Direkt zum Inhalt
  • Politik
  • Kultur
  • Wirtschaft
  • Gesellschaft
  • Medien
  • Über uns
close
Buchbesprechung

Wie war das mit dem Islam und wie ist er heute?

17. Mai 2012
Arnold Hottinger
Das neue Buch von Alexander Flores: Zivilisation oder Barbarei, der Islam in seinem historischen Kontext ragt dadurch aus dem oftmals trüben Strom der zeitgenössischen Publikationen über den Islam heraus, dass es weder anklagt noch verteidigt. Es stellt überzeugend dar.

Der Verfasser verfügt über eine ausgeglichene und ruhige Sprache, der es immer wieder gelingt, treffende Formulierungen zu finden. Er besitzt auch einen vollständigen Überblick über die Vergangenheit der grossen islamischen Hochkultur und über ihre Probleme in den letzten 200 Jahren. Seine ausführliche Bibliographie belegt für Kenner seine tiefgreifende Sachkenntnis.

Sachkenntnis gegen Vorurteile

Flores ist daher in der Lage, mit den zahlreichen Vorurteilen und Fehlbeurteilungen aufzuräumen, die das Thema "Islam" heute in Europa belasten. In seiner Darstellung der Vergangenheit macht er von den neuesten Erkenntnissen der Geschichtsschreibung Gebrauch, die wir Thomas Bauer verdanken. (Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011).

Thomas Bauer hat den Begriff "Ambiguitätstoleranz" in die Geschichte des Islams eingeführt. Ambiguitätstoleranz im islamischen Bereich besteht dann, wenn unterschiedliche Sichtweisen und Verständnisse der Religion als Bereicherung empfunden werden, nicht als Infragestellung.

Europa beendet die islamische Vielfalt

Dies war der Fall im Islam bis vor rund 200 Jahren. Damals begann die europäische Übermacht, die Religion und die Lebensformen der Muslime in Frage zu stellen. Eine der Reaktionen darauf, die heute immer noch fortwächst, war der Verlust der alten "Gelassenheit" (Thomas Bauer) und bei manchen eine neue Sucht nach Eindeutigkeit, weil diese alleine Gewissheit zu gewähren schien.

Flores spricht vom "weiten Mantel des Islams", was den Titel eines seiner Kapitel abgibt. Diesen Mantel gibt es noch heute; doch mancherorts ist er der Zwangsjacke des Islamismus gewichen. Flores erklärt warum: "Der hier beschriebene (islamistische) Diskurs ist entstanden als Folge von Modernisierung und unter dem Eindruck vieler Muslime, dass sie bei dieser Modernisierung zu kurz gekommen, marginalisiert und unterdrückt worden sind. Er nimmt selektiv Elemente der islamischen Tradition auf."

Dschihad und andere aktuelle Problemfelder

Flores kennt und bespricht das "hässliche Gesicht des Islams" in einem seiner Kapitel. Dieses wird ergänzt durch ausführliche weitere Einblicke in "Problemfelder" wie Dschihad, das Verhältnis zur Demokratie, zu einem modernen Verständnis der Menschenrechte, zu den Rechten der Frauen und zu den Angehörigen anderer Religionen. In all diesen Fragen gibt es heftige Diskussionen unter den heutigen Muslimen. "Einen islamischen Determinismus gibt es in diesen Bereichen nicht."

Die Sicht aus dem Westen ist dadurch verzerrt, dass die "öffentliche Wahrnehmung dazu neigt, unerfreuliche Erscheinungen in den Vordergrund zu rücken. Ein Selbstmordattentäter oder Hassprediger ist nun einmal schlagzeilenträchtiger als der wohlintegrierte türkische Gemüsehändler von nebenan. Zweitens tendiert sie (die öffentliche Wahrnehmung) zur Verallgemeinerung. Die hässlichen Züge dominieren dann das Bild von den Muslimen."

Vielfältige Reaktionen auf die Herausforderung der Moderne

Flores erklärt die unterschiedlichen Erscheinungsformen des heutigen Islams vom Modernismus zum Islamismus und zum Salafismus, wobei stets der Zusammenstoss mit dem seit zwei Jahrhunderten übermächtigen "Westen" ein neues Bedürfnis nach festem Halt in der Eindeutigkeit an Stelle der früheren Polyvalenz hervorbringt. Flores erinnert daran, dass es auch heute noch Mystik gibt, den Gegenpol der islamistischen Ideologisierung des Islams.

Das Wesen der Scharia

Aus dem Buch kann man lernen, was die in Europa mythenumwobene Scharia in Wirklichkeit ist: nicht ein Gesetzeskodex für einen islamischen Staat sondern ein ideales, weil seiner Absicht nach göttliches, Recht, das sich in der Praxis immer nur teilweise durchsetzen konnte. Der Staat sprach sein eigenes Recht in allen Bereichen, die seine Herrschaft berührten. "Meinungsverschiedenheiten und Pluralität sind notwendige Bestandteile dieses Rechtes, 'das in hohem Masse durch Ambiguität charakterisiert ist' (Thomas Bauer). Mit dieser Ambiguität muss man leben können. Die vormodernen Muslime konnten das. Die Gelehrten bemühten sich, sie handhabbar zu machen, nicht sie aufzuheben."

"Für das islamische Individuum war das islamische Recht ein Mittel zur Orientierung bei dem Versuch, ein gottgefälliges Leben zu führen. Dazu musste es grundsätzlich in seiner dominanten Position anerkannt, aber nicht notwendig in all seinen Teilen (die den meisten Gläubigen ohnehin nicht im Detail bekannt waren) beachtet werden."

