Das inflationär gebrauchte Argument, bestimmte Verhaltensweisen und Normen seien dem Menschen natürlicherweise eigen, ist kurzschlüssig und fatal. Der Mensch ist das Naturwesen, das seiner Natur nicht unterworfen ist. Er bleibt immer für sich verantwortlich.
Kaum eine Redewendung richtet mehr Unfug und Unheil an als «von Natur aus». Der Mensch sei «von Natur aus» gut oder böse, hört man etwa; «von Natur aus» Anarchist, Egoist, Rassist; er verkehre «von Natur aus» sexuell nur mit andersgeschlechtlichen Partnern; Naturvölker seien «von Natur aus» nicht zu Zivilisiertheit fähig; Frauen «von Natur aus» für den Familienzusammenhalt geschaffen; Menschen «von Natur aus» in Herrscher und Sklaven unterteilt – und so weiter, bis zum Ekelanfall.
Man beschwichtige uns nicht, es handle sich hier um historisch zurückliegende Verfehlungen. Im Gegenteil: Es handelt sich um eine höchst aktuelle Denkfigur, die umso mehr ihr Unwesen treibt, da man sich ihrer oft nur implizit bedient. Man setzt sich mit «der Natur» leicht in eine argumentative Pole-Position, da wir gegen «die Natur» angeblich ohnehin nicht ankommen. Selbstverständlich handelt es sich um intellektuelle Schieberei. Man etikettiert seine eigenen Ressentiments und Vorurteile als unverrückbare Eigenschaften der Natur und entzieht sie dadurch hinterrücks der Debatte.
Die Zweideutigkeit von Natur
Die Wendung «von Natur aus» zeigt ihren fragwürdigen Charakter vor allem im moralischen Diskurs, wenn es um unsere von der Natur ererbten Dispositionen geht. Die Evolutionsbiologen tragen seit Jahrzehnten einen beeindruckenden Fundus an empirischen Indizien zusammen, die insgesamt klar darauf hinweisen, dass Formen von Sozialität und Moralität auch in anderen Arten existieren, also in diesem Sinn natürlich sind. Ist unsere Moral ein Resultat der Selektion?
So verstandene Natürlichkeit ist zweideutig. Jene evolutiven Faktoren, die Kooperation und Kohäsion in Populationen stiften, können auch zu Konflikt und Exklusion führen. Ethische Tugenden wie Empathie, Solidarität, Mitleid finden ihre Erklärung und Absegnung im gleichen evolutionären Rahmen wie die Untugenden Xenophobie, Homophobie, Rassismus. Wenn Menschen einen altruistischen Charakterzug zeigen, dann ist das gut und schön und richtig. Daraus folgt jedoch nicht: Der Charakterzug ist gut und schön und richtig, weil er natürlich ist. Egoismus und Grausamkeit sind auch natürlich, aber nicht gut und schön und richtig. Natürlichkeit ist schlicht kein Massstab für ethische Haltungen.
Das Natürliche als das Normale
Wir betreten hier glitschiges philosophisches Terrain. Es reicht zurück bis zu Aristoteles’ Naturphilosophie und Ethik. «Von Natur aus» bedeutet für Aristoteles zweierlei: Es kommt häufig vor, und: Alles Natürliche enthält den Plan seiner Entwicklung in sich selbst. Es wirkt eine zielgerichtete Kraft darin – ein Zweck oder Telos. Ein Stein fällt «von Natur aus» zu Boden, weil dies fast immer vorkommt, und weil das so in ihm «angelegt» ist. Es ist so, weil es so sein soll.
Bei Aristoteles mischen sich oft deskriptive und normative Komponenten. Wenn es heisst, der Mensch sei «von Natur aus» für das Zusammenleben bestimmt, dann entspricht dies einerseits der Beobachtung, dass die meisten Menschen in Gemeinschaften leben, andererseits aber auch der Norm, dass sie so zusammenleben sollen. Damit verleiht man dem Häufigen und Normalen den Status des Natürlichen. Dies wertet zugleich das Anormale, Abweichende als unnatürlich ab. So wie heute in der Genderdebatte.
Monopolistische Ansprüche: Kirche und Wissenschaft
Der Strategie des «Von Natur aus» begegnen wir vor allem in Neigungen zu einer monopolistischen Weltsicht. Diese Neigung zeigt sich in Kirche und Naturwissenschaft. Joseph Ratzinger, ehemals Papst Bendikt XVI, sah in der Natur das Walten des «ius divinum», des Rechts und der Gesetzeskraft Gottes, deren Befolgung letztlich unser Handeln als moralisch gut adle.
Diametral entgegengesetzt argumentieren Neurobiologen: Moral sei nicht durch eine Gottesordnung, sondern durch eine Gehirnordnung zu begründen. Der amerikanische Neurophilosoph Sam Harris macht schon seit einiger Zeit mit ziemlich forschen Thesen von sich reden, etwa jener, dass uns die Neurobiologie – also letztlich «die» Natur – darüber belehre, was wir tun und wollen sollen, und daher auch, was andere Menschen tun und sollen wollen. Aufs Ganze gesehen, gibt es für Harris richtige und falsche Antworten auf moralische Fragen so wie es richtige und falsche Antworten auf physikalische Fragen gibt.
