Die Muster gleichen sich: Neue Schulleitungen kommen und mit ihnen neue Konzepte. Angekündigt sind grosse Reformen. Das Bisherige interessiert wenig; eine klare Analyse der Situation vor Ort fehlt meist, ebenso eine fundierte empirische Datenbasis. Schulpräsidien und Aufsichtskommissionen lassen sich nicht selten von schönen Innovations-Worten und Changemanagement-Vokabeln blenden und ziehen mit. So geschehen in der Thurgauer Schulgemeinde Wigoltingen, so passiert an manch andern Orten der Schweiz. „Verwerfungen an Schulen häufen sich auffällig – von der Volksschule bis zur Hochschule. Mittendrin finden sich jeweils die Schulleitungen und Rektorate“, schrieb die NZZ vor kurzem. (1)
Pädagogisch-didaktische Einseitigkeiten
Auch wenn die aktuellen Konflikte unterschiedliche Hintergründe haben, scheint den verschiedenen Geschehenskomplexen eines gemeinsam: Im subtilen Gleichgewicht schulischen Lehrens und Lernens wurden Einseitigkeiten favorisiert und „durchgeboxt“. Das dynamische Dreieck zwischen Strategie (Was wollen wir gemeinsam erreichen?), Kultur (Wer sind wir als Schulteam?) und Struktur (Wie machen wir’s als Lehrerkollegium?) geriet so aus der Balance.
Es kam zu Konflikten mit unüberbrückbaren Fronten. Gesiegt hat in allen aktuellen Fällen das System mit dem Rektorat und den Aufsichtskommissionen. Die Schulleitung behielt ihr Amt, Lehrpersonen gingen; zurück blieben Scherben. Leidtragende sind Kinder und Jugendliche. Ihretwegen aber wagten verschiedene Lehrpersonen den Widerstand.
Vermischung von strategischer und operativer Ebene
Nationales Echo löste der Fall an der Sekundarschule im thurgauischen Wigoltingen aus. Zwei neue Leiter übernahmen auf Anfang des Unterrichtsjahres 2018/19 das Regiepult der Volksschulgemeinde. Beide kamen aus privatwirtschaftlich geführten Schulen. Ihre erste Handlung: Was existierte und funktionierte, wurde sofort als reformbedürftig problematisiert. Das schuf vordergründigen Reformbedarf und einen Innovationsdruck.
Mit an Bord waren die Schulbehörden und ihre Präsidentin Nathalie Wasserfallen. Die strategischen Vorgesetzten verbündeten sich mit den beiden operativ Verantwortlichen. Das erwies sich als problematisch. Eine spätere Distanz war kaum mehr möglich. Dazu zeigte sich eine völlige Indifferenz der politischen Ebene gegenüber widersprüchlichen, weil undurchdachten Zielsetzungen des Reformierens.
Reformdiktat von oben
Sehr schnell wurde von oben her umgebaut und der Primarschulunterricht auf 2019/20 von bisherigen Jahrgangsklassen auf altersdurchmischtes Lernen AdL umgestellt – mit geplantem Weiterzug auf die Sekundarstufe. Der Arbeitsaufwand für Lehrpersonen ist gross, der Wirkwert auf Schülerseite dagegen gering, sozial wie kognitiv. Das zeigt die Forschung. Skeptischen Stimmen wurde der Weggang nahegelegt. „Wir haben eine Richtung und dann schauen wir, wer mitmachen will“, so die Schulleitung. (2) Die Lehrer seien nur ausführende Kraft; geführt werde die Schule wie ein KMU-Unternehmen – mit Weisungen von oben. (3)
„Bringe mir nichts bei!“
Letztlich ist es ein Methodenstreit um das autonome Arbeiten, der zum Zerwürfnis geführt hat. Die neue Schulleitung verlangte eine absolute Dominanz des selbstorganisierten Lernens SOL mit der Lehrperson als Lerncoach. Ein solcher Unterricht kündigt das pädagogische Grundverhältnis zwischen Lehrer und Schüler auf und macht Kinder zu isolierten Lernplanbewältigern. Diese Methode wird u. a. vom Ostschweizer Schulentwickler Peter Fratton mit seinem Credo „Lehrer, bringe mir nichts bei! Erkläre mir nicht!“ gepredigt. Ein krudes Verbot, letztlich ein Lehrverbot! Der neue Wigoltinger Schulleiter Mirko Spada verfolgt diese Spur konsequent, obwohl sie einem wissenschaftlichen Diskurs kaum standhalten dürfte.
