Das selbstgesteuerte Lernen dominiert den didaktischen Diskurs. Doch lernen wir nicht auch über das Vorgezeigte, über das Mitmachen und das Nachmachen? Gedanken zu einer verpönten Urform der Pädagogik.
Er war gewiss ein selbstbewusster Künstler und wusste, dass er etwas konnte: der Bildhauer und Baumeister Erhart Küng (ca. 1420–1507). Als Steinmetz kam er um 1455 nach Bern; schon bald zeichnete er als Werkbaumeister am Neubau des Berner Münsters verantwortlich. Eindrücklich noch heute seine Skulpturengruppe mit dem «Jüngsten Gericht» am mittleren Westportal. Und von ihm stammt wohl auch die stolze Inschrifttafel am Strebepfeiler bei der Schultheissenpforte; sie ist in Stein gemeisselt und zeugt, vielleicht ein wenig protzig, von seinem künstlerischen Können: «machs na» («mach es nach»). [1]
Vorzeigen und Nachmachen als pädagogische Urform
«Machs na! Ich habe es dir vorgemacht – mit einem Idealbild», das ist wohl Erhart Küngs steinerne Botschaft an der Pfeilerbrüstung. Vorzeigen und Nachmachen. Vielleicht das älteste Modell der Pädagogik und vermutlich die einfachste wie auch die direkteste Form des Anleitens und Unterrichtens: Mimetisches Lernen nannten die alten Griechen diese Methode. Der Berner Hochschullehrer und wegweisende Lernpsychologe Hans Aebli zählt sie zur zweiten Grundform des Lehrens – nach dem Erzählen und Referieren. [2]
«Ich zeige es dir; versuch’s nun selber!»
Sie überrascht nicht, die Position zwei von Vorzeigen und Nachmachen bei den zwölf Grundformen in Aeblis «Allgemeiner Didaktik». Der methodische Imperativ «machs na» gehört, geschwollen ausgedrückt, zu den anthropologischen und lerntheoretischen Grundkonstanten. Wie lernt der junge Mensch sprechen? Ohne das Vorbild der menschlichen Sprache ist dieser anspruchsvolle Lernprozess nicht möglich. Oder welch ungeahnter Wert liegt im Erzählen von Märchen und im Vorlesen von Geschichten fürs spätere Selberlesen! Und wie kommt das kleine Kind zum Schuh-Binden? Schau, ich zeig’s dir; versuche es nun selber! Das Kind beobachtet, wie es funktioniert, und macht es nach – am Anfang vielleicht noch mit Hilfen. Es probiert, immer und immer wieder!
Vom notwendigen und systematischen Anleiten
Das Gleiche gilt für die Schule. Im Instrumentalunterricht ist das Vormachen gang und gäbe; oder beispielsweise im Fach Angewandte Gestaltung: Hier zeigt der Lehrer hilfreiche Handgriffe vor – und öffnet so die Tür zur Welt des Selbermachens – über die Prozesse des Anschauens, Nachdenkens, Problemlösens. Fundamental ist das eigene Tun der Lernenden. Ebenso grundlegend und notwendig aber bleibt die systematische Anleitung durch eine kompetente Pädagogin, einen versierten Lehrmeister.
Wenn es um den Erwerb von Fertigkeiten und Arbeitstechniken geht, spielen das Vorzeigen und «Vor-Handeln» eine eminent wichtige Rolle. In allen Fächern. Die Lehrerin wirkt durch das, was sie kann und indem sie es auch vorzeigt und erklärt: im Französischunterricht das Bilden bestimmter Laute wie des stimmhaften «S», im Englischen des «Th». In den Sportlektionen ist es das Demonstrieren eines Tanzschritts oder eines Weitsprungs. Der Lehrer wirkt auch, indem er eine Matheaufgabe sprechdenkend löst, eine Textpassage selber eloquent vorträgt, den Zeichenstift persönlich ergreift. All das gehört zu seinem lernwirksamen und natürlichen Methodenrepertoire.
Zeigen als didaktisches Minimum
Es erstaunt darum, wie wenig Wert in der heutigen Pädagogik und Didaktik dem Vorzeigen beigemessen wird. Vormachen sei lehrerzentriert und direktiv, wird argumentiert – und wenig kreativ. Es dominiert der Kreativitätsimperativ. Das Kind müsse am besten alles selber entdecken – spielerisch und «aus sich selbst heraus», heisst es. Sogar das Alphabet wird an gewissen Orten so gelernt, das Schreiben sowieso. Wie wenn’s kein Vorzeigen und Anleiten und Nachmachen als direkteste Form des Automatisierens von Fertigkeiten gäbe! Ob sich hier ein Zusammenhang ergibt mit den schwächer gewordenen PISA-Ergebnissen im Fach Deutsch?
Wie ganz anders tönen die Botschaften renommierter Bildungsforscher! Das massgebende pädagogische Können sei die Zeigekompetenz, schreibt der deutsche Erziehungswissenschaftler Klaus Prange. Und er fügt bei: «Das ist sozusagen das didaktische Minimum […].» [3] Plausibel tönt das, und es leuchtet ein, denn die elementarste Form natürlicher Pädagogik liege in der Demonstration. Davon ist der amerikanische Evolutionsbiologe Michael Tomasello zutiefst überzeugt: «Man zeigt jemanden, wie etwas gemacht wird, indem man es entweder unmittelbar tut oder auf irgendeine Weise pantomimisch darstellt. Und wie die Kommunikation wird die Handlung nicht um ihrer selbst willen vollzogen, sondern zum Vorteil des Beobachters oder des Lernenden.» [4]
«Machs na» als notwendiges Korrektiv
Das meinte vielleicht der Steinmetz Erhart Küng. Er konnte etwas, und er zeigte es vor; «machs na» verkündet er vom Berner Münster in steinernen Lettern weit ins Land hinaus. Bis heute hat dieser Imperativ nichts von seinem Wert verloren – auch in der Schule nicht.
«Machs na» ist nicht nur eine Urform des Lernens; sie könnte ein methodisches Korrektiv zum heute gar stark gewichteten selbstgesteuerten Lernen sein. Dies im Wissen, dass Vorzeigen und Nachmachen zwar eine sehr wichtige, aber doch nur eine von vielen Methoden darstellt.
[1] Zu sehen ist eine Kopie; das Original befindet sich im Bernischen Historischen Museum.
[2] Hans Aebli: Zwölf Grundformen des Lehrens Eine Allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Medien und Inhalte didaktischer Kommunikation, der Lernzyklus. Stuttgart: Klett-Cotta, 2011, 14. Aufl., S. 65ff.
[3] Klaus Prange: Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2012, 2. Auflage, S. 78.
[4] Michael Tomasello: Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2014, S. 96.