Erst wurden Lesen und Schreiben modernisiert, jetzt ist der Aufschrei gross: Pädagogische Hochschulen beklagen den Leistungsabfall, den die Reformideen mitbewirkt haben. Ein Masterplans soll’s richten. Doch die Volksschule muss sich auf das besinnen, was Lernen wirklich trägt: Verstehen, Üben und Können.
Die Schweizer Volksschule hat eine intensive Reformkaskade hinter sich. Die vielen Innovationen mitgetragen und sie zum Teil selber initiiert haben die Pädagogischen Hochschulen: Aus Lehrerinnen und Lehrern wurden Coachs und Lernbegleiterinnen, aus Bildung messbare Tests, aus Wissen, Können und Haltung Kompetenzen. Aus Unterricht wurde autonomes Lernen im «Flipped Classroom» und das Lernen vom Lehren entkoppelt: Das Alphabet erwarben sich die Schüler nun vielfach selber – in Lernateliers.
Schreiben gelernt wurde nach Gehör, und das «Lesen durch Schreiben» mit Hilfe von Jürgen Reichens bebilderter Anlauttabelle erarbeitet. Selbstorientiert, wie es heisst. Dabei war Korrigieren durch die Lehrperson nicht selten untersagt. «Vom Lehren zum [eigengesteuerten] Lernen» hiess die Devise.
«Nicht besorgniserregend» – so der Befund eines PH-Rektors
Immer wieder haben erfahrene Lehrpersonen vor diesen Innovationen und ihren hehren Versprechen gewarnt. Vergebens. Sie wurde in die ewiggestrige Ecke versetzt. Dabei wissen wir seit Jahren, dass beispielsweise das verstehende Lesen dramatisch abnimmt, ebenso das korrekte und kohärente Schreiben. Die Lernforscherin der ETH Zürich, Elsbeth Stern, hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen. Gar von einem gravierenden Systemversagen sprach der Bildungsökonom Stefan C. Wolter.
Hingehört hat kaum jemand. Es kümmerte die Verantwortlichen in den Stäben und an den Pädagogischen Hochschulen wenig. Sie zuckten höchstens die Achseln, und die Karawane zog ungerührt weiter. Eigentlich hätten längst alle Warnlampen leuchten sollen! Doch der Rektor der PH Bern fand diese Tatsche noch vor Kurzem «nicht besorgniserregend».
Und wieder soll’s ein Masterplan richten
Nun beklagen die Pädagogischen Hochschulen plötzlich, was sie selber mit verursacht haben: die abnehmende Lesefähigkeit unserer Schülerinnen und Schüler. «Wir laufen sehenden Auges in ein schweres Problem hinein», heisst es plötzlich.[1] Wer den Kassandraruf aus der Pädagogischen Hochschule Zürich hört, traut den eigenen Ohren nicht.
Im Interview der Sonntag-Zeitung warnt der Deutschdidaktiker Maik Philipp – welches Erstaunen! – vor der sinkenden Lesekompetenz von Jugendlichen in der Schweiz: Fast die Hälfte der 15-Jährigen erreiche nur rudimentäre oder ungenügende Fähigkeiten. Das habe gravierende Folgen für Bildung, Beruf und gesellschaftliche Teilhabe, wie wenn das nicht schon längst bekannt wäre. Der Bildungswissenschaftler Philipp fordert, dass die Gesellschaft das Problem ernster nehme und mit einem langfristigen Masterplan frühzeitig und systematisch gegensteuere – auch angesichts neuer Herausforderungen wie Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz KI.
Wenn das Üben zum Fremdwort verkommt
«Ein schweres Problem!», verkündet Maik Philipp. Recht hat er, wahrlich! Nur: Wer hat uns denn dorthin geführt? Wer hat den behutsamen und systematischen Aufbau des Lesens – vielleicht sogar Buchstabe für Buchstabe, Satz für Satz – zur lästigen Aufgabe degradiert, die man angeblich im Vorübergehen mit YouTube, Notebook und Lernapp erwirbt? Und sogar selbstgesteuert! Wer hat das Festigen und Automatisieren der elementaren Kulturtechnik des Lesens wie des Schreibens als schnödes Üben abgetan und stattdessen «ganzheitliche Literacy-Events» im «mehrsprachigen Projektsetting» gefordert?