Diesem unbedingten methodischen Imperativ widersprach auch die Professionsempirie langjähriger Pädagogen. Sie wiesen darauf hin, dass Lehrer eben mehr als nur Lernbegleiter wären und dass gutes Lernen ein pädagogisch-didaktisches Beziehungsgeschehen zwischen Menschen sei. Solche Lehrerinnen und Lehrer wissen, dass erfolgreicher Unterricht ein hohes Mass an themen- und sachbezogener Schüleraktivität mit einem hohen Mass an schülerorientierter Lehrersteuerung verbindet. Schule ist kein Entweder-Oder; guter und lernwirksamer Unterricht ist ein Sowohl-als-Auch.
Kampf zwischen Rektorat und Prorektorat
Auch das zweite Beispiel führt in den Kanton Thurgau. An der Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen kam es zum Konflikt zwischen der Hochschul-Rektorin Priska Sieber als Repräsentantin des Systems und ihrem Prorektor Matthias Begemann. Ein klassischer Kampf zwischen Ordnung und Freiheit, zwischen der Präferenz für Regelungen bzw. Controlling auf Seiten der Rektorin und dem Wunsch nach Freiraum für neue Ideen und pädagogisches Wirken von Seiten des Prorektors. Die Rektorin setzte auf Verordnung, der Prorektor auf Freiheiten.
Klar ist, wer gewinnen musste: Wenn Individuum und System in Konflikt geraten und aufeinanderprallen, siegt im Regelfall das System. Und die Aufsichtskommissionen stehen meist auf der Seite des Systems. Sollte es einmal anders sein, nennt man diese Individuen „Helden“ oder, im tragischen Fall, „Märtyrer“. Prorektor Martin Begemann musste gehen.
Zwei Kräfte kann man nicht gleichzeitig maximieren
Für alle diese Fälle gilt: Niemand kann zwei Kräfte – im Fall Kreuzlingen ist es Freiheit auf der einen und Controlling auf der anderen Seite – gleichzeitig maximieren. Das geht nicht. Wer einen Strang wie jenen der Vorschriften maximiert, reduziert und minimiert den andern Vektor, jenen der Freiheit. Die Balance geht verloren. Schulisch positives Wirken resultiert stets aus der Dynamik eines Sowohl-als-Auch. Es ist die Resultante aus beiden Kräften zugleich.
Einseitigkeiten sind verheerend
„Bildungspolitiker ignorieren die Erkenntnisse der Wissenschaft“, schrieb DIE ZEIT vor kurzem. (4) Das gilt auch für die politische Ebene der Aufsichtskommissionen. Wie anders ist es zu erklären, dass so viele Schulbehörden schönen Schalmeien aufsitzen und Schulleitungen stützen, die ihre gewagten Theorien und inkonsistenten Konzepte gegen langjährige operative Praxiserfahrung durchdrücken? Die Schule Wigoltingen mit dem Narrativ des „autonomen Lernens“ ist kein Einzelfall. Leidtragende sind die Kinder. Sie aber haben ein Recht auf einen lernwirksamen Unterricht. Hier wird Widerstand zur moralischen Pflicht.
(1) Jörg Krummenacher: An den Schulen lebt der Filz, in: NZZ 23.06.2019, S. 14
(2) Sabrina Bächi: Mehr Niveau für die Schüler, in: St. Galler Tagblatt 04.01.2019, S. 29
(3) Dies.:Wigoltinger Lehrer fordern Schulleiter zur Kündigung auf, in: St. Galler Tagblatt, 05.04.2019
(4) Nina Kolleck: Das grosse Desinteresse, in: DIE ZEIT, 27.09.2018, S. 67