Seit über achtzig Jahren spricht «Der Kleine Prinz» zu Menschen aller Generationen. Nun tritt er in einer Schwyzer Mundartfassung auf. Die Übersetzung zeigt, wie sehr Sprache Heimat schaffen kann – selbst in einer Geschichte, die längst allen gehört.
Wenn «Der Kleine Prinz» im Schwyzer Dialekt daherkommt, öffnet sich die Geschichte wie ein Fenster in vertrauter Sprache. Plötzlich steht der ferne Sternengast mitten im Bücherraum – nah, ungeschützt, berührbar. Das zeigte sich vor Kurzem bei der Vernissage in der Schwyzer Kantonsbibliothek (1). Die neue Mundartversion von Saint-Exupérys Klassiker lässt Figuren und Szenen unmittelbarer wirken und zeigt, wie Sprache Heimat schafft, selbst in einer Erzählung, die vielen vertraut ist.
Ein Märchen – und ein Widerspruch
Die Schwyzer Dialektausgabe «De chlii Prinz» geht auf die Initiative der Goldauer Verlegerin Martha Keller zurück. Die Vernissage zur Schwyzer Mundart-Übersetzung war mehr als die Präsentation eines Buches. Sie machte hör- und spürbar, weshalb Antoine de Saint-Exupérys Erzählung auch Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen nichts von ihrer Kraft verloren hat – und warum sie im Dialekt eine besondere Nähe gewinnt.
Was auf den ersten Blick wie ein sanftes Märchen wirkt, entpuppte sich – wie der Sprachwissenschaftler Daniel Annen in seinem Geleitwort darlegt – als leise widerständiger Text. «Der kleine Prinz» erzähle nicht nur für Kinder, sondern halte der Erwachsenenwelt einen Spiegel vor, in dem Zahlen, Funktionen und Rollen ihre vermeintliche Selbstverständlichkeit verlieren. Gerade in seiner Zartheit liege eine stille, aber nachhaltige Kritik an einer Welt, die sich allzu gern über Effizienz, Kontrolle und Nutzen definiert.
Nähe durch Dialekt
Die Schwyzer Mundart übersetzt diesen Ton nicht nur sprachlich, sondern atmosphärisch. «De Chlii Prinz» tritt nicht belehrend auf, sondern fragend, aufmerksam, unbeirrt vom modernen Zweckdenken. Dialekt schafft Nähe – nicht durch Vereinfachung, sondern indem vertraute Klänge auf ungewohnte Fragen treffen. So gewinnt die Erzählung an Unmittelbarkeit und behält zugleich ihre poetische Tiefe. Das zeigten die Mundartpassagen, vorgetragen vom Schwyzer Schauspieler Claude Keller.
Wüste, Schlange und Leerstelle
Schon die Eröffnung des Märchens sprengt, wie Annen hervorhebt, den Rahmen eines harmlosen Kinderbuchs: die Widmung an einen Erwachsenen, der zugleich in seine Kindheit versetzt wird, dann das irritierende Bild einer gefährlich zubeissenden Schlange und der Absturz des erzählenden Flugzeugpiloten in einer verlassenen Wüstengegend. Diese Motive wirken wie eine Ouvertüre. Sie verweisen auf Einsamkeit, Gefährdung und Orientierungslosigkeit – auf Situationen, in denen technische Sicherheit versagt und existentielle Fragen aufbrechen.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt Annen der Figur der Schlange, die nicht eindimensional als Bedrohung gelesen werden dürfe. Sie stehe vielmehr für Ambivalenz: für Gefahr und Übergang zugleich, für Ende und Verwandlung. Dass der kleine Prinz ihr ohne Furcht begegnet, verweist auf ein Vertrauen, das sich dem rein funktionalen Denken entzieht.
Die Wüste erscheint in diesem Zusammenhang als bewusste Leerstelle: ein Ort ohne Nutzen und ohne Plan – und gerade deshalb ein Möglichkeitsraum für Begegnung, Zuhören und Erkenntnis.
Die Welt der grossen Leute
Auf seiner Reise von Planet zu Planet trifft der kleine Prinz auf Figuren, die als überzeichnete Typen erscheinen, zugleich aber erstaunlich gegenwärtig wirken: König, Eitler, Säufer, Geschäftsmann, Laternenanzünder, Geograf. In ihnen, so Annen sinngemäss, zeigen sich Lebensformen, die sich absolut gesetzt haben. Macht, Besitz, Pflichterfüllung und abstraktes Wissen werden zu Selbstzwecken – und führen nicht zu Freiheit, sondern zu Vereinzelung.
Das Herz als Mass
Demgegenüber stehen Beziehungen, die keinem Zweck dienen: die Freundschaft mit dem Piloten, die Begegnung mit dem Fuchs und vor allem die Bindung an die Rose. Sie wird nicht wichtig, weil sie schon zum vornherein einzigartig wäre, sondern weil Zeit, Aufmerksamkeit und Verantwortung in sie investiert wurden. Der berühmte Satz vom Sehen mit dem Herzen erhält so eine existentielle Bedeutung: Gemeint ist keine Sentimentalität, sondern eine ganzheitliche Wahrnehmung, die in menschlichen Beziehungen Vorrang vor Besitz und Verwertung hat.
Ein offenes Ende
Der Abschied des kleinen Prinzen bleibt offen. Er hinterlässt einen leeren Ort in der Wüste und einen Stern am Himmel. Diese Leerstelle ist, wie Annen betont, kein Mangel, sondern Teil des Erzählgehalts. Was wirklich zählt, entzieht sich der vollständigen Verfügbarkeit. Zurück bleibt nicht Gewissheit, sondern Vertrauen – und das leise Lachen, das die Welt verändert, ohne sie festzulegen.
Die Schwyzer Mundart-Wiedergabe verstärkt diese Haltung. Sie holt den Text aus der Distanz des Klassikers ins Vertraute, ohne ihn über Gebühr zu vereindeutigen. «De chlii Prinz» bleibt leise, offen und widerständig – und begleitet die Lesenden mit der Ahnung, dass die Welt grösser ist als das, was sich zählen, planen oder sichern lässt.
Ein leiser Nachhall
Vielleicht liegt gerade darin die besondere Stärke dieser Dialektversion: Sie macht hörbar, dass «De chlii Prinz» keine fertigen Antworten liefert. Er will nicht belehren; er bleibt ein fragender Begleiter. Wie Daniel Annen treffend schreibt: «Bei aller Sanftheit und Milde […] fährt [die Geschichte vom *Kleinen Prinzen] kritisch drein in scheinbare Sicherheiten unseres Alltags.» Die Worte laden ein, innezuhalten, hinzuhören und mit dem Herzen zu sehen – hier und jetzt, nicht in einer fernen Welt.
In der Mundart klingt das Fragen weniger literarisch, dafür unmittelbarer, dringlicher. Ein leiser Nachhall bleibt zurück, der sanft nachklingt, im Herzen weiterfragt und uns leise erinnert: Die wahren Antworten erwachsen erst, wenn wir selbst den Mut haben, weiterzufragen.
(1) Antoine de Saint-Exupéry: De chlii Prinz. Mit Illustrationen des Autors. In Schwyzer Mundart. Goldau: CANTINA Verlag, 2026. Gleichzeitig ist vom Übersetzer ein kluger Kommentar erschienen: Daniel Annen: De chlii Prinz. Gedanken zum «Kleinen Prinzen». Goldau: CANTINA Verlag, 2026. 31 S.