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Buch

Von Jelzin zu Putin – Russlands wilde neunziger Jahre

17. November 2025
Reinhard Meier
Reinhard Meier
Jelzin, Putin
Boris Jelzin, der erste Präsident der russischen Republik und sein ab dem Jahr 2000 amtierender Nachfolger Wladimir Putin bei einer Feier im Kreml 2006 (Foto: Keystone/AP Photo/Misha Japaridze)

Warum sind die unerwartete Auflösung des Sowjetimperiums, Russlands turbulenter Umbruch zur Marktwirtschaft und seine demokratischen Ansätze unter Putin zu einer neuen imperialen Diktatur umgeschlagen? Walter Denz hat diese Entwicklungen als junger Unternehmer in St. Petersburg miterlebt. Er glaubt nicht, dass Russlands Weg zwangsläufig von seiner autokratischen Tradition bestimmt ist. 

Es war, schreibt Walter Denz im Vorwort zu seinem Buch, «pure Neugier und Lust am Abenteuer», die ihn im Jahr 1992 bewogen, sich in Russland niederzulassen und in St. Petersburg eine Sprachschule für Russisch als Fremdsprache zu gründen. Er blieb 30 Jahre im Land, gründete eine Familie, die Sprachschule existiert noch immer, wenn auch mit reduziertem Betrieb. Nach dem Überfall des Putin-Regimes auf die Ukraine zog er mit seiner Familie zurück in die Schweiz. 

Jelzin als historischer Weichensteller?

In seinem im NZZ Libro-Verlag erschienenen Buch berichtet der Autor über seine Erfahrungen und Erkenntnisse über die «wilden neunziger Jahre» des turbulenten Umbruchs Russlands, vom Kollaps des kommunistischen Sowjetreichs zu einer weitgehend privatisierten Wirtschaft mit einer grundsätzlich demokratischen Verfassungsgrundlage. Der Autor stützt seine Analyse nicht allein auf seine persönlichen Einsichten, sondern zieht einen breiten Fundus von wissenschaftlicher und theoretischer Literatur mit ein, die in einem imposanten Anmerkungsapparat dokumentiert wird. 

Der eigentliche Protagonist und Hauptverantwortliche für die fundamentalen Veränderungen der russischen Gesellschaft während der wilden neunziger Jahre ist für Denz Boris Jelzin, der erste Präsident des neuen Russlands, unter dessen Ägide wirtschaftliche Reformer wie Gaidar, Tschubais und Gref die Privatisierung der verkalkten sowjetischen Staatswirtschaft verwirklichten. Der Autor zitiert zur Würdigung Jelzins sogar den bekannten schwedischen Wirtschaftswissenschafter und zeitweisen Kreml-Berater Anders Aslund, der den damaligen Präsidenten mit keinen geringeren historischen Figuren wie Churchill und de Gaulle vergleicht. 

Aus Schwarzarbeitern wurden Steuerzahler

Hoch angerechnet wird Jelzin nicht zuletzt sein freiwilliger Rücktritt Ende 1999 nach knapp zwei Amtszeiten, den Denz als «eine Zäsur in der Geschichte Russlands» beschreibt. Ob dieser Rücktritt wirklich ein völlig freiwilliger und souveräner Schritt war, darüber liesse sich streiten. Und dass der gesundheitlich schwer angeschlagene Kremlchef dabei höchst eigenmächtig Wladimir Putin zu seinem Nachfolger «gesalbt» hat, lässt seine Entscheidung zumindest im Lichte der späteren diktatorischen Entwicklung  und des Ukraine-Überfalls noch fragwürdiger erscheinen. 

Denz unterscheidet in seiner Analyse der wilden neunziger Jahre grundsätzlich zwei Reformschübe in Russland: die schnelle und weitgehend chaotische Privatisierung der sowjetischen Staatsbetriebe und das später zu Beginn der Nullerjahre von Jelzins Reformern durchgesetzte Regelwerk, das zu einer spürbaren Konsolidierung und Stabilisierung des wirtschaftlichen Geschehens führte. Am Ende von Jelzins Präsidentschaft im Jahr 2000 verdienten bereits über 60 Prozent aller Beschäftigten in Russland ihr Geld nicht mehr im staatlichen Sektor. Im Rahmen einer grundlegenden Steuerreform wurde eine moderate «flat tax» von 13 Prozent für alle Bürger durchgesetzt. Damit wurden weite Teile der zuvor grassierenden Schattenwirtschaft und ihren kriminellen Auswüchsen in das offizielle Wirtschaftsleben integriert. «Aus Genossen und Schwarzarbeitern wurden Steuerzahler, die wissen wollten, was und wen sie mit ihren Steuern finanzierten.» 

