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Ägypten

Wie weiter nach dem Massaker?

16. August 2013
Arnold Hottinger
Die Aussichten für Ägypten sind düster. Der vergiftete Konflikt lässt kaum auf Entspannung hoffen, selbst wenn oberflächlich Ruhe einkehrte. Zudem droht eine ernste Wirtschaftskrise, die Hungerrevolten auslösen könnte.

Die blutige Auflösung der Massenlager von Anhängern der Muslimbrüder in Kairo stellt zweifellos einen tiefgreifenden Einschnitt in der Geschichte der ägyptischen Revolution dar. Wie die Dinge sich weiter entwickeln werden, ist ungewiss. Deutlich ist vorläufig nur: Das blutige Vorgehen der Sicherheitskräfte kann die tiefe Spaltung des Landes nicht überwinden. Es läuft vielmehr Gefahr sie zu verstärken und zu vergiften.

Nährboden für Propaganda

Die Ressentiments auf Seiten der Muslimbrüder sind verständlicherweise stark angewachsen, und die einseitige Propaganda der staatlichen Medien, die mobilisiert werden, um das Vorgehen der Armee zu verteidigen oder zu rechtfertigen, dürfte bewirken, dass auch auf Seiten der Feinde der Muslimbrüder Furcht und Ressentiments zunehmen.

Die Pro-Regime-Medien, die einzigen die noch zu Wort kommen, suchen die Brüder als gefährliche Verbrecher darzustellen, die Waffen gespeichert hätten und auf die Ordnungstruppen scharf schössen. Sie können dabei auf die 43 Todesopfer der Polizeitruppen verweisen. Die Gegner der Brüder sind geneigt, mindestens einen Teil der Propaganda-Anwürfe ernst zu nehmen. Sie werden daher die Brüder noch mehr als zuvor als «hinterhältige Terroristen» einstufen, gegen die sie sich «mit allen Mitteln» zur Wehr setzten müssten.

Die Kopten, deren Hauptmasse zu diesen Gegnern der Brüder zählt, haben allen Grund, die aufgebrachten Brüder zu fürchten. Gegen dreissig ihrer Kirchen sind bereits angegriffen worden. In der ägyptischen Provinz, wo Millionen von ihnen leben, sind sie den aufgebrachten islamischen Aktivisten beinahe schutzlos ausgesetzt, weil die Polizei ihre Hilferufe meist ignoriert.

Unterdrückte Auflehnung

Eine Periode von Strassenunruhen dürfte in ganz Ägypten bevorstehen. Wahrscheinlichsten werden Armee und Polizei ihrer nach relativ kurzer Zeit, in den nächsten paar Wochen, Herr werden. Es ist aber auch zu erwarten, dass jede Art von «Ruhe», die durch scharfe Munition erreicht wird, bloss oberflächlich sein wird. Die typische Weiterentwicklung des Zwistes wäre darauf eine Periode von Bombenanschlägen, denn es ist immer wieder der Fall, dass Bomben und Selbstmordbomben in Aktion treten, wenn radikalisierte Oppositionsgruppen mit Gewalt daran gehindert werden sich auf den Strassen zu manifestieren und wenn ihre politischen Aktivitäten abgewürgt werden.

Die Ägypter erinnern sich an die Jahre von 1982 bis 97, als nach dem Mordanschlag auf Sadat der Bombenkrieg im Niltal ausbrach und die gewalttätigen islamistischen Radikalen versuchten, den Staat durch Terror zu Fall zu bringen. Sie waren dabei letztlich erfolglos. Die Sicherheitskräfte siegten. Doch Ägypten wurde seither von Mubarak unter Notstandsverordnungen regiert, die die normalen Gesetze ausser Kraft setzten.

Notstand und politische Polizei

Diese Notstandsverordnungen wurden mit dem Sturz Mubaraks 2011 abgeschafft. Sie sind nun wieder eingeführt worden. Das Hauptinstrument, um sie durchzusetzen, war die gehasste und gefürchtete politische Polizei. Auch sie wurde mit der Revolution aufgelöst, und auch sie ist bereits wieder eingeführt worden. Es handelt sich um eine Sonderpolizei, die sich systematisch der Folter bediente.

Doch dass die Geschichte sich soweit wiederholen könnte, dass nun eine neue politische Eiszeit in Ägypten entstünde, wie sie unter Muabarak Jahrzehnte lang anhielt, ist nicht zu erwarten. Das Land hat sich verändert. In doppelter Hinsicht.

Die Wirtschaftskrise steht noch bevor

Wirtschaftlich ist es seither bergab gegangen, während die Zahl der Ägypter beständig anwuchs. Es gab Wachstum in den 90er Jahren, zwar in erster Linie für die Günstlinge des Regimes, doch immerhin Wachstum im Tourismus, im Erdöl- und Erdgas-Bereich, durch das Einfliessen von Kapital aus dem arabischen und westlichem Ausland. Heute steht die Wirtschaft in Rezession, und ein schwerwiegender Schritt drängt sich immer mehr auf: der notwendige Abbau der gewaltigen staatlichen Subventionen für Brot und Grundnahrungsmittel sowie die Energieversorgung.

