrieben: 

«Die Wissenschaft ist ein Streichholz, das der Mensch eben erst angezündet hat. Er dachte, er sei in einem Raum – in Momenten der Andacht, in einem Tempel –, und dass sein Licht auf Wände mit Inschriften wundersamer Geheimnisse falle und auf Säulen, in die philosophische Systeme eingemeisselt seien, die ein harmonisches Ganzes ergeben. Es ist eine seltsame Erfahrung, nun, da das Licht aufgehört hat zu flackern und mit klarer Flamme brennt, wie es seine Hände erhellt und ein kleiner Teil seiner selbst und des Fleckens sichtbar wird, auf dem er steht, und um ihn her, statt all der Schönheit und des Trostes, die er glaubte, erwarten zu dürfen, noch immer – Dunkelheit.»

Man muss sich, im Gegensatz zu Wells, dieses Dunkel nicht «unschön» und «trostlos» vorstellen. Es ist das Geheimnis, die freundliche Nächtlichkeit der Welt, die notwendig das Licht umhüllt und ihm seine Kraft und Tiefe verleiht. Und unseren Erkenntnishunger, unsere Neugier nicht stillt. Nur das Dunkel stachelt das Denken an.

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