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Gaza

Wenig gnadenbringende Weihnachtszeit

25. Dezember 2025
Ignaz Staub
Ignaz Staub
al-Bureij
Zelte vertriebener Palästinenser im Flüchtlingslager al-Bureij im zentralen Gazastreifen (Keystone/AP/Kareem Hana)

Die gute Nachricht: Im dritten Monat des Waffenstillstands droht in Gaza keine akute Hungersnot mehr. Die schlechte Nachricht: Nach wie vor werden unbeteiligte Zivilisten, unter ihnen viele Kinder, Opfer israelischer Militärattacken. Das Fazit: Der Friede in Nahost ist noch fern. 

«Der Waffenstillstand ist zwei Monate alt», titelte die «New York Times» jüngst einen Bericht zweier ihrer Korrespondenten in Israel und einer Mitarbeiterin in Gaza: «Warum aber sind Hunderte von Palästinenserinnen und Palästinensern getötet worden?» Die Antwort auf die Frage hängt, wie so häufig in diesem Konflikt, vom Standpunkt der jeweils Beteiligten oder Betroffenen ab. 

Die palästinensische Seite sagt, Israel missachte den Waffenstillstand und kümmere sich wenig um das Schicksal von Zivilisten. Die israelische Armee argumentiert, sie reagiere lediglich auf Verletzungen der Waffenruhe und schiesse allein auf Menschen, die sie als Bedrohung wahrnehme. Aussage steht gegen Aussage. Ausländischen Medien, die allenfalls Klarheit schaffen könnten, ist der Zutritt zu Gaza nach wie vor verboten. 

Die Sprache der Fakten

Wo im einzelnen Fall die Wahrheit liegt, ist schwierig zu ergründen. Doch die Fakten sprechen ihre eigene Sprache. Palästinensischen Angaben zufolge hat die IDF in Gaza seit dem 15. Oktober 406 Menschen, unter ihnen 157 Kinder, getötet. Im selben Zeitraum haben Bewaffnete drei israelische Soldaten erschossen. Nachdem ein Scharfschütze der Hamas am 28. Oktober in Rafah einen israelischen Wehrmann erschossen hatte, tötete die IDF in ihrer Reaktion darauf über Gaza verteilt in einer Nacht mindestens 100 Menschen.

Der Tod kann jeden und jede treffen. So zum Beispiel die 30-jährige Pharmaziestudentin Maysaa al-Attar, die am Morgen des 14. November im Zelt ihrer Eltern im Nordwesten Gazas im Schlaf von einer Kugel im Bauch getroffen wurde. Den 32-jährigen Ali al-Hashash aus dem Flüchtlingslager Bureij traf der Tod am Morgen des 6. November, als er östlich der Gelben Linie, die den israelisch kontrollierten Teil Gazas vom palästinensischen Territorium trennt, Holz suchte, um für seine schwangere Frau und ihren vierjährigen Sohn kochen zu können.

Die unsichtbare Gelbe Linie

Auf entsprechende Fragen antwortete IDF-Sprecher Oberstleutnant Nadav Shoshani, die Richtlinien der Armee seien darauf ausgerichtet, zivile Verluste zu vermeiden. Soldaten seien angehalten, Zivilisten, welche die Gelbe Linie überschritten und auf von Israel kontrolliertes Gebiet kämen, zu warnen und zur Umkehr zu bewegen und nur als letzte Gegenmassnahme auf ihre Beine zu schiessen. 

Doch Kämpfer der Hamas würden manchmal Zivilkleider tragen, unter denen sie Waffen versteckten. Doch das macht fast jeden, der sich israelischen Stellungen nähert, zu einer möglichen Bedrohung. «In der Mehrheit der Fälle ist es die Hamas, welche die Grenze verletzt», sagt Oberstleutnant Shoshani: «Und in der Mehrheit der Fälle, in denen das nicht zutrifft, können wir die Leute warnen und sie kehren um.» Vom Tod Maysaa al-Attars wusste der IDF-Offizier nichts.

Auf der Suche nach Feuerholz

Dass sich die israelische Armee anders als öffentlich mitgeteilt anscheinend wenig um das Schicksal von Zivilisten kümmert, zeigt der Fall der Familien Shaban und Abu Shaban, die am 17. Oktober in einem Van zu einem Ausflug aufbrachen, weil sie meinten, der Waffenstillstand sei relativ sicher. Die zwei Familien wollten ihre Häuser in in einer weitgehend zerstörten Nachbarschaft in Zeitoun besichtigen, von denen ein Haus gefährlich nahe der Gelben Linie lag, die aber damals noch nicht markiert war.  

Der 14-jährige Othman Shaban erzählt, sein Vater habe das Auto gefahren, nachdem er zuvor in der Gegend wiederholt Feuerholz gesucht und sich sicher gefühlt habe. Doch als der Van auf der Strasse von Schutt gestoppt wurde, sei er ausgestiegen, um die Steine wegzuräumen. Als sein Vater losfuhr, um ihn einsteigen zu lassen, habe er plötzlich eine Explosion gehört. 