Wider den moralischen Relativismus
In beiden Fällen handelt es sich um Fundamentalismus, religiösen respektive säkularen. Und wie dies bei Fundamentalismen so üblich ist: Les extrêmes se touchent. Trotz ihrer gegensätzlichen Haltung herrscht zwischen Ratzingers und Harris’ Position ein Einvernehmen, wenn es um den gemeinsamen Feind geht: den moralischen Relativismus.
Theist und Atheist verfechten die «Von Natur aus»-Strategie; der eine führt die Natur als Gottesordnung, der andere als Gehirnordnung ins Feld.
So schrieb Ratzinger 2010: «Immer wenn das Naturrecht und die Verantwortlichkeit, die es einschliesst, geleugnet werden (…), wird auf dramatische Weise der Weg zum ethischen Relativismus auf individueller Ebene frei und der Weg zum staatlichen Totalitarismus auf der politischen Ebene.»
Und Harris dozierte im gleichen Jahr in einem TED-Talk: «Wenn wir nur zugeben, dass es richtige und falsche Antworten auf die Frage gibt, wie es Menschen gut geht, dann wird dies unser Denken über Moral ändern.» Gemeint war selbstverständlich: Richtige Antworten gibt allein die Neurobiologie. An die Stelle Gottes tritt das Gehirn.
Mit Wissenschaft zur besseren Moral?
Nun finden wir auf neuronaler Ebene zwar Synapsen und Neurotransmitter, aber keine Zwecke und Werte. Und bisher hat uns niemand plausibel erklärt, wie man von Hirnereignissen auf moralische Gebote schliesst. Zweifellos ist faktisches Wissen (bzw. Unwissen) ethisch relevant, obzwar nicht ethisch zwingend. Die Wissenschaft kann uns darüber informieren, was «von Natur aus» dem Menschen eher zuträglich und was eher abträglich ist.
Betrachten wir zum Beispiel die Abtreibung. Wenn wir uns darauf einigen, dass sie ethisch vertretbar ist, bevor der Fötus Schmerz empfinden kann, dann hat die Physiologie ein relevantes Wörtchen mitzureden. Denn sie liefert uns die Fakten über Schmerzfähigkeit. Aber physiologische Fakten sagen uns nicht, ob Abtreibung als gut oder schlecht zu beurteilen sei.
Wenn Harris also behauptet, dass «Werte eine bestimmte Art von Tatsachen sind, nämlich Tatsachen über das Wohlbefinden von Lebewesen», dann begeht er einen elementaren philosophischen Denkfehler. Tatsachen über das Wohlbefinden sind nicht rein wissenschaftliche Tatsachen, wie etwa die, dass gewisse Zellen Neurotransmitter ausschütten. Sie setzen bereits einen Werterahmen voraus, und dieser Rahmen ist nicht «von Natur aus» gegeben.
Die Gleichgültigkeit der Natur
Nun liegen ja Harris und Ratzinger in der Diagnose des Zeitphänomens Relativismus nicht völlig daneben. Aber mehr als fragwürdig sind die «absolutistischen» Radikaltherapien einer göttlichen oder einer neuronalen Naturordnung als Basis für ethisches Verhalten. Hier manifestiert sich denn auch der gefährliche Charakter der Wendung «von Natur aus». Sie suggeriert uns eine Zwangsläufigkeit (der Natur oder Gottes), wo keine ist. Vielmehr wären wir in solchen Entscheidungen eigentlich frei, oder sagen wir vorsichtiger: Wir sollten erwägen, welche Optionen es gibt.
Unter der Hand schmuggelt die Redewendung «von Natur aus» eine normative Kraft in die Natur hinein, die sie «von Natur aus» nicht hat. Als ob die Natur sprechen würde – aber im Grunde spricht der Mensch mit verstellter Bauchrednerstimme zu sich selbst. «Von Natur aus» ist die Natur uns Menschen gegenüber gleichgültig. Sie hat keine Moral, steht also in moralischen Fragen nicht auf unserer Seite. Sie kümmert sich um Menschen nicht mehr als um Mikroben.
Wie auch immer, die Natur mag gleichgültig sein, wir Menschen sind es nicht. Wir sind Lebewesen, die «von Natur aus» nicht das sind, was sie natürlicherweise sind. Wir sind frei, das zu sein, wozu wir uns – immer unter biologischen und anderen Beschränkungen – machen. Wir sind insbesondere frei, den Einflüsterungen aus Kirche und Wissenschaft zu misstrauen. Und das ist Grund genug, unsere ethischen Grundlagen da zu suchen, wo wir sie finden und gegebenenfalls auch verändern können: nicht im Himmel und nicht im Gehirn, sondern unter leiblichen Menschen mit Herz und Verstand.