Stabilisierung unter Putin 

Unter Jelzins Nachfolger Putin wurde die begonnene wirtschaftliche Stabilisierung fortgesetzt und die Wirtschaft begann noch stärker zu wachsen. Warum aber stiess Putins bald erkennbare Tendenz, das Land mit harter und zunehmend autoritärer Hand zu regieren, auf so viel Zustimmung? Denz erwähnt im Zusammenhang mit Putins Machtantritt im Jahr 2000 den zweiten Tschetschenienkrieg. Im ersten Tschetschenienkrieg, der noch unter Jelzin ausbrach, war nur ein brüchiger Waffenstillstand zustande gekommen. Doch verblendete Extremisten unter den tschetschenischen Separatisten im Nordkaukasus lancierten neue Überfälle und Provokationen, was Putin von Anfang an Gelegenheit gab, sich als entschlossener Kämpfer gegen Gewalt und Anarchie zu profilieren. 

Die oft verbreitete These, dass Putins Geheimdienst damals möglicherweise gezielt verschiedene blutige Bombenanschläge in russischen Städten organisiert habe, hält der Autor für wenig glaubwürdig. Doch angesichts der Skrupellosigkeit, die Putin im Laufe seiner langen Herrschaft und namentlich mit dem mörderischen Ukraine-Krieg an den Tag gelegt hat, würde ich diese finstere These nicht kategorisch beiseiteschieben. 

Faktoren für die autoritäre Wende 

Andere mögliche Faktoren für das Scheitern der eingeleiteten demokratischen Entwicklungen, mit denen der Autor sich ausführlicher auseinandersetzt, sind die fehlende Tradition für solche gesellschaftlichen Veränderungen in der russischen Geschichte und damit verbunden eine weitverbreitete «diffuse Gleichgültigkeit, gepaart mit einer fatalistischen Grundhaltung in Bezug auf die politische Mitbestimmung». Auch der Einfluss der russisch-orthodoxen Kirche und ihre anti-aufklärerische, «kollektivistische» Geisteshaltung wird in diesem Zusammenhang erwähnt. Denz bleibt aber aus nachvollziehbaren Gründen skeptisch gegenüber solchen pauschalen Erklärungsmustern für das schrittweise Absterben der demokratischen Anfänge nach der Ära Jelzin. Letztlich ist es immer eine nie eindeutig definierbare oder gar wissenschaftlich unumstössliche Kombination von Gründen, die den Entwicklungsweg einer Gesellschaft bestimmen. Zu diesem vielseitigen Faktorenbündel für die Abwendung der Putin-Herrschaft vom demokratischen Entwicklungsweg zählt Denz übrigens auch die «Konstante eines tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplexes gegenüber dem, was Russland als Europa definiert». 

Deutlicher fassbar und belegbar sind die Unterschiede im Vergleich mit den Entwicklungen in den früheren sowjetischen Satellitenländern Osteuropas. Dort wurden wichtige wirtschaftliche und politische Umbrüche von unten, das heisst mit aktiver Teilnahme breiter Volkskreise angestossen und getragen. In Russland dagegen sind die Reformen im Wesentlichen von oben, also von bestimmten Persönlichkeiten in Machtpositionen wie Gorbatschow und Jelzin und dessen engsten Mitarbeitern in Gang gebracht und gesteuert worden.

Möglichkeiten demokratischer Erneuerungen?

Was bleibt von Russlands wilden neunziger Jahren?, fragt Walter Denz im letzten Kapitel seines Buches. Trotz seiner tiefen Enttäuschung über die zerschlagenen demokratischen Hoffnungen und die Rückkehr des ihm ans Herz gewachsenen Landes und vieler seiner Menschen zu einem diktatorischen Machtsystem mit imperialen Ausdehnungsambitionen sind seine Zukunftserwartungen nicht durchwegs pessimistisch bestimmt. Geblieben sei, so argumentiert er, die unter Jelzin etablierte Privatwirtschaft, die das Denken von Millionen von Bürgern und das Handeln von Hunderttausenden von Unternehmern im Vergleich zum Bewusstsein in den sowjetischen Jahrzehnten nach seiner Überzeugung nachhaltig beeinflusst habe. 

Der Autor hütet sich zwar, nähere Prognosen über die Möglichkeit neuer demokratischer Aufbrüche zu formulieren. Doch zwischen den Zeilen kann man unschwer herauslesen, dass er solche Aufbrüche nicht für absolut wirklichkeitsfremd hält. Bedenkt man, wie unerwartet und verblüffend sich das scheinbar festgefügte Sowjetimperium auflöste und Russland auf einen Entwicklungsweg mit zumindest halbwegs liberalen Vorzeichen einzuschwenken begann, so ist man geneigt, solchen Hoffnungen Verständnis entgegenzubringen. Wie überall in der Geschichte bleibt auch in Russland die Zukunft unberechenbar. Zu demokratischen Erneuerungen wird es aber mit Sicherheit nicht kommen, solange Putin an der Macht bleibt. 

Walter Denz: Russlands wilde Neunziger. Die Dekade des Umbruchs. NZZ Libro 2025, 156 Seiten. 

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