Das Staatsbuget kann diese Gelder nur finanzieren, indem es bedeutende Zuschüsse aus dem Ausland erhält. Der vorletze Schub an Hilfsgeldern kam unter Mursi aus Qatar mit gegen 7 Mia. Dollar, der letzte wurde von dem neuen Regime in Saudiarabien, Kuwait und den Arabischen Emiraten erlangt. Er soll sich total auf etwa 11 Mia. Dollar belaufen. Dies könnte ungefähr für ein halbes Jahr genügen. Doch dann wird das Geld aufgebraucht sein, und Subventionen müssen gestrichen werden. Was nur bedeuten kann, dass viele Millionen von Ägyptern, die heute knapp überleben, sich nicht mehr werden ernähren können. Hungerrevolten wären zu gewärtigen.

Die Macht der Massenproteste

Die andere grosse Veränderung ist politischer Natur. Zum ersten Mal seit der kolonialen Zeit haben die Ägypter im Jahre 2011 erfahren, dass sie mit Massenprotesten Regimeänderungen herbeiführen können. Das funktionierte gegen Mubarak, und viele glauben, noch einmal gegen Mursi. Allerdings beide Male mit der Hilfe der Armee. Gegen den Willen der Armee haben die Muslimbrüder versucht, sich ebenfalls mit einer Massenbewegung durchzusetzen. Sie sagen zur Zeit, sie würden es weiter versuchen. Die Armee jedoch droht sich als die stärkere Kraft zu erweisen – zunächst jedenfalls.

Doch die Frage steht schon heute im Raum: Bleibt sie der Stärkere, wenn es wirklich zu Hungerrevolten kommt? In einer derartigen Situation ist zu erwarten, dass die grossen Massen, die sich zur Zeit gegen Mursi erheben, weil sie über die negative Wirtschaftsentwicklung empört waren und ihn dafür verantwortlich glaubten, erneut auf die Strasse ziehen. Diesmal jedoch im Protest gegen das herrschende Regime und in Enttäuschung über seine mangelnde wirtschaftliche Leistung. Sie werden auf die niedergehaltenen Muslimbrüder als Verbündete zählen können. Sogar wenn diese ihre straffe Organisation, die bisher ihre Stärke ausmachte, unter den Schlägen der Repression nicht werden aufrecht erhalten können, stünden sie und ihre Parteigänger zur Verstärkung der protestierenden Massen weiterhin zur Verfügung.

Es ist durchaus denkbar, dass bedeutende Teile der heutigen Anhänger der Bruderschaft diese unter dem Druck der bevorstehenden Verfolgung verlassen. Doch das Potential von riesigen Unterschichten die durch islamische Slogans und Aufrufe motivierbar sind, wird dadurch nicht abnehmen. Dies würde wohl in erster Linie zur Stärkung der Salafisten führen.

Radikaler als die heutigen Brüder

Ein Zug weg von der beabsichtigten Mässigung, die in den letzten Jahren die Politik der Brüder bestimmte, und hin zu radikaleren Absichten und Aktionen wird sich in den islamisch motivierten Massen abzeichnen. Radikalisierung ist so gut wie unvermeidlich, wenn die Repression um sich greift. Nicht mehr «Islamische Demokratie» wie bisher sondern vielmehr «Islamische Revolution» wird die Losung sein. Vielleicht werden die Leute der «Islamischen Revolution» den harten Kern abgeben, um den herum sich eine grosse Masse von aus wirtschaftlichen Gründen Unzufriedenen und Verzweifelten scharen könnte.

Wenn etwas derartiges sich zusammenballt, wird die Armee auf die Probe gestellt. Werden ihre Soldaten und unteren Offiziere gewillt sein, auf die protestierenden Massen zu schiessen, wenn sie nicht mehr – wie heute noch – auf die moralische Unterstützung von Millionen von Sympathisanten zählen können sondern den unzufriedenen Massen gewissermassen isoliert entgegengestellt werden?

Noch nicht am Ende

All dies bedeutet, dass jedenfalls die Feuerproben für die ägyptische Revolution noch nicht beendet sind. Es ist denkbar, ja wahrscheinlich, dass die gegenwärtige Krise nicht zu einer echten Entscheidung führt, sondern vielmehr zu einem Inkubationsprozess, in dessen Verlauf sich neues revolutionäres Potential aufbauen wird. Offen bleibt, ob dies alles dann schlussendlich zu einem politischen Spiel führen kann, das nicht mehr wie heute nach der – immer nur kurzfristig gültigen – Regel «Wer gewinnt, bekommt alles» funktioniert, sondern zu einem Zusammenschluss der heute bitter zerstrittenen Grossgruppierungen auf gemeinsame Ziele hin führen kann.

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