All die unzähligen Reformen im Leseunterricht hätten doch längst zu besseren Resultaten führen und die Kinder «LESESTARK» machen müssen, wie es ein Buchtitel verkündet. Doch das Gegenteil ist eingetreten! Seit 2012 sinken die Lernleistungen im Lesen dramatisch.
Eine Volksschule, die nicht in der Definitionsmacht der PHs liegt.
Wer aber trägt die Verantwortung?, fragt sich der Beobachter. Auch das wissen wir seit Langem: Ein kleiner universitär-akademischer Zirkel aus den Pädagogischen Hochschulen – im Verbund mit einer starken Bildungsbürokratie – hat die Definitionsmacht über die Schulen übernommen. Sie bestimmen, was gelehrt und vor allem wie unterrichtet werden muss – oft auch gegen die Praktiker. Das bedeutete eine Marginalisierung der Praxisempirie.
Darum wirkt Maik Philipps Philippika reichlich unbedarft. Kaum ein Wort zur pädagogischen Dramaturgie der vergangenen Jahre, in denen die grundlegenden Mikroprozesse des Lernens, des bildungswirksamen Lernens, klein geschrieben waren. Gross gedacht wurde dafür im organisatorischen Makrobereich.
«Meine Kinder haben in der Schule kaum gelesen»
Man erinnere sich: Dieselben Pädagogischen Hochschulen, die heute die Krise beklagen, haben uns jahrelang erklärt, dass Lesen-Üben und intensives Schreibtraining nicht mehr zeitgemäss seien. Texte geschrieben wurde darum nur noch selten, ebenso wenig gelesen. Dazu der Schriftsteller Lukas Bärfuss: «Meine Kinder haben in der Schule kaum gelesen.»[2]Stattdessen erfand man «integratives Sprachhandeln», «Lernarrangements» und «digitale Lernpfade». Ein Lesebuch? Bitte nicht! Viel zu starr, zu linear, zu wenig «21st-century skills». Lieber eine App mit bunten Tierchen, die beim Antippen miauen – Hauptsache, es sieht nach Innovation aus.
Und jetzt? Jetzt stehen wir da mit halbwüchsigen Digitalnatives, die zwar jedes Emoji interpretieren können, aber vier Kriterien für einen guten Sportschuh im Text nicht finden, weil sie das Geschriebene nicht verstehen. Die Reformen der vergangenen Jahre haben uns «sehenden Auges» in den Graben gesteuert, konstatiert Maik Philipp – und die Verantwortlichen rufen nun ganz erstaunt: «Achtung, Abgrund!»
Sich an den Kern des Unterrichts erinnern
Doch keine Sorge. Der nächste Masterplan ist schon angedacht, wie Maik Philipp kundtut. Klüger wäre es wohl, sich den Kern des Unterrichts ins Gedächtnis zu rufen, das systematische Lernen mit dem kohärenten und kontinuierlichen Aufbau von Wissen und Können.
Dies geschieht durch zwei Hauptprozesse: Das Aufbauen mit dem Verstehen sowie das Festigen mit dem intensiven Üben und Anwenden. Diese beiden Vorgänge bilden die Grundpfeiler jeglichen Lernens. Daran ist zu erinnern.
Wir brauchen keinen neuen Masterplan, wir brauchen eine pädagogische Wende, um eine wirklich gute «Schule für alle» zu schaffen – klug geführt und mit effektiven Lernprozessen. So findet die Schule wieder zu ihrem Kernauftrag, dem bildungswirksamen Lernen für alle. Das bewahrt uns davor, «sehenden Auges in ein schweres Problem hinein[zulaufen]».
[1]Sandro Benini, Interview über Leseschwäche: «Wir laufen sehenden Auges in ein schweres Problem hinein». In: SonntagsZeitung, 14.09.2025, S. 43f.
[2]Lukas Bärfuss, in: CH Media. Kulturbeilage, 08.06.2024, S. 5