Alle Insassen des Fahrzeugs wurden getötet: seine Eltern, drei Geschwister – der zehnjährige Karam, der zwölfjährige Anas und die 16-jährige Niswa –, eine Tante, ihr Mann, deren neunjährige Tochter Jumana und ihre drei Brüder: der vierjährige Mohammed, der sechsjährige Ibrahim und der zwölfjährige Nasr. Othman selbst erlitt Verletzungen an Hals und Beinen: «Gaza ist so zerstört, dass es leicht ist, sich zu verirren.»

Die unsichtbaren Zivilisten

Ein Verwandter, der zurückgeblieben war, meinte, Othmans Vater habe sich, ohne es zu merken, der Gelben Linie angenähert, die erst später mit Zementblöcken genauer markiert wurde. Die israelische Armee teilte mit, ihre Truppen hätten Warnschüsse auf ein verdächtiges Fahrzeug abgefeuert, das die Gelbe Linie überquert hätte. Doch das Auto sei weitergefahren, «in einer Weise, die eine unmittelbare Gefahr für sie» (die Truppen)» darstellte. Othman erzählte, er habe keine Warnschüsse gehört, nur den lauten Knall der Explosion, die seine Familie tötete. 

Derweil galt ein Luftangriff der IDF als Reaktion auf den im Oktober getöteten Soldaten im Norden von Rafah zwei Gebäuden, welche die Familie Abu Dalal bewohnte. Die Attacke galt den Häusern von Yahya Abu Dalal und Nazmi Abu Dalal, die Israel zufolge Kommandanten der militanten Gruppe Islamischer Heiliger Krieg und als solche zwei von 25 in jener Nacht anvisierten Terroristen waren. Über zivile Opfer liess die israelische Armee nichts verlauten.

Keine Vorwarnung

Der 20-jährige Amr al-Sabakhi, der in einem Haus gegenüber lebte, sagte, seine Tante Hala, Yahya Abu Dalas Frau, sei mit ihrem Mann zusammen getötet worden, ebenso sein 15-jähriger Cousin Bayan und dessen drei Brüder, einschliesslich des elfjährigen Mustafa, sowie weitere Familienmitglieder, inklusive dreijährige Zwillinge. Dem IDF-Sprecher zufolge war dem Angriff «ein rigoroser Bewilligungsprozess» vorausgegangen, wobei die Armee die Bewohner des Hauses in diesem Fall nicht zum Voraus gewarnt habe, weil sie bestimmte feindliche Ziele habe eliminieren wollen, um diese nicht entkommen zu lassen: «Keine Armee der Welt macht das anders.»

Der 48-jährige Nizar Abu Dalal wollte seinen Verwandten zu Hilfe eilen, wurde aber später in der Nacht beim Angriff auf das zweite Haus getötet, wie sein 24-jähriger Sohn Majd, der im November hätte heiraten wollen. Nizars Frau Iman, Tochter Dareen sowie zwei ihrer Geschwister und die kleine Shata überlebten den Angriff. 

Keine akute Hungersnot 

Nazmi Abu Dalal, das zweite Ziel, der im Haus über Nizar wohnte, überlebte zwar verwundet, doch alle engeren Familienangehörigen wurden getötet: seine Frau und ihre sieben Kinder im Alter zwischen acht und 21 Jahren, deren ältestes, die 21-jährige Baraa, am Nachmittag noch ihre Nägel angemalt hatte. Auch in diesem Fall erwähnte die IDF keine zivilen Opfer.

Wenn es eine halbwegs gute Nachricht aus Gaza gibt, dann jene, dass einer Expertengruppe der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) zufolge im Gebiet seit dem Waffenstillstand keine akute Hungersnot mehr droht. Nach wie vor aber leiden 1,6 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser unter Lebensmittelknappheit und Mangelernährung. Und die Aussicht auf eine nachhaltige Verbesserung der humanitären Lage bleibt für die schwächsten Teile der Bevölkerung eher düster: «Im Verlauf der nächsten zwölf Monate werden im ganzen Gaza-Streifen an die 101’000 Kinder zwischen sechs und 59 Monaten unter akuter Mangelernährung leiden und (medizinische) Behandlung brauchen, mit mehr als 31’000 schweren Fällen», heisst es im Bericht der internationalen Experten: «Gleichzeitig werden 37’000 schwangere und stillende Frauen ebenfalls mit akuter Unterernährung konfrontiert sein und Behandlung brauchen.» 

Teure kommerzielle Waren 

Das israelische Aussenministerium teilte mit, dass selbst die IPC in ihrem Bericht habe zugeben müssen, dass es in Gaza keine Hungersnot gibt. Doch die israelische Militärstelle (COGAT), welche die Grenzübergänge nach Gaza kontrolliert, kritisiert den Report, weil er den Umfang der gesamten Hilfe für Gaza unterschätze, der das Gebiet über andere Kanäle wie private Spender oder wohltätige Organisationen erreiche, die von der Uno unabhängig seien: «Wiederholt haben sich die Einschätzungen der IPC als inkorrekt und von den Daten am Boden als abgekoppelt erwiesen, weil sie belegten Fakten widersprochen haben, so etwa dem Umfang von Hilfen, der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und den Entwicklungen des Marktes.» 