Moderne und islamische Theologie

Die Salafisten und die Islamisten, die heute die Wahlen gewinnen, sobald ehrliche Wahlen zustande kommen, gehören in den Zusammenhang des Kapitels von "Europa als Stachel und als Herausforderung", denn sie sind eine Form der islamischen Reaktion auf diese Herausforderung. Die Antwort auf sie nahm auch andere Formen an, namentlich den "Reformismus" des grossen "modernistischen" Theologen Muhammed Abduh, der ausführlich zur Darstellung kommt. Die Gegensätze in den unterschiedlichen Islamverständnissen könnten nicht grösser sein. Einen einzigen und verbindlichen Islam gibt es nicht. Obwohl natürlich heute viele Einzelgruppen und zahlreiche einzelne "Stichwortgeber" der Meinung sind, sie sprächen für den einzig wahren Islam.

Von der grossen Vergangenheit zur bedrückenden Gegenwart

Das Buch hat einen systematischen Aufbau, es beginnt mit der Darstellung des Korans und der grossen islamischen Zeit sowie der vermeintlichen Idee eines islamischen Staates. Vermeintlich, weil es diesen Staat nach Muhammed nie wirklich gab. Denn der Staat liess sich keine religiösen Vorschriften machen. Er handelte autonom nach eigenem Ermessen. Er verzichtete allerdings nicht darauf, religiöse Legitimation anzustreben.

Die Darstellungen von Vergangenheit und Gegenwart des Islams gehen darauf aus, die gängigen Fehlinterpretationen und Missverständnisse zu klären und auch immer wieder die Gründe aufzuzeigen, auf welche diese Fehlinterpretationen zurückgehen. Viele von ihnen sind durch die materiellen Interessen der westlichen "Interpreten" zustande gekommen.

Defensiverscheinungen

Flores macht deutlich, dass die Problematik des heutigen Islams in der Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Westen wurzelt, weil diese die Lebensumstände der Muslime radikal veränderte und sie in eine intellektuelle Defensive zwang, die auch ihr Verständnis ihrer eigenen Religion veränderte. Die Pluralitätsfreudigkeit wich der Sucht nach Eindeutigkeit. Diese Sucht entstand durch die Notwendigkeit, der fremden Übermacht standzuhalten. Die Annahme, dass die heutige Enge des "islamistischen Diskurses" durch den Islam begründet sei, ist schlicht falsch. Sie entstand neuerdings und sie blüht heute als Reaktion auf den Zwang, in einer Umwelt zu leben, die unter dem Druck von aussen aufgezwungenen Unrechtes steht.

Dies steht im Kapitel über das "hässliche Gesicht des Islams", das Flores genau kennt und ausführlich beschreibt, allerdings indem er auch unterstreicht, dass es unter den Muslimen selbst wohl artikulierten Widerspruch gegen diese hässlichen Aspekte gibt - Widerspruch wohlgemerkt, von Muslimen, die auf ihren Islam keineswegs zu verzichten geneigt sind.

Keine islamische Determinante

Der Darstellung der hässlichen Phänomene folgt ein weiter Teil, der sich mit den "Problemfeldern" in den heutigen muslimischen Gesellschaften befasst. Dazu gehören prominent der Dschihad, das Verhältnis der Muslime zur Demokratie, zu einem modernen Verständnis der Menschenrechte, zu den Rechten der Frauen und zu den Angehörigen anderer Religionen. Auch in all diesen Bereichen "gibt es keine islamische Determinante". Sie gehören zu den gesellschaftlichen Problemen, die ihrerseits weitgehend durch die - neu gegebenen - Umstände bestimmt sind, unter denen die muslimischen Gesellschaften leben.

Flores weist auch darauf hin, dass zu diesen Umständen, der "enorme Schaden" gehört, den die Gründung des Staates Israel der einheimischen Bevölkerung Palästinas antat und den Israel durch seine Expansionspolitik in die Besetzten Gebiete gegenwärtig noch weiter ausdehnt.

Folgt Barbarei der Zivilisation?

Den Abschluss des Buches bildet eine brilliante Zusammenfassung seiner Darlegungen auf bloss acht Seiten, die "Zivilisation oder Barbarei?" überschrieben ist. Man möchte sie alle zitieren. Ob Barbarei oder Zivilisation schlussendlich gefördert werden, hängt primär von den Muslimen selbst ab, jedoch wesentlich auch von den Umständen, unter denen sie heute zu leben gezwungen sind. Diese Zusammenfassung sollten alle jene lesen - und womöglich verstehen -, die über den Islam mitreden wollen.


*Verlag der Weltreligionen, Berlin 2011

Letzte Artikel

Der Papst und der Patriarch von Istanbul in Nizäa – Nur der Kaiser fehlte

Erwin Koller 4. Dezember 2025

EU berechenbarer als USA

Martin Gollmer 4. Dezember 2025

Dröhnendes Schweigen um Venezuela

Erich Gysling 1. Dezember 2025

Spiegel der Gesellschaft im Wandel

Werner Seitz 1. Dezember 2025

Bücher zu Weihnachten

1. Dezember 2025

Nichts Dringlicheres als die Rente?

Stephan Wehowsky 1. Dezember 2025

Newsletter abonnieren

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Abonnieren Sie den kostenlosen Newsletter!

Zurück zur Startseite
Journal 21 Logo

Journal 21
Journalistischer Mehrwert

  • Kontakt
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Newsletter
To top

© Journal21, 2021. Alle Rechte vorbehalten. Erstellt mit PRIMER - powered by Drupal.