Es trifft zwar zu, dass inzwischen mehr kommerzielle Güter Gaza erreichen. Das World Food Program (WFP) der Uno gibt jedoch zu bedenken, dass die Mehrheit der importierten Waren – einschliesslich Schokolade und Soft Drinks – für Palästinenserinnen und Palästinenser unerschwinglich seien und weniger Nährwert aufwiesen als essenzielle Lebensmittel wie Eier. Der Expertenbericht der IPC warnt auch, dass eine Wiederaufnahme der Kämpfe in Gaza und ein neuer Unterbruch der Hilfslieferungen das Gebiet neu der Gefahr einer Hungersnot aussetzen könnte.

Mangel an Unterkünften  

Mehr Lebensmittel sind das eine, der Mangel an menschenwürdigen Unterkünften ist das andere. Schwere Winterstürme haben bereits mehr als einem Dutzend Menschen, die entweder in Zelten oder in halbzerstörten Häusern lebten, das Leben gekostet. Mindestens zwei Säuglinge sind an Unterkühlung gestorben.

«Wir warnen davor, dass sich solche Tragödien wiederholen, wenn es für Babys und vor allem für Frühgeborene keine dauerhafte Lösung gibt, denn sie sind fallenden Temperaturen schutzloser ausgesetzt», sagt Ahmad al-Farra, Direktor der Kinder-Klinik des Nasser-Spitals, in das vor Kurzem ein 29 Tage altes Kleinkind eingeliefert wurde, das aber nicht mehr gerettet werden konnte: «Sie leben in Zelten, die Wind und Wetter ausgesetzt sind, und verfügen über keine Mittel, um in diesen Zelten nicht zu frieren.»

Kritik von NGOs

Dem britischen «Economist» zufolge können nur noch 16 von 18 halbwegs funktionierenden Spitälern oder Kliniken in Gaza ihren ansteckenden Abfall richtig entsorgen. 15 haben keine verlässliche Stromversorgung, 13 keine anständigen Toiletten und Waschbecken und 11 Spitäler verfügen über kein sauberes Wasser. Und auf Intensivstationen bleiben lediglich noch 74 Betten.

Menschenrechtsgruppen werfen Israel mangelnde Hilfe vor. «Die tödlichen Stürme der letzten Tage haben einer bereits traumatisierten Bevölkerung eine weitere Misere beschert und das Leiden von Palästinenserinnen und Palästinensern verstärkt, die nach  zwei Jahren unerbittlicher Bombardierungen und erzwungener Vertreibung noch immer taumeln», sagt Erika Guevara Rosas von Amnesty International (AI): «Zu wissen, dass das Ausmass dieses Desasters hätte vermieden werden können, wenn die israelische Regierung die Einfuhr von Notunterkünften und anderen Materialien erlaubt hätte, die es für die Wiederherstellung einer lebensrettenden Infrastruktur braucht, ist zutiefst beunruhigend.»

Weihnacht in Gaza

Ein Symbol für den Überlebenswillen der Menschen in Gaza ist die Kirche der Heiligen Familie, das einzige katholische Gotteshaus des Küstenstreifens. Die Kirche und deren Gelände sind während des zweijährigen Krieges drei Mal attackiert worden, wobei neun Gläubige starben. In einem Fall vom vergangenen Juli hat sich die israelische Armee für die Fragmente einer offenbar fehlgeleiteten Panzergranate entschuldigt, die auf dem Kirchgelände drei Menschen töteten. «Terrorismus» nannte Papst Franziskus einen Zwischenfall, bei dem Scharfschützen der IDF im Dezember 2023 zwei Frauen töteten, die bei der Kirche Schutz gesucht hatten. 

Die Kirche der Heiligen Familie war für Weihnachten mit Lichterketten und dezenten christlichen Ornamenten dekoriert. Kardinal Pierbattista Pizzaballa, seit 2020 Lateinischer Patriarch von Jerusalem, hielt am vergangenen Sonntag eine Weihnachtsmesse und betonte in seiner Predigt, die Bedeutung der christlichen Gemeinschaft in Gaza übersteige religiöse Praktiken. 

Ihre Rolle sei, sagte der Kardinal, «ein stabiler, solider Bezugspunkt in diesem Meer von Zerstörung». Und er lobte Gazas Christen als leuchtende Beispiele für Durchhaltevermögen: «Ihr seid wundervolle Zeugen, nicht nur der Resilienz, sondern auch des Glaubens und der Hoffnung gewesen für viele Menschen, nicht nur in Gaza, sondern auch in vielen anderen Teilen der Welt.» 

Quellen: New York Times, Washington Post, Guardian, Haaretz, Lateinisches Patriarchat    

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